Pessimistische Lyrik

geteiltes leid

Beitragvon Perry » So 12 Jul, 2009 10:33


auf dem fluss treiben stämme.
dein blick klammert sich an sie,
als wären es strohhalme,
die dich ans rettende ufer tragen.

auf dem weg liegen blätter.
der wind hat sie den bäumen
von den zweigen gefegt.
jetzt stehen sie frierend am rand.

du reißt deinen umhang in streifen,
legst sie um ihre kahlen hälse.
hoffst, dass sie dir einst floß sind,
wenn du über den jordan gehst.
Perry
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Re: geteiltes leid

Beitragvon rivus » Sa 18 Jul, 2009 00:36


ach perry, dein text kommt feinsinnig daher. das geteilte leid klammert sich auch an den leser, der an den bildern teilhaben kann. ein hoffnungsloses, leidendes, klammerndes ld mit tunnelndem blick an einem ufer nicht aushaltbarer wirklichkeit, der stämme als strohhalme treiben sieht, die das ld ans andere, rettende ufer bringen könnte. aber können diese stämmigen strohhalme tragen? hat das ld nur eine kontemplative kraft, die zwar visualisieren kann, aber sich im vorstellen können schon verausgabt, so dass nur ein für das ld hoffendes li die sehnsucht auf rettung quasi stellvertretend ans andere ufer tragen kann? oder vermittelt diese erste strophe ein vorübergehendes verzagen, das durch einen traurigen augenblick das ld im unbeweglichen, unveränderbaren belässt, um es im weiteren verlauf wachzurütteln und auf den vielleicht noch möglichen weg zu bringen? auf diesem weg liegen aber schlichtweg blätter, die der wind poetisch „den bäumen von den zweigen gefegt hat“ als ob - so hofft jedenfalls der leser - beppo, der glückliche straßenfeger seine hände im spiel hätte! doch finden wir nur frierende (bäume) am rand. das ld findet weder im mittelnden mittelteil des gedichtes, noch in deren mitte, nicht mal am rand statt und hinterlässt ein horror-vacui-gefühl. in der dritten strophe regt sich fast unvermutet das ld aus einem unsichtbaren stillstehen und stemmt sich im aufblitzenden bewusstsein des „geteilten leides“ mit dem glauben an der kraft der schicksalsgenossenschaft zu einer samaritertat, die die immer noch bestehende passive geisteshaltung für einen moment des aufbegehrens unterbricht. leider gilt dieser vermutete widerstand gegen das scheinbar trostlose schicksal nicht der rückkehr zum aktiven leben mit hilfe eines verbündeten, sondern der vorbereitung auf das endgültige kaputtgehen und sterben. was nun fräsend bleibt, ist das vielfach geteilte leid.

sehr gern gelesen

lg, rivus
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Re: geteiltes leid

Beitragvon Perry » Sa 18 Jul, 2009 14:31


Hallo Rivus,
du hast es gut herausgelesen, dass das LD bereits am Ende seines Weges angekommen ist und nicht mehr das Spiel mit den bunten Blättern sucht, sondern Ausschau hält nach Hilfe für die anstehende Überquerung des Flusses. Es sucht nach Strohalmen und die Bäume sind hier sowohl im übertragenen Sinn, als treibende Stämme aber auch real als Leidensgefährten ein Halt. Wie der Heilige Martin, versucht es durch eine gute Tat sich das Schicksal gewogen zu machen, bevor es über den Jordan geht.
Danke für dein intensives Hineinspüren und LG
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