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Erlkönig ist erwacht

BeitragVerfasst: So 23 Aug, 2015 18:45
von vakuum
Nebelstreif im dunklen Grund,
eis'ge Stille in der Nacht;
raunend geht von Mund zu Mund:
„Der Erlenkönig ist erwacht!“

Fast tausend Jahr‘ hat er geruht –
vergessen ward er all die Zeit.
Nun fordert er sein Hab und Gut
zurück für alle Ewigkeit:

„Den reichen Schatz im Wasser tief -
das strahlend' Gold der Nibelungen –
habt ihr, derweil ich sorglos schlief,
voll Gier dem dunklen Rhein entwrungen.

Doch sagt, wurd‘ er denn klug genutzt?
Wurd‘ davon Eure Welt gerechter?
Das Geld, das ihr mir abetrutzt –
wart ihr ihm wahrhaft würd’ge Wächter?

Ich blick‘ herum, fast blind vor Zorn –
wo sind die dichten Eichenwälder?
Der Hirsch, das Fabeltier mit Horn,
die grünen Wiesen und die Felder?

Welch dumpf Geschlecht, das ernsthaft glaubt,
es könnt‘ für alle Zeit so prassen?
Es sei die Kron‘ auf Gottes Haupt –
dabei schon längst von ihm verlassen!

Mein Langmut ist am Ende jetzt -
drum wohl verdient der Menschen Lohn:
Gejagt, geschunden und gehetzt,
ihr selbst seid Eures Wesens Fron!

Das Paradies habt ihr zerstört -
die Welt in Scherben euch zu Füßen;
und wann Er euch daraus vertreibt –
muss der da oben selber wissen.“

Sprach’s – und verschwand mit Haut und Haar
im Erdenreich in dunkler Tiefe.
Ich wünscht‘, dass nochmal tausend Jahr‘,
nein, besser: Ewig! Er dort schliefe.

Re: Erlkönig ist erwacht

BeitragVerfasst: So 11 Okt, 2015 09:45
von rivus
hi vakuum,
das gedicht liest sich lebendig und knistert mit naturmagie. gespenstisch ist ein status quo eingefangen. die atmosphäre des dunklen und erstarrten raunt nicht nur im vers 1, sondern gleitet vom jenseitigen ins diesseitige unvollkommene. der erlenkönig überprüft seine den menschen hinterlassenen requisiten und erhebt schwere vorwürfe an die spezies homo sapiens. sie scheinen in seinen augen nicht würdig das erbe , die kraft der natur, auch den monetären reichtum zu verwalten, zu hüten und im sinne von entwicklung zu mehren und auszuprägen. im gegenteil, seit der übernahme der gäa'schen schätze und seinem rückzug ins reich der sagenwelt, sieht es düster aus! das gibt nicht nur anlass zur berechtigten klage, sondern die drohung des untergangs der menschheit und den fluch des ewigen gejagtseins. dem wesen mensch, die immanenz seiner widersprüchlichkeiten wird aus dem blickwinkeln des magischen und des irdischen jegliche zukunftsweisende schöpfungskraft abgesprochen und die zerstörung der von menschen schlecht verwalteten welt heraufbeschworen. dem beobachtendem und zuhörendem lyr bleibt nur die angst, dass der bannspruch des erlkönigs der wahrheit entspricht. hier wünscht sich das das lyr am ende, dass er nie wieder erwachen sollte. sollte er wider dieses wunsches wieder die herrschaft über das diesseitige übernehmen, wäre es wohl schon längst um das diesseitige menschliche geschehen. die magie und der zauber einer spezies, aus einer urmagie erwachsen, würde dann nur noch zur legende und schlimmer noch, zur fußnote einer welt, in der der mensch kein platz mehr hat ...

gern gelesen
rivus