Endzeithorror ab 16 von Yve

Kapitel 1

Beitragvon Yve » Sa 18 Sep, 2010 18:17


Kapitel 1

Panisch riss Josslyn die Augen auf und ihr Oberkörper schnellte in die Senkrechte. Zitternd ertastete sie den Lichtschalter neben ihrem Bett und betätigte ihn. Das grelle Deckenlicht flackerte auf und sie atmete erleichtert aus. Sie befand sich in ihrem Bett. Noch immer benommen strich sie sich eine, von Schweiß durchnässte, Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte sich zu beruhigen. Nur ein Alptraum. Es war immer der Gleiche und er verfolgte sie immer öfter.

Die Nacht war kühl und dichte Nebelschwaden durchzogen die Parkanlage. Das Mondlicht war karg, die Äste der Bäume knackten und deren Laub rauschte in dem gespenstisch heulenden Wind. Weder Mensch, noch Tier unterbrach die unheimliche Totenstille. Es war als würde die Welt den Atem anhalten. Plötzlich zerriss ein gellender Schrei die Stille. Ein kleines Mädchen krallte sich mit all ihrer Kraft an einem Baum fest und rief um Hilfe. Josslyn wollte ihr helfen. Doch im Mondlicht flackerte plötzlich eine dunkle Schattengestalt auf, die innerhalb eines Bruchteiles einer Sekunde den Schrei des kleinen Mädchens erstickte. Es umhüllte den kleinen Körper und verschlang ihn. Der Schatten bemerkte sie, drehte sich ruckartig um und Augen, wie loderndes Höllenfeuer, blitzen ihr entgegen. Ein Aufschrei der Angst entfuhr ihr und sie rannte davon, so schnell sie ihre Beine trugen. Doch es war schneller.

Nein, es war kein Alptraum. Es war ihre Realität und eine grauenvolle, verschleierte Erinnerung zugleich, die schon lange Zeit zurücklag.

