Gedichte, die gesellschaftliche oder politische Themen behandeln

Idealismus

Beitragvon Keyla » Do 12 Aug, 2010 08:56


Ich wäre gerne richtig,
auf der richtigen Seite,
in der richtigen Partei,
in der richtigen Wohnung,
mit dem richtigen Tier,
ich hätte gerne richtige Ansichten,
und richtige Gedanken,
richtige Intelligenz,
richtigen Respekt,
richtiges Verständnis,
richtige Toleranz,
richtige Treue,
richtige Liebe.

Das Huhn bleibt Huhn,
das Ei bleibt Ei
und ich nur Mensch.
"Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen."
Keyla
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Re: Idealismus

Beitragvon Drehrassel » Do 12 Aug, 2010 11:03


und ich hätte gern literarisches talent. lach. nein, sorry, den konnt ich mir einfach nicht verkneifen. /
also, dein gedicht, keyla, gliedert sich in drei abschnitte:
- den titel, welcher einen begriff zum gegenstand des textes erhebt, der nicht sehr einfach zu behandeln ist, weil er eigentlich philosophisch erkenntnistheoretischen ursprungs ist, aber im allgemeinen sprachgebrauch auch für eine voluntaristisch-altruistische einstellung eines menschen steht. als "idealistisch" würde als eine person bezeichnet, welche eigene bedürfnisse zugunsten derer einer größeren allgemeinheit, einer unbestimmten oder bestimmten gruppe von menschen oder auch einer überzeugung, weltanschauung, idee, konzept oder vorstellung von einem "besseren" leben / einer "besseren" welt oder dergleichen, hintanstellt. / solcherart titel halte ich schon für einigermaßen problematisch. zu befürchten steht nämlich, im folgenden text würde der versuch unternommen, einen solchen begriff sozusagen "erklären", bestimmten zu wollen. und das auch noch in form eines lyrischen gedichts. was ich in einem solchen falle für ein einziges missverständnis hielte, was die zu diesem behuf passende literarische gattung anbelangt. zwar gibt es in der geschichte der literatur nicht wenige solcher versuche, gedankenlyrik zu betreiben, und einige von ihnen zeichnen sich durchaus auch durch einen ähnlichen begriff als titel aus; dennoch halte ich bei einer derartigen unternehmung vorsicht für geboten. es endet schnell in einem schwammig formulierten notat, einer art tagebuchnotiz, einem durch unnötige stilmittel und für lyrisch gehaltene manirismen aufgemotzten aphorismus, der durch wortgeklingel, vergleiche und metaphern etwa zu verschleiern trachtet, dass seiner sentenz, oder besser dem gedanke, der sie trägt, klarheit und struktur abginge. nun gut.

- einem ersten, längeren textkörper, einem (sinn-)abschnitt bestehend aus, wenn ich es korrekt abzählte, dreizehn versen, der sich durch den auffälligen gebrauch der figur der anapher, die einführung eines artikulierten ICH, die reihung konjuntivischer (konjunktiv II) aussagen dieses ICH ("ich wäre gerne", "ich hätte gerne") darüber, wie es sich ein schöneres, angenehmeres, "besseres", glücklicheres, erfüllenderes oder was auch immer, alles in allem wohl zusammenfassend "lebenswerteres" leben vorstellte. - aber halt! denn nun folgt im dritten und letzten textabschnitt (nicht strophe! eigentlich, auch wenn sich das so durchgesetzt hat, allgemein von einer strophe zu sprechen, wenn man einen textabschnitt eines lyrischen gedichts meint) die pointe deines gedichts:

