Lyrik rund um das Thema Liebe

Ort mit wenig Einwohnern

Beitragvon Perry » Mi 17 Jun, 2009 10:40


Wo im einzigen Laden auch die Post verteilt wird
und die alte Frau auf der Bank in der Sonne sitzt.
Wo der Junge mit dem Stock das Eisen treibt
und Mädchenhaare beim Schaukeln hochfliegen.

Wo die Wolken sich am Kirchturm stoßen
und der Name auf dem Ortsschild unleserlich ist.
Wo der Hund die Katze ins Gebüsch jagt
und die Gänse nach nackten Waden picken.

Da war ich zuhause, bis eines Tages ein Brief kam
und mich wegholte, zu einer Lehrstelle in der Stadt.
Die alte Frau winkte, das Eisen trudelte aus
und Marias Zöpfe hingen traurig herab. Ich hab ihr

nie geschrieben.
Perry
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Re: Ort mit wenig Einwohnern

Beitragvon rivus » Do 18 Jun, 2009 01:06


Hallo Perry,

kennst du die mecklenburgischen Dörfer mit den mohikanischen Anstrichen, die sich immer weiter voneinander entfernen? Weißt du von den gierigen Baggerschaufeln, die das braune Gold unter Häuserruinen schnell weggraben, um Glockenstühle und altriechende Möbelstücke aus der Bildfläche der langsameren Wahrnehmung zu bringen? Deine Bilder bringen mich rasch in die Nähe dieser Orte, in die Zeiten handgemachter Bäckerbrötchen, von vermehlten Bäckerinnen gereicht, denen der pausbäckige Morgen einen unwiderstehlichen Duft verleiht, wie man ihn von dem einzigen Laden mit immergrünen Fensterläden kennt, der auf der bebautesten und ältesten Naturanhöhe, wo auch die Post verteilt wurde, steht. Gleich neben der Milchbank mit den vielen Einkerbungen unserer ersten Liebeserklärungen, sitzt die eine alte Frau von einem allmählich verschwindenden Jahrhundert und blickt so gebannt auf die wechselnden Jahreszeiten, die unsere Drachenzeiten immer wieder neu fixieren bis uns nur noch ein letzter Melkkannenweitwurf bleibt. Und so steig ich ab und aus deinem "Ort mit wenig Bewohnern" wird eine erwachende Sieben-Schläferbühne, die mich hypnotisiert und in eine ganz eigene Kulisse schiebt. Ich bin in deiner lyrischen Geschichte, höre das Klatschen der Postsäcke, das Aufschlagen der Briefe, sehe "die alte Frau auf der Bank", unweit den Jungen, die hochfliegenden Mädchenhaare und bin just am von den Wolken gestoßenen Kirchturm. Nur der Name
auf dem Ortsschild ist unleserlich, irritiert und dringt wie ein kleiner heller Blitz durch meine Hirnwindungen, sucht nach seinem eigenen Namen. Während "der Hund die Katze ins Gebüsch jagt" "und die Gänse giftig nach nackten Waden picken", stürze ich in das verseete Bergheide und "da war ich zuhause"!!! Aber leider vibrierte ein Rucksack im vollsten Ausbilder-Schmidt-Jargon "Morgen ihr Luschen" und ich war aufgeschreckt bereit für das Ende "bis eines Tages ein Brief kam und mich wegholte, zu einer Lehrstelle in der Stadt.", das den nächsten Ort ausortete u. wie in panischem Galopp aus den Fängen vertraut-befürchteten Bildern "Die alte Frau winkte, das Eisen trudelte aus / und Marias Zöpfe hingen traurig herab." gibt es einen Abschied "Ich hab / ihr nie geschrieben." für immer. So bin ich durch deinen Text nochmal zu meinen vertrauten Schatten zurückgekehrt und einen Schritt mehr von der Zeit entfernt worden. Jetzt bin ich an einem Ort mit keinem Menschen und doch mir sehr nah.

Danke Perry und sehr gern gelesen
(Bin,war in den Fängen deines Duktus)

Grüße, Rivus
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Re: Ort mit wenig Einwohnern

Beitragvon Perry » Do 18 Jun, 2009 10:06


Hallo Rivus,
es ist seltsam wie sich doch die Erinnerungen ähneln. Anscheinend hat jeder auf seine Art solche Bilder, die einen nie verlassen, die Ankerpunkte bleiben, bis wir einst ablegen.
Schon allein deine Reflektion war es wert, diese Zeilen geschrieben zu haben.
Danke dafür und LG
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Re: Ort mit wenig Einwohner

Beitragvon Ruelfig » Do 18 Jun, 2009 18:24


Hallo Perry,
deine Zeilen hinterlassen mich ein wenig zwiegspalten. Die Stadt, aus der ich komme, führt immerhin ein "dorf" im Namen und tatsächlich gab es in den 50/60ern, als ich dort aufwuchs, noch Reste dörflicher Strukturen. Die Frauen trafen sich in der Waschküche, im Herbst wehte der Geruch von Kartoffelfeuern vom Stadtrand, der Lebensmitteleinzelhändler bot am Samstag aus der Eifel geholte, riesige Brote an, die Milch gab es lose in die Kanne und wir spielten, sommers wie winters, auf der Straße oder im zerbombten Zoo. Meine Maria hieß anders, und noch heute bin ich froh, dass ich dort weggekommen bin, in ein anderes, städtisches Leben. Die Erinnerungen bleiben natürlich süß, aber wie alles gezuckerte sind sie auch gefährlich für die Seele. Hätte ich mir an einem solchen Leben nicht die Zähne ausgebissen? Trotzdem danke ich dir für eine kurze Rückführung in ein früheres Leben ohne Telephon, Internet und mit wenig Maschinen. Mickymauslesend in Gebüschen, für fünf Pfennig Bonbons zum Sattessen dabei.
Aber nun zu etwas komplett anderen...
Gerne gelesen, du Meister der Erinnerung.
LG,
Ruelfig
P.S. Ort mit wenig Einwohner(n)
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Re: Ort mit wenig Einwohner

Beitragvon Perry » Do 18 Jun, 2009 22:47


Hallo Ruelfig,
schön, dass meine Zeilen Erinnerungen wecken konnten.
Dass ein solcher Rückblick zwiespältige Gefühle hervorruft ist verständlich. Mir ging es auch weniger um eine Verherrlichung des Dorflebens, sondern um den Gedanken, was wäre gewesen, wenn ich mit ihr Kontakt gehalten hätte. Vielleicht wäre sie nachgekommen in die Stadt usw. Letztlich lässt sich die Uhr nicht zurückdrehen und es bleibt ein Gefühl von Wehmut.
Danke für deine Reflexionen und LG
Perry
PS: Was den Titel anbelangt hatte ich auch schon deine Variante und auch noch folgende "Ort mit wenigen Einwohnern." Aber gibt es überhaupt eine Mehrzahl bei Einwohner?
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Re: Ort mit wenig Einwohner

Beitragvon Ruelfig » Do 18 Jun, 2009 22:49


Hallo Perry,
die Einwohner sollten schon im Plural stehen.
Grüße,
R
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Re: Ort mit wenig Einwohner

Beitragvon Perry » Mo 22 Jun, 2009 13:27


Hallo Ruelfig,
gut dann spendier ich ihnen noch ein "n."
Danke und LG
Perry
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