Pessimistische Lyrik

Nachtfahrt

Beitragvon Perry » So 03 Mai, 2009 18:28


Auf den Feldern liegen Schneereste,
reflektieren das Scheinwerferlicht
wie erschreckt aufgerissenen Augen.

Das Blut im halbgeöffneten Mund
schmeckt nach süßsaurem Kompott,
erzählen deine angstvollen Blicke.

Lichtkegel bohren sich in den Nebel,
ziehen gleich einem Schimmelgespann
das Auto die gewundene Straße entlang.

Tiefhängende Äste, blinkende Schranken,
verweisende Schilder und Streifen,
alles schien sich verschworen zu haben.

Endlich die Auffahrt zur Ambulanz,
sie heben dich auf die Krankenliege.
Meine Hände umklammern das Lenkrad,

Gedanken irren ab in die Dunkelheit.
Perry
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Re: Nachtfahrt

Beitragvon M.C.Bertram » So 12 Jul, 2009 15:37


Schneereste suggerieren das Ende des Winters zu Beginn unseres Kalenderjahres. Nur wer stark genug ist, hält durch bis zum Frühjahr. Erschreckt aufgerissene Augen spiegeln ein Erkennen des nahenden Endes wie auch der angstvoll geweitete Blick. Wir wissen nach der ersten Strophe, das kein Morgen anbrechen wird.
Der Geschmack nach Essen widerspricht einem Hungertod. Gab es einen Unfall? Das Opfer wird auch eine gewundene Straße entlang begleitet. Das Bild des Schimmelgespanns ist vieldeutig. Pferde wären meistens freundliche Archetypen, denn als Psychopompos, Seelenführer, kennen sie den Weg. Heißt hier Schimmel den zukünftigen Zerfall unserer - beider - sterblicher Existenz? Gemeinsam in den Tod?
Gedichte sollen sich dem Leser erschließen, aber sie müssen sich nicht selbst erklären. Bis jetzt ist die Symbolik für mich einigermaßen stimmig. (Nur bohrende Lichtkegel vertragen Nebelpferde schlecht.)
Die Zeit reicht nicht. Alles wirkt wie ein Hindernis. Das Gefühl hat sich längst eingeschlichen, dass alle Zeit der Welt nicht genügt, denn das Auto wird schon von dem genannten Schimmelgespann in eine andere Sphäre gezogen.
Der Schluß beinhaltet einen Zeitbruch: die Auffahrt kommt in Sicht, das Unfallopfer wird ausgeladen, wieso hat das LI jetzt das Lenkrad in der Hand? - Um so die Realitätskontrolle wieder zugewinnen, schon klar, aber die Sinnebene der alltäglichen Handlung scheint gestört. (Oder parkt es das Auto weg?) Diese Art von Irritation bricht die Stimmung.
Gedanken in die Dunkelheit abirren zu lassen, harmoniert mit der bereits thematisierten paranoiden Verarbeitungstendenz. Aber wenigstens ein Gedanke könnte noch genannt werden, der diesen Trend verfolgt.
Der Schluß läßt offen, was aus dem LI wird. Ich favorisiere seinen Kollaps auf dem Weg hinter der Trage, dann stimmt das Bild mit dem Gespann wieder. Das Auto würde ich kaputt sein lassen, das legt einen Unfall nahe und schafft für die zu langsame Fahrt ein Verzögerungsmoment.
eventueller Tippfehler: I V3 aufgerissene(n)
gern gelesen Gruß mcb
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Re: Nachtfahrt

Beitragvon Perry » So 12 Jul, 2009 19:58


Hallo Bertram,
danke für deine persönliche Textinterpretation.
Mit dem Schreibfehler hast du natürlich Recht, ansonsten gehen unsere Inhaltsvorstellungen ein wenig auseinander.
In der realen Bildebene transportiert das LI eine verletzte Person ins Krankenhaus. Die Hintergründe und das Ende bleiben bewusst im Unklaren und lassen dem Leser Freiraum zur eigenen Interpretation.
Die Fahrt verläuft ähnlich düster wie der Ritt des Erlkönig, deshalb auch die Schimmel in Gestalt der Autoscheinwerfer. Ansonsten scheint sich die Welt tatsächlich gegen das LI verschworen zu haben, deshalb auch das sinnend offene Ende.
LG
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Re: Nachtfahrt

Beitragvon M.C.Bertram » Mo 13 Jul, 2009 20:44


Hi Perry,
du beschäftigst dich sicher schon viel länger mit Lyrik als ich. Bei allem Respekt, ich werde den Eindruck nicht los, daß ich dein Werk vor dir in Schutz nehmen muß.

Folgendes glaube ich verstanden zu haben: Eine narrative Ballade verweilt dem Schwerpunkt nach in der Erzählung, steht also den Prosatexten näher. Dagegen bewegen sich abstrakte, als modern empfundene Formen hauptsächlich auf einer symbolischen Sprachebene. Durch einen Bruch auf der Handlungsebene als einem Stilmittel auf diese Metaebene zu verweisen, gilt als legitim.
Viele Gedichte bewegen sich parallel: d.h. eine symbolische Sprachbedeutung beleuchtet stellenweise eine in sich stimmige Handlungsfolge und überhöht sie.
Auch deine Werke fasse ich so auf. Hinter einer korrekten Abbildung der äußeren Welt scheint die Symbolebene durch.
Während die Handlungsebene (Weltzeit) eine Folgerichtigkeit in Kausalzusammenhängen nicht verläßt, entwickelt sich die parallele Symbolebene (Traumzeit) mit einander ergänzenden Methaphern.
Denn der berüchtigte Zahn der Zeit, der schon manche Träne getrocknet hat und über Wunden Gras wachsen läßt, nervt auf der Symbolebene, aufgrund seiner gemischten Metaphorik, als ein lyrischer Alptraum.

Darf ich auf deinen Text noch einmal Strophe für Strophe eingehen?

Weltzeit: Felder - Schneereste - Scheinwerferlicht.
Traumzeit: Ende des Winters - Lichtreflexe - erschreckt aufgerissene Augen

Weltzeit: Blick - Blut im halbgeöffneten Mund - (süßsauer vermag ich nicht zuzuordnen)
Traumzeit: Angst - Kompott (Metapher ohne erkennbaren Bezug auf Symbolebene)

Weltzeit: Lichtkegel - Nebel - gewundene Straße.
Traumzeit: bohren - ziehen gleich einem Schimmelgespann.
Nein, wirklich schlimm finde ich das nicht, aber erhebend eben auch nicht.

Weltzeit: Äste - Schranken - Schilder - Streifen
Traumzeit: Symboleben von “tiefhängendeâ€
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Re: Nachtfahrt

Beitragvon Perry » Di 14 Jul, 2009 09:22


Hallo Bertram,
warum zusetzten? Ich hatte meine Vorstellungen beim Schreiben, die ich hier nur preisgebe, um dir ein Feedback zu geben. Ansonsten darf und soll jeder seine eigenen Reflexionen haben. Wenn ich wollte, dass meine Texte so ankommen wie ich sie gedacht habe, würde ich einen Roman oder besser noch einen Tatsachenbericht verfassen.
Danke für die intensive und interessante Aufschlüsselung und dein Interesse.
LG
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