Beschreibung von Natur und Umwelt

[das war noch der klassische]

Beitragvon Drehrassel » So 28 Feb, 2010 04:00


das war noch der klassische
zweifrontenkrieg. unser schützengraben seit wochen
unter wasser und manchmal
gabs luftbläschen wegen der leichengase direkt
neben einem
.... der nicht mal mehr zu atmen wagte. / die feldpost

an der brust, mit dem verlaufenden
schriftzug eines namens ohne sinn hier
gings raus, wenn der befehl dazu kam, heimatboden
gewinnen. und heimlich
... pfützen füllen.
dreimal selig, wer einen namen einführt ins lied!
- ossip mandelstam

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Re: [das war noch der klassische]

Beitragvon turmfalke » Fr 02 Apr, 2010 00:45


bin auf diesen text gestoßen und muß mal gerade ein paar worte loswerden.
vorab: ich finde das gedicht grandios.
die verse 4-6 (wenn man den titel dazu zählt) gefallen mir wohl am besten.
das gedicht ist sehr bedrückend, fängt aber doch auf eine unheimlich realistische art und weise die atmosphäre ein. musste direkt an "im westen nichts neues" denken, hat mich sehr mitgenommen, das buch, deshalb wird mich wohl auch dein gedicht so mitgenommen haben.
trostlosigkeit, winzige hoffnung, einerlei und mechanismen, alles irgendwie vereint.
bin begeistert. ehrlich.

liebe grüße,
falke

ps. tut mir leid, wenn die kritik komisch wirkt. bin etwas betrunken.
what am I?
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Re: [das war noch der klassische]

Beitragvon Drehrassel » Fr 02 Apr, 2010 14:13


pfützen füllen. mit was eigentlich? tränen? mit sich selbst füllen? so, tot hineingeplumpst? zumindestens in deckung gegangen, oder? und das noch heimlich? mitten im gefecht? oder wann? oder wo? naja...

dieses gedicht ist ein kriegsgedicht. ein gedicht über den krieg. es ist es sogar in doppelter hinsicht. weil das subjekt des textes in ihm vom krieg erzählt (ohne dabei ein einziges mal "ich" zu sagen, was natürlich absicht ist). das gedicht ist aber auch ein "zweifrontenkrieg" selbst: mit gnadenloser konsequenz drängt es - vom titel aus - in den textkörper, welcher aus zwei sowohl in sich zerissen und bewegt, als aber auch, als "strophenpaar", sich selbst statisch gegenüber stehenden text-hälften, besteht.

ein kriegsgedicht. ein gedicht über den krieg. welchen krieg? wer spricht hier über welchen krieg? das bleibt offen. muss offen bleiben, denn das ist vielleicht das geheimnis des gedichts und seiner zwingenden verssprache: ähnlich wie in remarques roman ("im westen nichts neues") rührt die eigentliche erschütterung aus der lakonie des erzählduktus, des literarischen stils. allerdings hier - es ist ja ein gedicht und kein roman - bis ins kleinste detail auf die wesentlichen semantischen syntaktischen und grammatikalischen funktionen innerhalb der rhetorik des installierten sprechers reduziert. ja, dieses gedicht ist auch ein experimentelles, ja fast ein formalistisches gedicht. aus sicherer quelle weiß ich, dass dem autor während der niederschrift nicht auch nur der kleinste bezug zu privat-biographischen bezügen bewusst gewesen war. keine familiengeschichte wird hier thematisiert. auch nicht die des großvaters oder urgroßvaters beispielsweise. (was ja denkbar gewesen wäre. denn, auch wenn wir wie gesagt nicht wissen, um welchen krieg es sich hier überhaupt handelt, so deutet - allein durch die worte "feldpost", "zweifrontenkrieg" einerseits, die sprachlichen mittel andererseits, einiges daraufhin, es könne sich um einen der beiden weltkriege handeln, man meint dabei - ohne das irgendwie begründen zu können - sich sogar festlegen zu dürfen: der erste! was wohl tatsächlich auf eine gewisse formal-ästhetische nähe zu eben jenem erwähnten "klassiker" ("das war noch der klassische") deutscher (anti-)kriegsliteratur (das "anti" in klammern. denn die wirkung dieses buches ist nicht mit seiner erzähl-technik zu verwechseln) zurück zu führen ist.

so spielt der autor zwecks generierung einer sehr leisen subtilen vieldeutigkeit, welche der einfach gefügten und prosaisch-narrativen syntax gegenüber steht ("zweifrontenkrieg"), mit ihr in ein spannungsverhältnis gerät, eine reihe von grammatischen funktionen durch. die verwendung der bestimmten und unbestimmten artikel, die personal- und possesivpronomina scheinen hierbei eine wichtige rolle zu spielen (bzw. ein bestimmter genitiv). im besitzverhältnis zueinander stehen nämlich lediglich: 1. der "schützengraben" zu "uns" und 2. der "verlaufende" (enjambement. was eine vorstellung! sich in einen schützengraben verlaufen haben... ) schriftzug zu dem "namen ohne sinn hier". aber auch die syntax selbst schlägt dem leser an manchen stellen dieser doch eigentlich sehr kurzen gedichts ein schönes schnippchen. am offensichtlichsten ja an dieser "name(ens) ohne sinn hier"-stelle. denn: wer würde dieses kolon nicht erst einmal so verstehen, dass selbstverständlich gemeint sein muss: ein name ohne sinn in dieser kolportierten kriegsszene? aber... kann der sprecher des gedichtes eigentlich, wenn man die narrative struktur bedenkt, eigentlich so reden, wenn er das hätte sagen wollen? im grunde müsste man es so verstehen: ein name ohne sinn hier: im gedicht. oder in einem dialog mit dem evozierten gegenüber. hier wird das gedicht dialogisch. auch durch das erwähnte "uns", das thema des gedichtes und seines lapidar-privaten tonfalls ("wegen der leichengase direkt". wobei das hinterfotzige an dieser stelle ist, dass es brutal im bild, aber schnoddrig im tonfall ist). man meint, jemandem zu zuhören, welcher jemandem anders, welcher stumm bleibt und somit wie der leser auch lediglich lauscht, erzählt.

ein weiterer gag ist es dabei, dass zwar der sound der sprache, der duktus wiederum an die literatur der "neuen subjektivität" erinnert mag, nicht aber die formale gestalt des textes: der titel und sein sprung direkt in das gedicht sind ein intertextueller verweis auf rolf dieter brinkmann und eines seiner berühmtesten gedichte "einer jener klassischen".

das gedicht ist auch ein - heimliches - liebesgedicht.

danke, turmfalke, für deine netten zeilen. was ist schon dabei, betrunken zu sein, wenn man sich dabei dennoch so klar und eloquent ausdrücken kann wie du? ich schrieb das gedicht übrigens in 5 minuten. und war dabei... genau... betrunken.

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