Gedichte, die gesellschaftliche oder politische Themen behandeln

im Kreisen

Beitragvon atti » Sa 23 Jul, 2011 12:12


im Kreisen

ich beuge mich aus
meiner gedanklichen 2-D-Halbkreiskugel
über den Halbkreis vor mir.
ich beuge mich.

es beäugt mich aus
der Tiefe, in die ich lesend dreidimensional
falle, ohne mich zu bewegen.
es beäugt mich.

Jetzt wird wohl immer,
wird wohl,
wird
gedrängt haben
und in mich dringt alles,
was so abperlt und ja,
ja. es ist schon später geworden.
absehbar, war absehbar, also
sehen wir davon ab
und zu ambivalent: noch nicht
weiter zu sein und das dann
doch einen Fortschritt zu nennen
fernab jeder Theorie, weiter zu
sein und das dann doch
einen Fortschritt zu nennen. fern.
ab jeder Theorie. weiter.
zu sein. und das dann.
doch.
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Re: im Kreisen

Beitragvon rivus » So 24 Jul, 2011 22:32


hi atti,
ja und ja. wie uns die zweidimensionalität der dinge immer wieder aus allem schöngeistigen zurückholt. was nutzt komplexes denken, wenn das kreisen von zirkelschlüssen uns ein raum-zeit-kontinuum offenbart, in das wir zwar eintauchen können, welches wir aber wiederum, um eine dimension zu wenig, erfassen können; und somit sind wir dem gespött, dem beäugen, obwohl wir gekonnt steif fallen, ja der ganzen welt ausgeliefert ;)!

somit können wir, in so einem, dem und den kreisen preisgegebenen status, unsre progressiven ideationen und ambitendenzen getrost offenbaren.

prost circulus vitiosus

gern assoziiert
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Re: im Kreisen

Beitragvon cube » Fr 29 Jul, 2011 21:56


Salü Missjöh,

ich setze mich auch mal als Maßstab und im Zweifelsfall ins Unrecht, mal kucken was draus wird.

die Konzeption des Gedichts macht auf mich einen spannenden Eindruck, ich denke, dass die beiden ersten Strophen in ihrer antipodischen Weise etwas auslösen, das in der dritten beschrieben wird. So weit, so vorsichtig.

Also es geht um das Ich in seinem Raumanzug aus Zweidimensionalität, das vor allem äußeren wohlgeschützt scheint, an dem die Phänomene abperlen und um den (bewussten?) Schritt aus dieser Schutzhülle heraus, um das Fallenlassen in einen Raum, der eine Dimension mehr hat, ein Raum (ein Text?), der das Ich vervollständigt und dem ein eigener Wille zugeschrieben wird. Was im Zweifel etwas in dem Ich ist, das durch die Augen des Textes das Ich beäugt. Ich finde die Idee sehr kuhl, dieses Spiel mit Dimensionen und einem Ich, das anscheinend so für sich ist, dass es in einen inneren Dialog mit der Umwelt tritt. Muss aber auch sagen, ich verstehe es nicht ganz, habe auch ein paar kritische Anmerkungen, die vielleicht darauf beruhen, dass ichs einfach nicht richtig gecheckt habe.

ich beuge mich aus
meiner gedanklichen 2-D-Halbkreiskugel
über den Halbkreis vor mir.
ich beuge mich.


dieses Beugen hat hier zum einen die Funktion, die Bewegung zu beschreiben, kann aber auch so verstanden werden, dass das Ich aus seiner üblich sicheren Haltung sich herausbewegt. Sich beugen meint in der hergebrachten Bedeutung eine freiwillige Unterwerfung, es lässt sich aber auch neutral als Perspektivwechsel verstehen. Diese Doppeldeutigkeit (Vers 1 und 4) gefällt in ihrer umschließenden Anmutung. Ein Problem habe ich mit Halbkreiskugel. Eine Kugel verstehe ich als dreidimensionalen Kreis, wie aber soll ein halber Kreis gleichzeitig eine ganze Kugel sein können?

es beäugt mich aus
der Tiefe, in die ich lesend dreidimensional
falle, ohne mich zu bewegen.
es beäugt mich.


hier haben wir wieder das Umschließende, das inhaltlich etwas ganz anderes bedeutet, sich aber in phonetischer Nähe des "Beugen" befindet. Das ist die Verbindung trotz aller Andersartigkeit. Das "es" ist der Text oder etwas in dem Text, vielleicht eine Figur oder eine besonders plastische Szene, das Ich fällt dort hinein, in eine Tiefe, diese literarische Wirklichkeit scheint überzeugender zu sein, als die vorherige, flache, Alltagsrealität. Jetzt befinden wir uns in der Dimensionszahl, von der wir normalerweise ausgehen. Interessant finde ich, dass die zweite Strophe in meinen Augen lebendiger wirkt als die Ichbeschreibung in der ersten Strophe, obwohl "es" passiv ist und nur beäugt. Kritisch will ich anfügen, dass mir die ersten beiden Strophen in ihrer Erscheinung nicht so gut gefallen. Du beschreibst hier sehr explizit, sodass ich den Eindruck bekomme, du willst, dass ich etwas auf eine ganz bestimmte Art und Weise verstehe. Durch diese genaue Ausformulierung bekommt er eine gewisse Hüftsteife und wirkt recht konstruiert, da hätte mir etwas mehr organisches Sprachmaterial besser gefallen, wie du es in der dritten Strophe in Bewegung bringst.

