Lyrik rund um das Thema Liebe

abgespult

Beitragvon Niko1230 » Di 04 Aug, 2009 17:20






abgespult


und dann holen wir
wieder die alten filme
aus dem eisfach
schwarz- weiß mit gefrierbrand
auf dem zelluloid
das gerissene
kaum erkennbar
bleibt das unsichtbare
unbelichtet

wir sind karfreitag
fleischlos und: schmerz

selbst in den schößen
liegen keine schlüssel
(ein bach fließt nie zur quelle)
unter der oberfläche
strudelt die angst
vor dem sprung
Die Selbstzerstörung findet im Geheimen
und trotzdem vor dem Leser statt.
(Günter Kunert)
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Re: abgespult

Beitragvon Drehrassel » Mi 05 Aug, 2009 09:49


eigentlich bin ich nicht sehr empfänglich für eine solche syntaktisch-grammatische struktur in versen: wer? "und dann holen wir" - was denn? "wieder die alten filme" - und, woher? "aus dem eisfach"... / aber hier, wenn man die form des gedichtes insegesamt betrachtet, finde ich es gelungen. die sprache ist eine sehr schlichte, unaufdringliche mit leisen anflügen ältere liedhafterer gedichte "und dann holen wir", schön austariert mit dem nüchternen blick und schnörkellosen duktus eines rolf dieter brinkmann z.b. (nur so ne aussoziation, mag ich jetzt nicht näher begründen) - eine mutige feine melange also.

im ganzen wirkt das gedicht wie ein triptychon. drei erstmal völlig für sich selbst stehende bilder, welche in einer wiederum ganz sachte und langsam etwas metaphorischer werdenden sprache erscheinen. eine mögliche doppelte ebene oder so etwas, das man vielleicht "bedeutsamkeit" oder "sentenzhaftigkeit" nennen könnte, im ersten abschnitt deutet sich unaufdringlich an die letzten vier versen:"das gerissene / kaum erkennbar / bleibt das unsichtbare / unbelichtet". diese zeilen beharren auf eindrückliche weise auf das eingangs erföffnete motiv des gangs zum eisfach, worin alte filme lagern, gerissene und gefrierbrand geschädigte (der einzige begriff, der hier nicht ins bild zu passen scheint, der aber vorwärts weist auf die wunderbare zweite strophe) einerseits und eine gleichsam durch sie hindurch "raunende stimme des geheimnishaften, ahnungsvollen". -

dann die zweite strophe. was soll ich sagen? so kurz sie ist, ich finde sie klasse! "wir sind karfreitag / fleischlos und: schmerz". hier wird also plötzlich doch metaphysisch. karfreitag, der tag der trauer und klage um christi tod am kreuz. - so unvermittelt dieser neue themenbereich im gedicht auch kommt, die unbekümmertheit der sprachlichen vermittlung, die nonchalant wirkt, aber DENNOCH nüchtern, verhalten, ganz ohne allüren, ernst gemeint, ohne hohles pathos, - - - gefällt!

die dritte strophe verliert an dieser zwingenden bildhaftigkeit und kraft wieder. hier herrscht der versifizierte aphorismus vor. mal etwas kautzig-schwül erotisch "selbst in den schößen / liegen keine schlüssel", dann wieder angereichert mit etwas verbrauchten vergleichen "(ein bach fließt nie zur quelle)" und "unter der oberfläche / strudelt die angst". - das mag mich sprachlich nicht so erreichen wie etwa die stärksten passagen aus der ersten oder die ganze zweite strophe (also diese beiden zeilen )... sonderbarerweise aber kann ich diese dritte etablierte aussageweise des gedichtes, hier an seinem ende, nicht einmal deplatziert finden. irgendwie scheint das da hin zu gehören. frag mich nicht, wie du das geschaffst hast :D / stünden diese strophe für sich in einem eigenständigen gedicht, würde ich sie wohl sicher verreißen. -

so aber hast du, niko, ein eigensinniges launiges, rätselhaftes gedicht geschrieben, welches in seiner formalen ordnung steht und mit bedacht gefügt scheint. / hat was.

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Re: abgespult

Beitragvon rivus » Mi 05 Aug, 2009 09:51


hallo nico,
dein text ist angespult. es kann also wieder los gehen ;) mit den guten alten 8mm-filmen, wenn uns nicht das gerissene einen streich spielt. ich finde diese schwarz-weißen bilder gar nicht mal so schlecht, denn sie fokussieren das zu betrachtende, selbst die bewegten szenen auf eine polarisierende art u. weise. nun weiß ich, dass auch nur fein angerissene filme weiter laufen können, die dann kuriose flimmereffekte hervorrufen, die ans surreale erinnern. durchgerissene filme können wieder eingefädelt werden u. somit kann das schauvergnügen weitergehen, obwohl ausschnitte fehlen, wie bei filmrissen ;) . (die auf haltbarkeit achtenden lw sind nach dem gefrierbrand ihrer dauerbeziehung vielleicht bedacht auf auffrischung ihrer schwarz-weißen erinnerungen, um schuldgefühle zu entlasten oder die konservierten gefühle zu befreien ...)