Noch immer saß Josslyn in ihrem Bett und versuchte ihren Verstand wieder in die momentane Wirklichkeit zu führen. Sie musste sich beruhigen, denn der bald anbrechende Tag hielt eine Menge Arbeit für sie bereit. Langsam stand sie auf und ihre nackten Füße berührten den kalten Stahlbetonboden. Die Luft war stickig, obwohl über einen kleinen Lüftungsschacht etwas frische Luft hinein geleitet wurde. Ihr Raum war beengend klein, ohne Fenster und wirkte unfreundlich durch die kahlen Wände. Kein Zuhause, dass sie sich freiwillig ausgesucht hätte. Es erinnerte jede Minute, die sie hier verbrachte, an eine Gefängniszelle. Gebeutelt von ihrem unruhigen Schlaf, zog sie sich einen Morgenmantel über, verließ ihr Zimmer, folgte einem langen Gang, der nur spärlich durch das Nachtlicht beleuchtet war, und bog schließlich um eine Ecke in die Großküche des Abschnitts. Aus einem der vielen Hängeschränke holte sie ein Glas und füllte es mit kühlem Wasser aus einem der Wasserspender. Im Halbdunkel des angrenzenden Speisesaals setzte sich Josslyn an einen der vielen Tische und starrte in ihr Glas. Während sie langsam wieder zu sich kam, bemerkte sie eine herannahende Gestalt. Allein an der Bewegung des Körpers konnte sie die Person identifizieren, die sich unbemerkt zu nähern versuchte. In warnendem Ton riet sie: "Nicht jetzt.". Gedämpftes Gelächter brach hinter ihr aus, während ein Stuhl zurückgezogen wurde und die Gestalt neben ihr Platz nahm. "Du bist wirklich gut, Joss.". Sein Lachen verhallte langsam und mit einem besorgten Unterton fragte er: "Geht es dir gut?". Josslyn winkte ab, um ihm zu bedeuten, dass alles in Ordnung war. Er strich ihr über die Haare und blickte sie einige Zeit wortlos an. Schließlich stand er auf, verließ den Raum und kam wenige Minuten später wieder zurück. Er stellte ein kleines Fläschchen neben ihr Wasserglas und sagte: "Hier. Damit wirst du noch etwas schlafen können.". Baldrian. Zweifelsohne ein Talent ihres Freundes, Dinge zu ergattern, die es eigentlich so gut wie gar nicht mehr gab. Schweigend nahm sie das Fläschchen, gab einige Tropfen davon in ihr Wasser und und leerte das Glas in einem Zug. "Eric? Wann war es dein letztes Mal?", fragte sie ihn erschöpft. Eric grübelte und konnte sich wirklich nicht mehr daran erinnern. "Ich weiß nicht, ist schon lange her.". Josslyn schnaubte. Sie wünschte, sie könnte so sein wie er. Warum konnte sie ihre Erinnerungen nicht so gut ausblenden und sich auf die Gegenwart konzentrieren? Ihr machten diese Augen in der Nacht Angst. Mittlerweile wurde sie von ihnen nicht nur im Traum verfolgt, sondern auch schon am Tage bei vollem Bewusstsein. Sie hatte langsam das Gefühl den Verstand zu verlieren. Eric klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter und flüsterte: "Du solltest wieder ins Bett gehen. Wir haben morgen viel zu tun. Behalt den Baldrian. Du brauchst ihn dringender als ich.". Schweigend stand sie auf und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Eric folgte ihr um sich zu vergewissern, dass sie sicher dort ankam, wartete, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und ging ebenfalls zurück in seinen Raum. Seit dieser einen Nacht in ihrem Alptraum war sie mit Eric Rawitt unweigerlich und eng verbunden. Ab diesem Moment konzentrierte sich sein Beschützerinstinkt alleine auf sie. Er war wie ein großer Bruder. Er wurde zwar von keinen Alpträumen geplagt, dafür aber von einer unerklärlichen Schlaflosigkeit. Fast jede Nacht traf sie ihn auf den Fluren oder in der Großküche. Meistens saß er auf einem Stuhl und las. Er besaß unzählige Bücher und jedes einzelne verschlang er in Rekordzeit. Am Tage erschien seine Gestalt groß, breitschultrig und muskulös. Sein gesamtes Auftreten war maskulin und dadurch fühlte sie sich bei ihm stets beschützt und geborgen. Nachts jedoch wirkte sein Körper erschöpft und irgendwie eingeknickt. Die maskulinen Gesichtszüge verschwammen hinter den braunen, zerzausten Haaren und statt dem sonst so schelmischen Blitzen seiner Augen fand sich eine fast unerträgliche Ausdruckslosigkeit in ihnen wieder. Sie wusste nicht, was ihn nachts so sehr quälte. Vielleicht gab er nur nicht zu, dass er genauso litt wie sie. Er wollte stets der Stärkere von ihnen beiden sein, sie halten und aufbauen. Schwäche war etwas, dass sie bei ihm noch nie entdeckt hatte. Josslyn legte sich in ihr Bett, zog die Decke bis unter ihr Kinn, hing ihren Gedanken über Eric noch eine Weile nach und sank schließlich in einen unruhigen Schlaf.