Jetzt wird wohl immer,
wird wohl,
wird
gedrängt haben
und in mich dringt alles,
was so abperlt und ja,
ja. es ist schon später geworden.
absehbar, war absehbar, also
sehen wir davon ab
und zu ambivalent: noch nicht
weiter zu sein und das dann
doch einen Fortschritt zu nennen
fernab jeder Theorie, weiter zu
sein und das dann doch
einen Fortschritt zu nennen. fern.
ab jeder Theorie. weiter.
zu sein. und das dann.
doch.


Das gefällt mir sehr! Das ist so eine Richtung, in der seh ich einfach gern dabei zu, wie du die neoattische ;) Lyrik fortschreibst. Auffallend ist hier schon mal dieses distanziert-registrierende, mit der das Ich Phänomene beschreibt, als würden sie dem Ich selbst nicht zustoßen. "Jetzt wird wohl was gedrängt haben" da ist also etwas geschehen, und das Abperlende wird nun zu etwas, das unter die Haut geht. Was das ist und warum es diesmal Tiefenwirkung hatte, das wird nicht näher beleuchtet. Aber darum geht es auch nicht, deucht mir, es geht eher um die Darstellung einer abstrakt-geometrischen Beziehung zu einer Umwelt, die aus einem Text besteht, um zwei Dinge, Ich und Text, die miteinander einen neuen Raum bilden und Einiges in Gang bringen: Die wesentlich dynamischere dritte Strophe. Mit dieser Strophe im Hinterkopf lassen sich auch die ersten beiden als bewusst gesetzten formalen Gegensatz verstehen, mit ihrer doch recht strengen, vierversiegen, umschließenden Struktur. Wie bereits geschrieben, die Konzeption weiß durchaus zu gefallen, allein die Umsetzung der ersten beiden Strophen gefällt mir nicht. Auch wenn ich die Hüftsteife als formalen Ausdruck verstehe, denke ich mir: Ich will bewegte, lebendige Lyrik lesen, wie du sie in der dritten Strophe zeigst. Finde ich klasse, wie hier wiederholt und dekonstruiert wird, die Sätze wie Lego auseinandergenommen und die einzelnen Wortbausteine wieder neu zusammengesetzt werden. Mehr davon.

mehr, mehr!

cube

ps: Dieser Tage bekomme ich Besuch aus Leipzig und Landau, das ist ne geile Gelegenheit, zu viert biertrinkend durch die Nacht zu tigern und mal wieder Lyrik zu kleben! Sag bloß, dass du da bist und voll Bock drauf hast! Ich ruf die Tage nochmal an ...... bis dann
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Re: im Kreisen

Beitragvon atti » Mo 01 Aug, 2011 14:10


Hallo ihr beiden,

vielen Dank für eure Auseinandersetzungen!

"...und so schreibt man eben trotzdem." möchte ich zu rivus' Assoziation noch hinzufügen.

Und dir, werter Kubus, muss ich ja einiges an Mut zusprechen, dich an Kreise und Kugeln zu wagen. Und ja: wenn du so willst, hast du recht, so ganz schlüssig sind die ersten beiden steifen Strophen unter Umständen oder tatsächlich nicht. Die "gedankliche 2-D-Halbkreiskugel". Ja. Ich weiß auch nicht so recht. Erschien mir dereinst vernünftig in seinem Durcheinander und "geht denn das? wo bin ich?!". Und da es ja schließlich nur eine gedankliche 2-D-Halbkreiskugel ist, muss es sie ja auch gar nicht geben können, vielleicht kann sie ja dadurch das lyr. Ich irgendwie beschreiben. Vielleicht aber auch nicht und das ganze ist Mist. Ich bin da durchaus auch nicht entschieden. Gedacht war das ganze auf einer sehr simplen Ebene im Übrigen mal als ein bloßes Beugen über ein Buch und dann hab ich das draus gemacht. Naja.

Dass die organische dritte Strophe dir mundet (alles bio, wirklich!), erfreut mich. Da stell ich mich dann auch gerne bald wieder hinter den Herd! ;)

Aaaaaaansonsten: Ich bin hier. Wo sollte ich hin? Ich warte hier einfach an meiner Arbeit schreibend auf meinen Einsatzbefehl und dann kann's losgehen. Also meld dich. :)
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