schwierigkeiten habe ich mit "das gerissene / kaum erkennbar / bleibt das unsichtbare / unbelichtet:
was meinst du damit? ein film, der vorführbar ist, ist doch filmtechnisch belichtet. was der film nicht zeigen kann, sind die vom kameramann & der technik nicht wahrgenommenen bilder, die natürlich dadurch unsichtbar bleiben und so auch nicht belichtet werden können. aber gerade um das nicht wahrgenommene, kaum erkennbare geht es wohl, das uns leser ans abgespulte lebensgefühl der lw führt, zu den anfängen, zu dem für die lw nicht nachvollziehbaren, nicht analysierbaren status quo:

"wir sind karfreitag
fleischlos und: schmerz"

dermaßen blind fühlt sich das lw in einem deprivierten karfreitag-dauerzustand. die körper bekommen keine vollwertige kost mehr und werden nur noch als schmerz wahrgenommen. (das lw sehnt sich regelrecht nach erlösung und vergebung ob seiner gewissenkonflikte und unfähigkeiten)

doch scheinbar ist alles hoffen umsonst und die situation ziemlich vertrackt u. aussichtslos :
selbst in den schößen
liegen keine schlüssel

denn die trotz oder gerade wegen der emotionalen mangelzustände vollzogenen körperlichen vereinigungen und einsseinsuchen brachten keine seelischen beruhigungen. es gab keinen schlüsselfund für eine heilere, emotional klarere welt und kein zurück in die geborgenheit eines mütterlichen schosses. "(ein bach fließt nie zur quelle)" . was bleibt ist die angst (besser wäre aus meiner sicht bezüglich der lw-ebene: "unter der oberfläche sprudeln die ängste") unter der oberfläche, die den sprung aus der lw-falle nicht wagen lässt.

resümee
ich sehe ein gequältes, von schmerzen und mängeln geplagtes lw , das sich scheut einen neuanfang zu starten.


gern gelesen

grüße, rivus
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Re: abgespult

Beitragvon Niko1230 » Fr 07 Aug, 2009 07:26


also ihr beiden.......
.....ich weiß gar nicht, was ich schreiben soll.... eure ausgefeilten kritiken, die mich, mein gedicht auch noch gut aussehen lassen, überwältigen mich. das gibt dem gedicht eine viel höhere wertigkeit, als es vielleicht verdient. ich selbst finde "abgespult" nicht einmal besonders gut.
darf ich mir das ausdrucken?
hach...................
sprachlose grüße: Niko
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Re: abgespult

Beitragvon Perry » So 09 Aug, 2009 11:06


Hallo Niko,
ich kann mich im Großen und Ganzen meinen Vorkommentatoren nur anschließen, da ist dir wirklich ein beeindruckendes Abbild eines "Beziehungstrauertages" gelungen.
Woran du noch arbeiten könntest ist die Karfreitagmetapher, denn die gibt mehr her als "fleischlos (gilt übrigens für alle Freitage)" und vorallem den doch sehr allgemeinen "Schmerz."
Auch das Bachbild finde ich etwas ungenau. Strudel sind an der Oberfläche zu sehen und wer soll den Sprung wagen ins Wasser (beide) und dann etwa zur Quelle schwimmen.
LG
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Re: abgespult

Beitragvon Niko1230 » So 09 Aug, 2009 14:03


naja, perry... so weit wie die bayern sind nicht alle deutschen. es wird dann doch zumeißt an freitagen fleisch gegessen. zumal auch bei religionen, die christlich sind, aber nicht katholisch. und wir katholiken sind ja nicht der nabel aller christen! mit dem karfreitag jedoch kann jeder christ und auch viele nicht-christen (zum beispiel die ausgetretenen christen) dann doch etwas konkreter anfangen.
und du hast recht: strudel sind an der oberfläche zu sehen. was jedoch nicht ausschließt, das strudel nicht nur dort sind, sondern das sichtbare nur ein teil des ganzen (wie bei den eisbergen) und wenn es unter der oberfläche strudelt, ist der strudel noch nicht heftig genug, als dass er sichtbar wäre. und genau das habe ich ausdrücken wollen.
wer den sprung wagen soll? hm.....ich denke mal, das bleibt dem leser überlassen. ich mag 1:1 gedichte nur selten schreiben. ich versuche so zu schreiben, das der leser immer aus sich selbst heraus ein vorskizziertes bild selbst ausmalen will / muss.
lieben gruß: Niko
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Re: abgespult

Beitragvon Anne Elk » So 09 Aug, 2009 17:40


Hallo Niko,

es wurde ja schon viel geschrieben, doch etwas Senf will ich auch noch hinzufügen:
Die ersten zwei Strophen haben mich sehr angesprochen, v.a. das Karfreitags-Bild. Aber auch das Thema und die Umsetzung insgesamt. Für mich wäre es ausreichend, wenn es die dritte Strophe gar nicht gäbe.

Irgendwie erinnern mich Deine Zeilen sehr an manche Liedtexte von EA 80 - sagen die Dir was? - was durchaus als Kompliment gemeint ist.

Viele Grüße von mir!
A.E.
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