Wenige Stunden später gab Josslyns Wecker schrille Geräusche von sich und signalisierte ihr aufstehen zu müssen. Gebeutelt von der vergangenen Nacht schleppte sie sich unter die Dusche. Im Grunde war es keine richtige Dusche. Eher ein Abfluss im Boden in der linken Ecke ihres Zimmers. Der Duschvorhang war primitiv, hässlich und hielt kaum Wasser ab. Aus Erfahrung aber wusste sie, dass der feuchte Boden im Laufe des Tages wieder trocknen würde. Allerdings trug der nasse Fußboden kaum zur Qualität des Geruches ihres Zimmers bei, eher das Gegenteil war der Fall. Nach der kurzen und eher lauwarmen Dusche, betrachtete sie sich in einem fast erblindeten Spiegel. Dieser Anblick war schlichtweg erschreckend. Die Lebenslust war gänzlich aus ihrem Gesicht verschwunden. Die stahlblauen Augen wirkten trüb, müde und leer und waren von dunklen Ringen umrandet. Die langen schwarzen, und sonst so schön gelockten, Haare hingen zerzaust in ihren Rücken. Ihre Haut wirkte bleich und der Körper eingefallen. In letzter Zeit konnte sie sich nur selten ein Lächeln abringen, was Eric oft bemängelte. Er mochte ihr Lächeln. Lustlos band sie ihr Haar nach oben, putzte sich ihre weißen Zähne und zog sich an. Schließlich verließ sie ihr Zimmer und folgte dem gleichen Gang wie einige Stunden zuvor. Nun war er jedoch heller erleuchtet. Stellenweise flackerte das grelle und künstliche Licht über ihr. Aus allen Zimmern traten Menschen, ihre Nachbarn sozusagen, und machten sich ebenfalls auf den Weg in den Speisesaal. Zur Begrüßung nickte oder winkte Josslyn einigen Personen zu. Auf einen Smalltalk hatte sie jedoch absolut keine Lust und beschleunigte deshalb ihr Schritttempo. Plötzlich wurde sie von hinten in die Rippen geknufft. Cita. Josslyn lächelte freundlich. Cita war eine kleine und zierliche Person, die vor Energie und Lebenslust sprühte. Ihr freches Äußeres, welches durch die kurzen blonden Haare und die blitzend grünen Augen noch unterstrichen wurde, verstärkte den Eindruck ihrer Unbändigkeit zusätzlich. Sie verbreitete stets gute Laune, der sich niemand in ihrer Gegenwart entziehen konnte, selbst Josslyn nicht. Josslyn kannte Cita schon fast ein Jahr und in dieser Zeit wurde sie zu ihrer Freundin. Cita hängte sich bei Josslyn ein und konnte ihr breites Grinsen nicht länger im Zaum halten. "Er ist so wundervoll!", platzte es aus ihr heraus. Weitere Details von ihrer Verabredung am vergangenen Abend sprudelten ungehalten aus ihr heraus. "Bitte Cita, keine Details, die ich nicht verkraften kann.", scherzte Josslyn.

