Beschreibung von Natur und Umwelt

undicht bestückt

Beitragvon Drehrassel » Di 17 Feb, 2009 00:51


1 riffäugiger blick im mörteltal aus
fluss u. braunem nichtzucker
gemeistert am fuße damals geschwängerter
mauern

u. an zäunen ordentlich abgehangen
mit der ollen
kandierten träne in einer tüte granitmehl

da kauert der draht
u. erblindet
dreimal selig, wer einen namen einführt ins lied!
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Re: undicht bestückt

Beitragvon Drehrassel » Di 17 Feb, 2009 17:43


geliebtes hirn! mein droog! - nun, ich werde ganz bestimmt nicht anfangen, mein gedicht hier zu erklären. es gibt, nebenbei gesagt, auch nicht sehr viel zu erklären. es ist so... ich gehe immer konzeptionell an ein neues gedicht heran, und in diesem fall waren meine formalen und inhaltlichen vorgaben sehr streng. es fiel mir ungeheuer schwer, dieses stück literatur überhaupt für "machbar" zu halten. aber um wieviel schwerer musste es mir erscheinen, es tatsächlich zu beginnen und zuende zu führen?! - zwei dinge behielt ich während des schöpferischen akts in meinen nur dem schönen, gelungenen gedicht verpflichteten argusaugen: 1. kein ziel! - 2. keine ideen! - / das mag jetzt vielleicht etwas verworren, etwas unnachvollziehbar klingen... dennoch! lass es dir gesagt sein, es steckt eine ganze bibliothek hinter diesen beiden imperativen! das ist die quintessenz all meiner studien, all meiner literarischen versuche, all meiner sehnsucht danach, das "unsägliche" zu sagen, eins zu werden mit einem "großen gesang", wie es rilke vielleicht ausgedrückt hätte. /
gut. zu deinem lob der ersten beiden sinnabschnitte (nicht strophen!) und dem tadel meines abschließenden couplets: ich sehe das ganz anders als du. interessant zwar, was du als begründung deiner urteile anführst, aber leider überzeugst du mich damit nicht. nein, nein! das habe ich alles sehr bewusst gestaltet; es kostete mich tage, ja eine ganze geschlagene woche, mich wort für wort, silbe für silbe heran zu arbeiten an das, was du so en passant "haltlos", "willkürlich" und "was für ein teeniegedicht" nennst. ich bin dir deswegen nicht böse. das musst du nicht befürchten. nein, nein. ich weiß, dass du dir mühe gemacht hast, mein werk zu rezipieren, es nach zu fühlen bis in seine tiefsten inneren bezüge und strukturen hinein. ich weiß, dass du ein sehr aufmerksamer und gebildeter leser bist. darum mache ich dir keinen vorwurf, dass du diesmal vielleicht keinen so guten tag erwischt hast, ein bisschen unkonzentriert gewesen bist. das kommt schon mal vor. mir geht es oft ganz genau so. aber... weißt du? also, den vorwurf der willkür kann ich nicht stehen lassen. was, bitte schön, sollte ein gedicht sein, wenn nicht ganz ganz willkürlich? alles ist hier bis in die kleinsten strukturellen elemente hinein abgewogen. mein skrupel, den ich bei jedem einzelnen "u." oder "da" hatte, war schier unermesslich. ich bin tausend tode gestorben, bis ich diese - und nur diese! konstellation von versen, sätzen, syntagmen und zeilenumbrüchen hatte, wie du sie nun oben lesen kannst. ich will nicht übertreiben; aber das waren wohl die schlimmsten sieben tage meines lebens, die ich für "undicht bestückt" brauchte. weiter! du kritisierst ausgerechnet allen ernstes das wichtige deikitische wörtchen "da"?!? - intimhirn! weißt du, was passierte, nähme ich dieses "da" an dieser stelle weg? kannst du dir das vorstellen? das ganze gedicht fiel in sich zusammen. die eigentliche pointe ginge mit einem mal verloren. denn dieses "da" weist aus dem rahmen dieses textes hinaus. auf raffinierte weise gelang es mir mit dieser origo und dem finalen deiktischen wörtchen "da" eine autoreflexive, eine poetologische aussage zu treffen; an diesem punkt trennt sich der empirische autor vom werk. er sagt: "da!" (nicht "hier"!) kauert der draht... eine meiner meist genutzten chiffren (gut, das kannst du nicht wissen), welche ich immer dann anbringe (merk dir das für andere spätere kommentare), wenn es um gesang ("singende drähte") und poesie geht. und genau deshalb - jetzt kommen wir zu kritikpunkt 3 - muss der draht auch kauern und erblinden: diese ambitionierte personifikation hat nun wahrlich nichts zu tun mit bildfeldern etwa eines "teenie-gedichts" (das sollte jemand mal definieren, bitte sehr!), auch ist dies keine larmoyanz, welche meinem textsubjekt zu zuschreiben wäre. damit hat das alles nichts zu tun. nein, es ist der ausdruck (du erinnerst dich? der draht stand ja für den "großen gesang" und die poesie) synästhetischer transzendenz und sprachskepsis, welchen ich - zugleich historisch/literar-historisch - habe allegorisch verdichten wollen. "kauert"... wie der einsame soldat im schützengraben, ringsum (dewegen habe ich das gedicht auch in die rubrik "panoramen" gestellt), ringsum nur tod und verderben. die katastrophen des 20. jahrhunderts. der erste und der zweite weltkrieg. und! der verlust der subjektivität des modernen menschen. sein letztes schicksal: transzendenz ins nichts, in die leere, wie es der philologe hugo friedrich ausgedrückt haben könnte. oder gottfreid benn oder so. zu guter letzt handelte es sich im schlussvers auch um einen intertextuellen verweis, nämlich auf das vielleicht bekannteste gedicht august stramms (1915 gefallen im weltkrieg) "patrouille": "die steine feinden / fenster grinst verrat / äste würgen / berge sträucher blättern raschlig / gellen / tod." - mit diesem hinweis auf referenz-literatur möchte ich gerne ersteinmal halt machen. es gibt viele wege, sich einem solchen intellektuellen gefüge zu nähern, wie ich es hier vorgelegt habe. auch dir gestehe ich deinen ganz eigenen zugang zu meinen versen zu. ich glaube, das muss so sein. in der lyrik. in der kunst überhaupt. danke dir für deine lieben bemühungen.

