Humoristische Geschichten, Satiren

Siegwart Kalusche

Beitragvon Ruelfig » Di 02 Nov, 2010 00:07


Dass man älter wird, wird einem deutlich bewusst, wenn das Hauptinteresse an der Tageszeitung in den Todesanzeigen besteht. Erst will man nur mal schauen, ob es schon Jahrgangsgefährten dahingerafft hat, dann beginnt die Suche nach bekannten Namen, schließlich stellt sich eine klammheimliche Freude ein, noch einmal davongekommen zu sein, natürlich überschattet von einer gehörigen Melancholie. "Mitten im Leben sind wir vom Tode umgeben", wen ließe dieser klassische Gedanke kalt.
Gestern las ich vom tragischen, plötzlichen Dahinscheiden meines alten Freundes Siegwart, den wir damals in der Clique immer scherzhaft Polacken-Siggi riefen (obgleich er mit Polen so viel zu tun hatte wie wir mit Deutschland), meist aber einfach nur Siggi, mit Doppel-g, ein g war für Mädchen, Sieglinde, Sieghild, Siegrid und so. Unerwartet aus dem Dasein gerafft, leuchte er nun am Himmel als hellster aller Sterne, war zu lesen, die Anzeige geschaltet von beinahe jeden progressiven Organisation in Europa. Ja, das ist typisch für ihn.
Wenn wir uns damals einfach nur die Birne zuballern wollten mit Dope und LSD, arbeitete er daran, sein Gehirn zu dekonditionieren, sich von den Zwängen und Beschränkungen einer repressiven Gesellschaft zu befreien. Wir lasen die Freak Brothers, er das Ägyptische Totenbuch und Wilhelm Reich, wenn wir vögelten, bekämpfte er das bürgerliche Besitzdenken, hektographierte Anleitungen zum Bau von Mollies und ernährte sich ausschließlich von braunem Reis mit Sojasauce. In einem revolutionären Akt befreite er sich, als Avantgarde, von der Ausbeutung durch Arbeit und ließ sich hinfort von dem Staat finanzieren, für dessen Abschaffung er unermüdlich wirkte, sein Leben lang. Sein Kampf für die Wiedereinführung der Windmühle bleibt sagenhaft, keine Minderheit, die sich vor seiner Anteilnahme in Sicherheit hätte bringen können, die Agonien der Mutter Gaia waren seine. Er kämpfte gegen Raubimporte von Wellen aus der Karibik, für vegane Wale, gegen den Abbau des Mondlichts für sinistre Zwecke, war Integrationshelfer fleischfreier Werwölfe und Stromschnellenflüsterer, aber immer war er laut und geradlinig. Von keiner Partei vereinnahmt nahm er Partei für alle, die gedemütigt und benachteiligt im Schatten vegetieren und deren Stimme er immer war. Seine letzte Konsequenz, sein letzter Weg, dem zu folgen wir den Mut aufbringen sollten: Rettet den Tiger, umarmt ihn.
Er ruhe in Frieden. Bin mal gespannt, wer morgen in der Zeitung steht.
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Re: Siegwart Kalusche

Beitragvon Garfield » Di 05 Apr, 2011 18:41


Moin Ruelfig

Irgendwie finde ich dein Werk zwiespältig.
Zum einen ist es witzig. Es liest sich einfach gut was er alles probiert, ganz trocken beschrieben vom Erzähler und der Schluss:
Ruelfig hat geschrieben: Seine letzte Konsequenz, sein letzter Weg, dem zu folgen wir den Mut aufbringen sollten: Rettet den Tiger, umarmt ihn.

ist echt super Bild

Auf der anderen Seite finde ich es aber ein bisschen zu billig sich so über Leute dieser Art lustig zu machen. Ist halt irgendwie Mode, nicht neu. Siggi scheint ja der überzeichnete Alt68er oder sonstige (Möchtegern-) Revolutinär zu sein.
Und bei dir bekommt der sein volles Fett weg: Keine Frauen, keine Arbeit, quasi Sozialschmarotzer, der aber dennoch gegen den Staat ist. Das finde ich dann doch zu platt.

Soweit so gut, Gruß Garf
Kurz, er bewies eine Geduld, vor der die hölzern-gleichmütige Geduld des Deutschen, die ja auf dessen langsamer, träger Blutzirkulation beruht, einfach gar nichts ist.
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Re: Siegwart Kalusche

Beitragvon Ruelfig » Mi 15 Jun, 2011 17:35


Hallo Garfield,
danke für deinen Kommentar, den ich leider erst heute gelesen habe (ich komme mit der neuen Forentechnik nicht wirklich klar). Sicher ist das überzeichnet, aber auch Klischees fallen nicht vom Himmel, ich habe solche Leute kennengelernt. Hier geht es jedoch nur um Siegwart, und der war wirklich so. Oder so ähnlich.
LG,
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