Schließlich kamen sie im Speisesaal an, reihten sich in die Warteschlange vor der Essensausgabe ein, griffen jeweils nach einem Tablett aus einem Metallgestell und ließen sich ihr Frühstück über eine verglaste Theke reichen. Wie jeden Morgen gab es Haferbrei, zwei verschiedene Arten von Früchten und Tee. Die einzige Abwechslung jedes Frühstücks bestand in der Sorte des Tees. Josslyn hasste Haferbrei, aber ihr blieb nun einmal nichts anderes übrig. Nachdem die Tabletts beladen waren, setzten sie sich an einen der Tische, an dem bereits Eric und „der General“ Platz genommen hatte. "Guten Morgen, die Damen.", raunte „der General“. Er war der Grund, warum Cita an diesem Tag so aus dem Häuschen war. Cita erntete ein spitzbübisches Augenzwinkern von ihm und ihre Knie wurden sichtbar weicher. Josslyn hätte fast laut los gelacht, aber Cita rügte sie mit einem aufgesetzten, bösen Blick. Während Josslyn in ihrem widerwärtigen Haferbrei herumstocherte, kramte Ben, der im Grunde kein General war, aber aufgrund seines herrischen Umgangstones diesen liebevollen Spitznamen verpasst bekommen hatte, die Einsatzpläne des Tages heraus. Ben räusperte sich und sagte ernst: "Wir haben heute eine Menge zu tun, also beeilt euch. High Hill Castle gilt es heute zu erreichen und Joss, du wirst uns begleiten.". "Was?", fragte Josslyn mit entsetzter Mimik. "Aber mein letzter "Ausflug" ist schon Ewigkeiten her.", versuchte sie sich herauszureden. "Deshalb wird es wieder einmal Zeit. Wir brauchen deine Fachkenntnisse.". Damit war die Diskussion für Ben beendet. Wiederworte ließ er in solchen Fällen niemals gelten. Schließlich war er der Einsatzleiter und besaß die volle Befehlsgewalt. Ben ging mit ihnen die Marschrouten und Einsatzpläne bis ins Detail durch, leerte seinen Teller und rief zum Aufbruch. Gemeinsam verließen sie den Speisesaal, durchliefen mehrere Korridore und erreichten eine der Waffenkammern. Ben legte seine Dokumente bei den Sicherheitsbeamten vor, steckte seine Identifikationskarte in ein Lesegerät, gab seinen geheimen Code ein und nun traten sie in den Raum. In der Waffenkammer lagerten die unterschiedlichsten Waffen, Munitionsarten und Kampfausrüstungen. "Leichte Bewaffnung und Schutzkleidung. Der Marsch wird lang.", mahnte Ben. Eric stöhnte auf und raunte: "Als müsstest du mich daran erinnern, dass meine Füße heute Abend schmerzen werden.". Josslyn lächelte zwar, aber Eric konnte ihr ansehen, dass sie angespannt war. Er half Josslyn ihren Rucksack auf den Rücken zu schnallen und flüsterte dicht an ihrem Ohr: "Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut gehen. Ich pass auf dich auf.". Josslyn nickte nur, konnte ihm aber nicht glauben. Sie wusste, dass Eric auf sie achten würde, auch wenn dies das Schlimmste bedeutete, aber wenn es ernst werden würde, konnte er sie genauso wenig schützen wie alle anderen. Genau davor fürchtete sie sich. Nachdem sie ihre Ausrüstung zusammengepackt hatten, verließen sie wortlos die Waffenkammer und machten sich auf den Weg. Zuerst passierten sie den Korridor 21F, gingen weiter über den Tunnel 13E, fuhren mit einem Aufzug in Ebene 4B und von dort aus erneut mit einem Aufzug auf Ebene 2A. Dort befand sich einer der 8 Ausgänge. Einen Ausgang überhaupt zu erreichen dauerte eine Ewigkeit. An jedem Kontrollpunkt mussten alle Vier ihre Identität, sowie die Einsatzpläne und die Befugnis von Wachpersonal überprüfen lassen. Diese Sicherheitsmaßnahmen waren nervenaufreibend, gaben Josslyn jedoch das Gefühl von Sicherheit. Nachdem sie den letzten Kontrollpunkt passiert hatten, öffnete sich ein schweres Eisentor und das Tageslicht blitzte ihnen entgegen. Zwar war der Himmel von dunklen Wolken behangen und es nieselte leicht, jedoch war das Tageslicht ein gravierender Unterschied zu der künstlichen Beleuchtung in ihrem Zuhause. Die Luft war klar und roch nach Regen. Josslyn atmete erleichtert mehrere Male ein und aus. Es tat so gut endlich wieder in freier Natur zu sein. Dieses unbeschreiblich befreiende Gefühl überkam sie jedes Mal, wenn sie wieder nach oben durfte oder musste. Auch Cita, Ben und Eric genossen sichtlich diesen Moment. Der Wind frischte zusehens auf, während sich der Himmel weiter verdunkelte und der Regen stärker wurde. Dieses Wetter würde definitiv ihren Auftrag erschweren und sie alle wussten das. "Vorwärts. Wir dürfen keine Zeit verlieren.", trieb Ben sie an. Ein ungutes Gefühl überkam Josslyn, als Blitze am Horizont zuckten. Im Grunde drohte ihnen noch keine Gefahr, aber bei diesem Wetter konnte man Hinterhalte schlechter erkennen als sonst. Je stärker es regnete, desto mehr weichte der erdige Boden unter ihren Füßen auf, was es ihnen nicht möglich machte schnell voran zu kommen. "Wir haben keine Zeit die Stadt zu umgehen.", sagte Ben mit einem Unterton, der nichts Gutes zu verheißen hatte. Sie wussten was das bedeutete. Sie mussten auf direktem Wege durch die "Stadt der Schatten", deren Hochhäuser hinter einem Hügel zum Vorschein traten.

