Für alle Gedichte, die zwischenmenschliche Beziehungen behandeln - mit Ausnahme der Liebeslyrik

letztlich

Beitragvon Friederich » Sa 13 Feb, 2010 15:18


und im schneegerinn plötzlich ein
wiederseh: ein aufwirbeln verwelkter
blicke dorren! ziellos durch knappe
worte abwärts in nass -

............schon als wir uns atmeten wir
............selten ein staunen an lippen
............irrten und wollen wagten durchs
............haar da dämmerte es da dämmerte

der tag schleust sich in den horizont
und überlässt den abend dem still:
L'avenir, on ne l'attend pas comme on attend le train. L'avenir, on le fait. (Georges Bernano)

Friederich

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rivus (Di 17 Mai, 2011 18:56)
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Re: letztlich

Beitragvon Neruda » Mi 17 Feb, 2010 18:30


Hey Friederich,

ein wirklich schöner Text, schafft viel Atmosphäre und hat wirklich interessante Passagen.
Ich verstehe allerdings nicht warum du in S1,Z2 "wiederseh" schreibst. Ist das gewollt? Wenn ja, verstehe ich den Sinn dahinter nicht. Ich persönlich hätte "wieder sehen" viel passender gefunden, auch weil es doppeldeutiger wirkt. Es würde einmal zum Wiedersehen des lyr.Wirs passen und auch zum aufwirbeln verwelkter Blicke. Aber naja, vielleicht hast du dir ja auch was dabei gedacht und kannst es mir erklären.
Ansonsten denke ich, der Text handelt von zwei Personen, die versuchen ihre Beziehung noch zu retten. Der Schnee aus Z1 steht für mich für den Winter, im übertragenen Sinn die Beziehungskrise, den/die die beiden hinter sich haben. Jetzt scheint es Aussicht auf Besserung zu geben, der Schnee schmilzt, vielleicht weicht die Kälte aus dem Umgang der beiden miteinander. Das aufwirbeln verwelkter Blicke stellt für mich einen Versuch da wieder Emotionen hervorzulocken, die schon verloren schienen. "Blicke dorren" könnte für mich auch bedeuten, dass die Tränen endlich trocknen und bessere Zeiten zu kommen scheinen. "Ziellos durch knappe worte" deutet dann aber schon an, dass die beiden Personen nicht wissen wohin ihre Beziehung noch führen soll und dementsprechend auch nicht wissen was sie sich sagen sollen.
Die zweite Strophe deutet dann an, dass auch in vergangenen Zeiten nicht alles glatt gelaufen ist, dass die beiden aber immer versucht haben sich aneinander festzuhalten. Nun "dämmert" ihnen, dass ihnen die Beziehung vielleicht doch nciht den benötigten Halt geben kann. Hier hast du die Zeilenumbrüche meiner Meinung nach wirklich geschickt gesetzt, so dass viele verschiedene Leseweisen entstanden sind. Gefällt mir wirklich gut.
Das Ende des Gedichts bleibt mit den letzten zwei Zeilen realtiv offen. Man könnte vermuten "überlässt den Abend dem still" könnte bedeuten, dass nichts mehr kommt, dass die Beziehung gescheitert ist. Durch den Doppelpunkt am Ende denke ich aber, dass das Ende einfach nicht vorhersehbar ist, dass die beiden es noch weiter probieren und versuchen sich eben ohne Worte zu verstehen, solange es nichts zu sagen gibt.
Im Großen und Ganzen würde ich sagen, dass das Gedicht den leisen Kampf um eine Beziehung beschreibt, ein Aneinanderfesthalten. Schön melancholisch.

Gern gelesen,
Lg Kim
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Re: letztlich

Beitragvon Le_Freddy » Mi 17 Feb, 2010 22:27


nabend neruda, friedrich,

also erstmal danke neruda, dass du auf "wiederseh" gest0ßen hast, da bin ich zwar gestolpert, hätte es aber übergangen.
ich finde es gelungen so wie es ist. es ist nicht wiederseh'n, nein ein einziges wiederseh' und das wiederum klingt (vorallem in seiner verwendung) an "déjàvu" - nur eben nicht schonmal sondern (schon)wieder gesehen. stark.
auch das was dann daraus (gemacht) wird.
wohl am interessantesten scheinen mir die beiden, zunächst etwas unpassend erscheinenden, abschlussverse. das ist denkanregung pur - ich versuche ihre objekte und subjekte immernoch krampfhaft hinsichtlich ihrer beziehung zueinander zu sortieren. aber das bricht einfach sooo viel. ich bin sprachlos.

das ist ein erst- bis dritteindruck. ich glaube ich will den text aber garnicht zerklabüstern, ich will und werde auch nichts dergleichen lesen. dafür funktioniert der zu gut.
(never touch a running poem!)

gruß
Fred
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Re: letztlich

Beitragvon Friederich » Mi 17 Feb, 2010 23:18


Liebe Kim,

vielen Dank für deine ausführliche Kritik und die Nominierung! Ich bin sehr angetan, wie du dich dem Text genähert und so viel herausgelesen hast. Als ich deine Kritik an dem „Wiederseh“ las, habe ich mich auch erst in diese, sehr nachvollziehbare, Richtung bewegt. Das „wieder sehen“ würde eine interessante neue Lesart hervorbringen. Nun stehe ich zwischen dieser und der Ansicht von Fred, dass eben das vereinzelte „Wiederseh“, auch in Anlehnung an das déjà vu, sich da von einem schlichten „Wiedersehen“ abgrenzt. Ich muss noch darüber nachdenken, danke für den guten Hinweis! Aber da du dir eine Erklärung gewünscht hast: Das Wiederseh ist für mich viel physischer als das Wiedsehen, es ist ein einsam, für sich stehend und mehr ein kurzer Blick in Form eines „Quasi-Objekts“ als ein Wiedersehen in Form einer aktiven Tätigkeit.

Mich hat vor allem die Lesart sehr bereichert, dass eben auch noch Potential in dem Beziehungsgebilde zwischen den Personen gelesen werden kann. Diese Luft der Lesart hast du in meinen Augen viel größer gemacht als sie beim Schreiben gewollt war, aber mich freut diese Erweiterung sehr (vor allem in Hinblick auf den schmelzenden Schnee, der sozusagen gelesen werden kann als „das Eis schmilzt). Danke für das Lob mit den Zeilenumbrüchen und deine Annäherung an das Ende :)

Lieber Fred,

danke auch dir für die Kritik und dafür, dass du mir noch eine weitere Sichtweise auf das „Wiederseh“ beschrieben hast. Mich freut, dass du einiges aus den Abschlussversen herauslesen kannst. Übrigens nähert man sich eigenen Gedichten ja manchmal auch erst nach und nach, daher war mir diese abstrakte Anregung hilfreich :)

Liebe Grüße,

Friederich
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