Gedichte, die gesellschaftliche oder politische Themen behandeln

Der Bettler

Beitragvon Marius Nam » Sa 27 Okt, 2012 17:11


Der Bettler

Zum Bettler also hab ich wieder mich verwandelt,
zum Heimatlosen, der ich immer schon gewesen,
zu dem Hausierer, der mit selbstgeflochtnen Körben handelt,
mit Kämmen auch, mit Lumpen und mit Besen.

Ich habe niemals Wertvolles besessen,
doch manchmal hat man mir erlaubt, es zu berühren.
Das war ein Glück! Diesen Moment kann ich nie mehr vergessen,
du hältst was in den Händen, so, als würd es dir gehören!

Und dann gibst du's zurück und mußt dich trennen,
und schaust verständnislos auf deine leeren Hände,
und schleichst davon, mußt weiterlaufen, rennen,
schleppst deine Schande mit, als wär sie eine Spende.

Wie es so kam? Wie könnte ich das sagen!
Es war schon immer so, dieses Gesetz ist erzen:
Dem Starken wird stets die Beachtung nachgetragen,
und meine Ehrlichkeit war Schwäche, brachte Schmerzen.

Es gibt zwei Dinge nur, welche du brauchst zum Leben:
die Aufgabe und einen Platz, wo du zuhause bist.
Zuerst verlierst du den Beruf, dann mußt du deinen Platz hergeben,
und wunderst dich noch, bis du merkst, daß niemand dich vermißt.

Und du besinnst dich, was du kannst, das ist nicht viel -
ich lernte einstmals, schöne Körbe herzustellen.
Die Leute sagen manchmal "Der ist schön!" - als ob mir das gefiel!
Doch jeder Korb will mir den nächsten schon vergällen.

Und manchmal drückt mir jemand so ein Geldstück
voll Mitleid in die Hand und will nichts haben.
Hätte ich mehr, so gäb ich's ihm zurück,
denn ich verachte jedes Mitleid und auch seine Gaben.

Jetzt wird es wieder Winter und ich friere
und zieh umher mit meinen Körben, Lumpen, Kämmen.
Und manchmal steh ich auch vor deiner Türe.
Vielleicht erkennst du mich dann oder willst mich nicht erkennen.
Marius Nam
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Re: Der Bettler

Beitragvon rivus » Di 30 Okt, 2012 10:55


hallo marius,

das bettlersein ist ein dasein, was in den kältemonaten besonders bedroht ist und überexistentielles in gang setzen könnte, wenn die empathie der einzelnen es zustande kriegen würde. es ist ein los eines vorstigmatisierten, der möglicherweise an einem tisch der gaben für eine zeitlang an den früchten der gesellschaft teilhaben konnte und doch wieder weggestoßen wurde, als ob darwins gesetze wie eine unsichtbare hand den markt der eitelkeiten sortieren und strukturieren würde.

der bettler, ein sehr wärtiger, er könnte einer zeit vor christi entstammen oder dem mittelalter entsprungen sein, ist ganz postmodern, ganzeuropäisch und weit weg vom gedankengut eines john rawls, der das sogenannte differnzprinzip aufstellte: Zitat." „Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen […] den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).“John Rawls (2001), Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, Frankfurt a. M. 2003, S. 78.,

dieser bettler, der sich seines daseins offensichtlich schämt und trotzdem im kleid und mit den mittel des armen mannes hausiert, hat jedermanns sehnsüchte, die immer schon wunschphantasien blieben, umso schmerzvoller jedoch, wenn ein nähe hergestellt werden konnte, die ihn mit leeren händen und mit seinem schicksal einfach dasein lässt. man kann es kaum nachvollziehen, wieviel mut dazugehört, dinge zurückzugeben, nach denen man sich innig sehnt und die einem doch niemals gehören werden.

die abwertung, die der bettler durch seine mitmenschen erfährt, bringt ihn in eine spirale der selbstabwertung, drängt ihn zu einer selbstwahrnehmung, die gefüllt ist mit selbstschuldzuschreibungen, rollenfixierung und schicksalsgläubigkeit, die wertung schon erlebt, wenn er sich mit leeren händen davonstiehlt.

im selbstidentifizierungsversuch geschieht eine eigenanamnese, die einen dreifachen verlust (beruf, heimat, selbstachtung) herausarbeitet.