Als sie einen kleinen Vorort erreichten, versetzte Ben sie in Alarmbereitschaft. Die Waffen wurden entsichert und es herrschte absolutes Redeverbot. Sie verständigten sich ab diesem Zeitpunkt lediglich mit Handzeichen. Sie durften unter gar keinen Umständen Aufmerksamkeit erregen. Langsam und vorsichtig gingen sie die Hauptstraße entlang und musterten argwöhnisch die Umgebung. Josslyn wurde es in solchen Situationen immer mulmig. Zwar hatte sie eine kurze Ausbildung für Außeneinsätze erhalten, da es manche Situationen erforderten, dass sie anwesend war, aber sie war dennoch keine Soldatin, im Gegensatz zu ihren Freunden. Ben war vor Jahren ein hochrangiger Offizier bei der Armee gewesen, der etliche Kampfeinsätze in Kriegsgebieten hinter sich hatte. Cita war lange Zeit Söldnerin mit den verschiedensten Aufträgen und Eric war in seinem alten Leben ein Ausbilder für neue Rekruten in der Armee gewesen. Josslyn selbst wurde lediglich nur zwei Wochen lang ausgebildet in denen grundlegende Dinge vermittelt worden waren, wie zum Beispiel der Umgang mit einer Waffe usw. Allerdings war diese Ausbildung wenig hilfreich wenn es wirklich um Leben und Tod ging. In einer solchen Situation würde sie definitiv den Kürzeren ziehen.