gruß,
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Re: undicht bestückt

Beitragvon Drehrassel » Mi 18 Feb, 2009 14:38


hallo, Ghandi.rLp,

"rumwerkeln"? "widerspruch"? "nichts zum mit-nach-hause-nehmen"? - also also! du scheinst mir den wald vor lauter bäumen nicht zu sehen. der begriff der "idee" hat eine lange geisteswissenschaftliche prägung und sollte bitte nicht verwechselt werden mit so etwas wie "plötzlicher einfall" oder so. das nur mal am rande. aber auch wenn man seine umgangssprachliche bedeutung heranziehen möchte, kann ich deinen einwand nicht verstehen. kann es etwas spontaneres geben, als die geradezu zum dogma erhobene ziellosigkeit? den willen, jede sich auch nur durch tausend heimtückische hintertürchen einschleichen wollende inkubation eines urbildes (eidos) kurzerhand auszumerzen, solange dies auch nur menschenmöglich scheint? wie der sagenhafte ritter von der traurigen gestalt also anzureiten gegen kohorten sich ewig drehender windmühlenräder? nun gut. naja. und, dass du meine ausführungen zu intimhirns kommentar missverstehen konntest als das arbeitszeugnis eines selbstgenügsam vor sich hin knittelnden und knüttelnden, grübelnden und schwurbelnden feierabendfauns, teilzeit-poetasters will ich dir nicht zum vorwurf machen. bring it on home, Gandhi.rLp! /
ich weiß, ich mach es mir nicht immer einfach, mit mir selbst, mit meiner lyrischen arbeit. manche meiner engsten vertrauten sagen sogar, ich opfere mich auf - für die kunst. und manchmal habe ich angst, daran zugrunde zu gehn. aber ist es nicht im endeffekt das, was wir alle in uns spüren? was wir wollen? was wir müssen, wenn wir mal ehrlich sind? eine unbändige leidenschaft, eine passion - also im wahrsten sinn des wortes! - für die wenigen momente im leben, in denen uns auch nur mal eine handvoll bedeutsam-schöner verse gelingt? sag selbst! - und... ist es nicht so... dass... also, wenn es uns einmal (einmal!) gelungen ist, das innerste aus uns heraus zu... pressen, zutage fördern, was da schon so lange keimte, wuchs, brütete... wie soll ich sagen? - wenn es also nun endlich vor uns liegt, dieses unschuldige ding, dieses... also, man kann ja schon fast sagen: dies kleine wesen; - wenn es nun da liegt und wenn wir es betrachten, zum ersten mal, ohne dabei das gefühl zu haben, es könnte uns noch vor beendigung unserer arbeit - mitten auf dem langen harten weg unserer bemühungen - ganz und gar entgleiten und verderben und misslingen und was weiß ich noch alles! wenn wir es also endlich fertig haben, wenn wir jeder einzelnen silbe eine solche unfassbar tiefe bedeutsamkeit haben "einhauchen" können, dass wir uns kaum noch trauen können, es selbst zu lesen (mögen andere ihre interpretationen machen! dies oder das betonen! glauben, sie kämen mit ihrer verstandesmäßigen analysen und allegoresen und exegesen und wie das alles heißt! hermeneutik-hurra! glauben, sie könnten den stein der weisen mit löffeln lutschen! ach, was! o weh! - nun gut...) / ach, jetzt habe ich mich etwas in meinen satzmonstern verheddert. zut! - siehst du? schon wieder ist es mir passiert: "1. kein ziel! und 2. keine ideen!" - naja, und dies spannungsverhältnis aber ist es ja gerade, welches mir die energie verleiht, überhaupt an sowas nur zu denken: künstler sein. poet. homo ludens-leck-mich-am-arsch. verstehst du mich? ich meine, dies spannungsverhältnis ist es, das mich... auflädt, auflädt mit begeisterung... mich auf-zieht wie eine drahtfeder, dass ich mich biege wie ein bogen, dass mir die worte von der zunge fallen wie das launische gebrabbel einer fiebernden pythia! -
gut, "nachvollziehen zu 100%" kann das - da gebe ich dir recht - wohl niemand so schnell. meine intention. des nichts. nichts. nichts.
dank dir, Ghandi.rLp... für was auch immer. aufmerksamkeit oder so. bis dann mal wieder.
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Re: undicht bestückt