- einem kurzen dreizeiler, der nun unvermittelt auf eine neue, ganz andere bildebene abhebt; eigentlich überhaupt erst auf eine bildhaftigkeit zugreift, somit so etwas wie metaphorik ins spiel bringt und die im vorangegangenen abschnitt formulierten wünsche des artikulierten ICH derart gewaltsam als unerreichbar, nicht zu erfüllen und illusionär hinstellt (zumindest hinstellen will), dass unschwer zu erkennen ist, worauf es dem autor/der autorin wohl ankam, dabei, diese pointe vom rest des gedichtes abzusetzen, nämlich darauf, eine ganz andere intention verfolgt zu haben, als man möglicherweise hätte denken können. also, sozusagen eine "falsche fährte" gelegt zu haben für die rezeption des textes, oder auch nur die verfolgung des eigentlichen gedankenganges des text-ICH. denn, zwar äußert dies das ICH nicht explizit, im gegenteil, es zeigt sich desillusioniert und betroffen angesichts der unveränderbarkeit seiner situation, und möchte dies pointieren mit der lapidaren aussage, ein "ei bleibt ein ei" sowie ein "huhn" eben auch ein "huhn" "bleibt" und "ich ein mensch" (welch eine klimax!); durch den reihenden gebrauch offensichtlich übertriebener und überambitionierter ziele und wünsche im zweiten abschnitt (hier wird mit "großen" worten und themen, bedeutungstiefe vortäuschenden vokabeln wie leben, liebe, toleranz, respekt etc. nicht gespart, im gegenteil, diese leerbegriffe werden ja rhetorisch gesicht) und der zudem noch mit ihnen in verbindung stehenden bedingung, sie sollen etwa "richtig" sein (dieses adjektiv fehlt in keiner dieser dreizehn zeilen), wird klar, dass dem ICH wohl eine genau diesen aussagen völlig konträre conditio humana, oder auch einfach, ein genau diesen formulierungen entgegenstehendes menschenbild inhärent zu sein scheint.

so zielt der text letzlich auf die zerstörung eben jener illusionen von einem glücklichen und lebenswerten menschenleben, die er, um dies rhetorisch zu meistern und zu seiner eigentlichen pointe vorstoßen zu können, überhaupt erst geschaffen hat. / anhand dieses konzepts führst du nebenbei die grundsätzliche unabhängigkeit mehrere text generierender und struktirierender instanzen, wie dem artikulierten ICH einerseits, einem ihm aber keineswegs identischen textsubjekt. hierin sehe ich so etwas wie eine kreative leistung dieses gedichtes. / bleibt zu klären, inwiefern ein huhn ein huhn bliebe, ein ei ein ei (gerade dieses bild ist äußerst fraglich und damit ungelungen, denn hier greifst du ausgerechnet auf ein bild zurück, welches gerne gewählt wird, um dialektische gedanken zu formulieren, solcherart, dass nämlich gerade NICHTS bleibt wie es ist). /

nun gut. nur, damit du mal ein erstes feedback hast. ist nicht meine art von lyrik.

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Re: Idealismus

Beitragvon Keyla » Do 12 Aug, 2010 13:15


Juhuu und danke Drehrassel, für Dein Interesse und Dein Lesen :D - freut mich!
Jap - ich schreibe eher etwas eigen und es muss nicht jedem seine Lyrik sein - bei mir brauchst Du Dir keine Sätze verkneifen - Lyrik ist immer subjektiv und nicht greifbar - von daher gibt es auch kein wirklich gut oder schlecht.
Liegt also immer im Auge des Betrachters ;) und einen lieben Gruß Jammie
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Re: Idealismus

Beitragvon Keyla » Do 12 Aug, 2010 18:42


Jap, lieber Mo - er hat mein Gedicht auch stilistisch einwandfrei beurteilt und analysiert und eben in dem letzten Abschnitt eingefügt - das es nicht seine Art von Lyrik ist.
Darauf bezog sich meine Aussage und nicht das ich abstreite - das man analysieren kann - das wäre jetzt mal von Dir interpretiert.
Ansonsten würde ich es mir wünschen, dass man entweder Meinungen zum Gedicht schreibt - ob nun gut oder schlecht - aber ansonsten nicht einfach mal so unhöflich von der Seite "anpampt".
Ein guter Ton gehört in jedes Forum und gerade bei Neulingen, mir sit in einigen Threads aufgefallen - das hier ein ziemlich rauher Ton mitunter von statten geht - warum?
Manchmal kann man auch ganz klug sich zurück nehmen und sich auf die Dinge konzentrieren, die wirklich wichtig sind : das schreiben oder eben konstruktive Beiträge.
In diesem Sinne, lieben Gruß Jammie
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