in der konfrontation mit den verhaltensweisen seiner mitmenschen ist am ende seine wahrnehmung zugleich so geschärft und so verstört, sodass er mit misstrauischer brille, - kann er es überhaupt anders? ist es nicht ein reiner selbsterhaltungsschutz - die menschlichen gesten einordnet und abwertet, um vermutlich mit dieser aufwertung des selbst, sich gegen weitere beschädigungen zu wappnen und etwas im inneren aufzubauen, was man gemeinhin als stolz bezeichnet.

mit dieser selbstidentifikation kann er nun seine opferrolle umkehren und sich zum überprüfer der moral der andren erheben, aber seine selbstzweifel über die möglichen verhaltenweisen der andren nicht aufheben. sie sind schon längst im schlepptau eines stolzen bettlers.

das erstmal
vg
der rivus

p.s.: du hast schon klarere sprachbilder benutzt.
Zuletzt geändert von rivus am Di 30 Okt, 2012 11:40, insgesamt 3-mal geändert.
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Re: Der Bettler

Beitragvon Marius Nam » Mi 31 Okt, 2012 18:22


Lieber rivus,


das ist die soziale Deutung, die du treffend ausführst.

Es gibt hier noch eine zweite, eine sehr emotionale Ebene. Ich lese das Gedicht in erster Linie als Liebesgedicht, als Genese einer unerfüllten unerwiderten Liebe. Was der Bettler kurz in den Händen hielt, war die Hoffnung einer glücklichen Liebe, eine kurze Berührung des Geliebten vielleicht, aber er muss es wieder entbehren und wird dadurch aus der Bahn geworfen. Das ganze kulminiert in einem stillen Vorwurf, in dem die alte biblische Bedeutung des Erkennens mitschwingt.


Viele Grüße,


Marius
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Re: Der Bettler

Beitragvon rivus » Mi 31 Okt, 2012 18:47


Lieber Marius,
danke für das Öffnen der Liebesebene; so fokussiert kam sie mir gar nicht in den Sinn. Das ist dann eine ganz andre Geschichte.

viele Grüße
rivus
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Re: Der Bettler

Beitragvon kokoschanell » Mi 31 Okt, 2012 20:18


hi marius,

da ich hier neu bin, freu ich mich zunächst mal sehr über ein reimgedicht, denn vornehmlich bn ich eine reimerin...
auf ein liebesgedicht wäre ich jetzt nicht gekommen, zumal im schlußvers steht:
"vielleicht stehe ich auch mal vor deiner tür".
ich lese es aber durchaus als metaphorischen bettler.
im Sinne von anerkennung in der gesellschaft, status gleichgesetzt mit glück.

ein mensch, der im leben zwar fleissig war, dann aber einen beruf hat, den keiner mehr braucht- ich denke da auch an einen schuster. gesellschaftlich ist er heute ein nichts, früher war er ein angesehener mann. heute geht man aber nicht mehr zum schuster, sondern kauft sich bei weichmann für 12 e neue schuhe...

was ich sagen will ist, dass es menschen gibt, denen heute einfach der boden der anerkennung unter den füssen weggezogen wird ohne dass sie daran schuld hätten.

zum bettler aber muss niemand werden. selbsbewusstsein- und darum geht es mir hier scheinbar in der zweiten ebene- höngt nicht nur von gesellschaftlichem status ab- meines jedenfalls nicht. liebe gehört dazu. familie, freunde.
und das wissen, dass man jeden tag noch in den spiegel schauen kann.

immer muss man kämpfen, das zu behalten, was man schon hat. jeder.
oh je, das ist ein thema zum philosophieren.

formal hast du das gedicht in klassischer form angelegt. sehr schön.
die mterik hast du nicht immer eingehalten.
wenn du hilfe brauchst oder möchtest, schreib mich einfach an. das gedicht hat potential.


lg von koko
Vielleicht stünde es besser um die Welt, wenn die Menschen Maulkörbe und die Hunde Gesetze bekämen.

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Re: Der Bettler

Beitragvon Marius Nam » So 11 Nov, 2012 18:43


Hallo Koko,


vielen Dank für dein Lob und dein nettes Angebot.

Zur Metrik: Mir liegt immer daran, einen möglichst natürlichen Satzbau einzuhalten, darunter leidet manchmal die Metrik, was ich aber nicht so schlimm finde, wenn die Melodie und der Rythmus stimmen.

Mit dem Überarbeiten von Texten habe ich es nicht so ...


Schöne Grüße von


Marius
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