Beitragvon Antibegone » Mi 18 Feb, 2009 19:49


Huhu Drehrassel :-)


Ich möchte mich mal ganz vorsichtig und sanft deinen Zeilchen widmen. Meine Ausführungen werden wohl leider etwas chaotisch werden, woran glaube ich aber nicht nur mein eigener verworrener Geisteszustand Schuld ist ;-)

Wo du es schon sagst, Pytia – kommt von puntanomai (gr.) fragen. Ja, das ist, was dein Gedicht tut: Fragen. Leider fehlt ihnen, wie bei Pytias Visionen, zum Tei der innere Zusammenhang, finde ich.
Vielleicht war es das Problem meinerseits, ihn finden zu wollen. Das schließe ich nicht aus. Dennoch: Deine Wörter ergeben für mich persönlich keine Einheit. Insofern kann ich auch eher wenig damit anfangen. Der Versuch es trotzdem zu wollen – schwierig. Aber wer sich aufs Glatteis wagt, muss damit rechnen, dass ihm jemand folgt ;-)

„undicht bestückt“

Zu undicht fällt mir zuerst „offen“ ein, im weiteren Sinne „geöffnet“.
Die Negation un – dicht, weist mich hin auf nicht – zucker, drückt für mich eine Art „Nichtexistenz“ aus, was mich auf den zweiten Teil von „un – dicht“ hinweist: dicht, dichten, dichter. Kann man etwas undichten? „Bestückt“ – okay, was ist bestückt? Keine Ahnung. Das Wort will sich mir gar nicht erschließen. Vielleicht von „Stück“ im Sinne von „Werk“? Ein ungedichtetes Werk, maybe, maybe, let’s see.

„1 riffäugiger blick im mörteltal aus
fluss u. braunem nichtzucker
gemeistert am fuße damals geschwängerter
mauern“

Um mich ganz langsam „heranzutasten“, habe ich begonnen Wortfelder zusammen zu basteln. Mir fallen die Worte um „Stein“ auf: „Mörtel“, „Riff“, „Mauer“ ( geht ja auch weiter mit: „granit“) das sind viele „harte“ Wörter auf einmal, kommt mir beinahe etwas brutal vor, vielleicht auch einfach im Sinne von „erstarrt“ oder „leblos“ (ich glaube, leblos gefällt mir am besten)
Dann die Verbformen: quite strange. Alles Perfekt. Die ersten beiden Strophen (ob’s man’s Strophen nennen will, ist Interpretationssache, ich nenne es Mal aus praktischen Erwägungen so) stellen für mich eine resultative, rückblickende Handlung dar. Der „Riffäugige Blick“ ist Objekt dessen. Er kommt für mich als einziges in Frage, weil einziger Nominativ. Obwohl man die Handlungen sicher auch anders beziehen könnte, aber mir erscheint es so am logischsten. (Obwohl das mit der Logik auch so eine Sache ist, das sehe ich ein …)
Okay, let’s have a try with it. “Riffäugiger blickâ€
Drehrassel: "Als Lyriker sollte man eine ahnende Checkung haben, von dem, was man da macht."
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Re: undicht bestückt

Beitragvon Ruelfig » Mi 18 Feb, 2009 22:50


Hallo Drehrassel,
Mörtel, Mauern, Granit: ein steinhartes Thema. (Nicht)zucker, kandiert, erblindet: Diabetes. Die ollen Füße wollen dann auch nicht mehr so richtig, der Draht, der die Sache zusammenhalten sollte, tut seine Pflicht nicht mehr (erblindet).
Metrisch mag ich das Stück nicht, es scheint mir zu zerhackt und 1. (erstens), u. und u. wirken mir zu affektioniert. Ich finde, dass die Verwendung von Sonderzeichen verweisen sollte auf Besonderheiten. Das ist für mich hier nicht der Fall.
Einzelne Passagen gefallen mir durchaus, aber der Gesamteindruck ist wischiwaschi. Es liest sich wie ein einfach mal runtergeschrubbtes Gedicht zu verschiedenen Themen. Wobei " da kauert der draht
u. erblindet" Klasse hat, eine gewisse Wortgewalt, die ansonsten, verzeihe meine Nörgeligkeit, nicht aufzuscheinen scheint.
LG,
R
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Re: undicht bestückt

Beitragvon M.C.Bertram » Mi 08 Jul, 2009 15:04


...schließe mich Ruelfig an.

Merkwürdigerweise kann ich den letzten Satz dieses Oevres nach 1 x lesen
auswendig und habe nicht den leisesten Schimmer wieso. Irgendwas hat`s...
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