Schließlich führte sie die Hauptstraße des Vorortes direkt in das Herz der Hauptstadt. Da lag sie, die "Stadt der Schatten". Früher einmal war sie eine wunderschöne und blühende Weltmetropole und Josslyn nannte sie ihre Heimat. Doch nun war diese Stadt ein unwürdiges Grab für Millionen von Menschen. Am Rand der Straße reihte sich ein Hochhaus an das andere und jedes schien das benachbarte Gebäude in der Größe übertrumpfen zu wollen. Die Luft war erfüllt von übel riechendem Rauch. Irgendwo brannte wohl wieder ein Haus aus, oder ein paar Leichen hatten Feuer gefangen. Josslyn tippte auf das "Oder". Die heruntergekommenen Hochhäuser hatten keine Fensterscheiben mehr und jeder Laden in der ganzen Stadt war leer geräumt und geplündert worden. Wohin man auch sah, überall lag Schutt von zerstörten Gebäuden herum. Autos waren wild auf-und durcheinander gestapelt. Die meisten von ihnen waren ausgebrannt oder gänzlich verrostet und zertrümmert. Die asphaltierte Straße war größtenteils aufgesprengt und die losen Teerplatten lagen oft mehrere Meter verstreut. In den tiefen Löchern der Straße sammelte sich verschmutztes Wasser, in dem Kleintierkadaver trieben. In manchen Seitenstraßen erkannte man noch eine Art Barrikade, die lächerlich schutzlos gewesen sein musste. Manchmal konnte man noch mit Platten aus Blei oder Eisen verkleidetet Fenster oder Vordertüren entdecken, die den Bewohnern aber ebenso wenig Schutz geboten hatten. Der Gestank von altem Abfall verseuchte die Luft und ließ Josslyn schwer atmen. Anfangs hatte Josslyn schwer mit ihrem Brechreiz kämpfen müssen, aber mittlerweile war sie es mehr oder weniger gewöhnt. Schließlich gewöhnte der Mensch sich im Laufe der Zeit an viele Dinge. Die Gebäude zierten Millionen von Einschusslöchern, ob von Handfeuerwaffen oder größeren Kalibern. Die Inneneinrichtung, sofern diese damals noch vorhanden war, der Häuser lag zertrümmert auf den Straßen oder hing in Fenstern und Türen, um diese zu verbarrikadieren. An den Fassaden selbst klebten trockene Ströme von Blut, Türen, Bürgersteige, Autos, Fenster, einfach alles war von getrockneten Blutspritzern besudelt. Egal wo man hinsah, überall lagen Leichen, die entweder verbrannt oder gänzlich zerfetzt worden waren. Ratten machten sich meist über das faule Fleisch her, während sie die darauf zappelnden Maden ignorierten. Häufig waren die Leichen auch auf Zaunpfähle gestoßen worden und hingen dort noch immer zerfleischt, während ihre Gedärme aus dem zerrissenen Rumpf baumelten. Anfangs hatte Josslyn, bei diesen Anblick, nicht aufhören können sich zu erbrechen, doch nun war sie an dieses Horrorszenario gewöhnt. Natürlich fiel es ihr noch immer schwer, aber sie versuchte einfach nicht hinzusehen und schon gar nicht an das grauenvolle Schicksal all dieser Menschen denken zu müssen. Es war nun einmal die Realität. Ihre Realität. Noch vor ein paar Monaten war es wesentlich schlimmer in der Stadt gewesen. An jeder Ecke, hinter jedem Fahrzeug und in allen Häusern drohte die allgegenwärtige Gefahr. Menschen, die sich mit ihrem letzten Atemzug retten wollten und dafür alles getan hätten. Aus allen Himmelsrichtungen drangen damals Schrei an ihr Ohr die lange nicht verstummten. Doch mit der Zeit wurde es ruhiger. Es war ein offener Krieg. Jeder gegen Jeden und nur noch das eigene Überleben zählte. Menschlichkeit oder ein Hauch von Moral und Nächstenliebe waren schon vor Jahren ausgestorben. Diese Tugenden waren tödlich geworden. Für die Meisten von ihnen war es selbst damals schon zu spät. Josslyn blickte kritisch die lange und matschige Straße hinunter und ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen, da sie von nostalgischen Erinnerungen ergriffen wurde. Damals, als noch alles so war, wie es hätte bleiben müssen. Viele dieser Geschäfte waren ihnen allen bekannt. Es waren Restaurants, in denen sie mit ihren Familien oder Freunden gegessen und gelacht hatten, Kleiderboutiquen, in denen man der besten Freundin davon abgeraten hatte, ein furchtbar hässliches Kleid zu kaufen, Lebensmittelgeschäfte, in denen man mit einer hübschen Kassiererin geflirtet hatte oder mit den netten Barkeeper in dem Lieblingsclub auf der 5. Sie hatten alle vor sich hin gelebt und das in einem speziellen Bewusstsein, dass der "neuen" Menschheit nur noch in Erinnerung bekannt, aber dennoch fremd, war. Das war die Vergangenheit, denn alles hatte sich geändert.

Sie alle hatten es miterlebt.
Yve
Etabliert
Etabliert
 
Beiträge: 161
Registriert: Di 04 Nov, 2008 11:29
Eigene Werke
 

Re: Kapitel 1

Beitragvon ulli35 » Do 03 Jan, 2013 18:09


Hallo,Yve, Tolle Geschichte, rechtschreibmäßig und grammatisch ausgereift. Spannend erzählt. Man kann sich alles genau vorstellen, was geschieht. Wie bist du auf diese Geschichte gekommen ? ulli35
ulli35
Neu
Neu
 
Beiträge: 9
Registriert: Di 11 Sep, 2012 20:09
Eigene Werke
 

Zurück zu Untergang des Krieges

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 0 Gäste

cron