Für alle Gedichte, die zwischenmenschliche Beziehungen behandeln - mit Ausnahme der Liebeslyrik

... und sterben dann gesund

Beitragvon Knappdaneben » Mo 08 Feb, 2016 11:02


Mama, Papa, Neurodermitis, waren die ersten drei Worte seines Lebens. Über die Reihenfolge war er sich nicht recht im Klaren, nur darüber dass er lange Zeit dachte, letzteres sei sein Name. Natürlich klang es zunächst wie Mnniiietis, was sein ungeübter Mund hervorstammelte, in der vagen Hoffnung, seinen geplagten Eltern damit einen Gefallen zu tun. Doch sogleich versetzte er seine Mama in hektischsten Aktionismus, den er für Freude hielt, der aber ungebremste Panik war. Wie groß musste das Leiden des Kindes sein, wenn es sozusagen als erstes Wort seines Lebens seinen Krankheitsbefund hervorbrachte. Dass das daran liegen könnte, dass ihr Kind selten etwas anderes zu hören bekam, als dieses Zauberwort in seinen vielfältigsten Beziehungen etwa auf Ernährung, Nachtruhe und Bekleidung, kam ihr nie in den Sinn.
Er hieß Neurodermitis und seine Schwester Allergie oder so. Dass das ausgesprochen ungewöhnliche Namen waren, kam ihm, dem Kleinkind, nicht in den Sinn. Seinen eigenen Namen hörte er recht selten, eher geflüstert, wenn seine Mutter etwa mit der Oma sprach und so setzte sich in ihm der Gedanke fest, dass dieser Name, Daniel, etwas Furchtbares sein mußte, was offen ausgesprochen zu einem unvorstellbaren Verhängnis würde. Dass seine Mutter nur flüsternd mit Oma seinen Namen nannte, geschah natürlich aus reiner Rücksichtnahme ihrerseits, die auf keinen Fall ihren Sohn durch die Nennung seines schlechten Gesundheitszustandes beunruhigen wollte und natürlich das genaue Gegenteil erreichte.
Sein Spielzeug war ausgesucht, vielfältig und pädagogisch wertvoll, wurde aber selten benutzt, da es zum einen viel zu viel war und zum anderen keine Zeit zum Spielen zwischen Mittagsschläfchen, Inhalation, frühkindlicher Musikerziehung und Baby- bzw. Kleinkindschwimmen blieb, wonach natürlich die gequälte Haut ausgiebigste eingecremt werden mußte, ein Vorgang, den er früh zu hassen lernte.
Darüber hinaus haßte er Mozart. Warum, war ihm nicht klar und würde ihm auch niemals klar werden. Er selbst hielt es für ein Produkt individuellen Geschmacks. Dass es auch daran liegen konnte, dass seine Mama während der Schwangerschaft beständig Mozart hörte, obwohl sie selbst darauf mit Widerwillen reagierte, der sich natürlich auf das Kind übertrug, erfuhr er nie. Man hatte seiner Mutter schon zu Beginn der Schwangerschaft klar gemacht, wie wichtig Musik schon für die embryonale Entwicklung sei, war sich aber offenbar nicht im klaren darüber, dass das auch negative Folgen haben konnte. Er jedenfalls hatte völlig schutzlos schon im Mutterbauch seine Lebensration Wolfgang Amadeus erhalten und damit eine Überdosis klassischer Musik, die ihn lebenslang zum Wackenpilger und Hardrockfansein verurteilte. Und nicht nur das, in Zeiten der Glutenfobie, des Veganen und des dogmatischen Ernährungsbewußtseins, war er leidenschaftlicher ausschließlicher Junkfoodverzehrer.
Schon früh hatte er damit seine heimlichen Erfahrungen gemacht. Wenn nämlich Mama seinen Papa nötigte, diese pädagogisch und erziehungstechnisch so wichtigen Vater und Sohn Abenteuer zu gestalten, führten diese nach einem kurzen Weg über den Spielplatz ("pass auf, dass er sich da nichts einfängt, er hat doch so eine empfindliche Konstitution und die Bakterien und Viren in den Sandkästen könnten ihn umbringen") und dem damit verbundenen Vermeiden jeglichen Kontakts zu Spielgeräten und potentiellen Spielgefährten, direkt zu TomsPomms, einer Imbißbude, die von außen nicht einsehbar war, in der man aber gut beobachten konnte, was auf der Strasse geschah. Zudem war Tom Papas ältester Freund und wahrscheinlich auch der dickste, was er nicht nur seiner Ernährung, sondern auch seiner ausgemachten Abneigung dem Sport gegenüber verdankte. Nein, so kann man es nicht sagen: Tom mochte schon Sport, besonders Fußball, aber eben nur von der passiven Seite. Er tröstete sich damit, dass ein Zuschauer die Spieler schließlich zur Leistung motiviert und sich damit um die Gesundheit der Kicker verdient macht und fühlte sich in seiner Passivität beinahe so wie ein Märtyrer für die Sache des Sports. Im TomsPomms herrschte stets die Atmosphäre eines glühenden Fettvulkans, was sich natürlich auch olfaktorisch positiv auswirkte. Dennoch schien Mama nie etwas zu bemerken, oder Papa hatte eine ganz besonders raffinierte Ausrede, die wir nun auch gern wüßten, aber niemals erfahren werden. Jedenfalls war seine Mama davon überzeugt, dass Daniels Papa nicht im Traum daran denken würde, den Filius einer solchen Gefahr auszusetzen, wie sie insbesondere in Schnellimbissen lauerte. Und so war es auch, wiewohl sich Papa, immerhin auf Toms leises Drängen hin, nur allzu gern zu Currywurst, Gyros, Pommes und Kartoffelsalat mit Schnitzel überreden ließ, hatte sein Sohn niemals Anteil daran. "Ist nichts für Kinder, viel zu fett!" knödelte er mit vollem Mund und steckte Daniel eine Reiswaffel zwischen die hilflosen Zähne.
All das bestärkte ihn schon als Kind darin, dass er als Erwachsener niemals mehr etwas "Gesundes" verzehren würde, und als er dann schon in der Schule bemerkte, dass sich der Zustand seiner Haut auch und gerade unter dem heimlichen Verzehr von Negerkussbrötchen, Verzeihung ... ähem, Schaumkussbrötchen (ein Begriff übrigens, den Daniel niemals benutzte und niemals benutzen würde), Pommes mit Majo aus dem Imbiß am Schultor und dem nachspülen mit Coca Cola (weder Light noch Zero) eher verbesserte als verschlechterte, war die Lebenswende vollzogen.
Einen Schritt, den seine Schwester niemals wagte. Getreu hing sie an den Lippen ihrer Mutter, die Predigt um Predigt über Ernährung, Gesundheit, Krankheit, Viren und Bakterien, Umwelteinflüsse und die Schädlichkeit sämtlicher irdischer Genüsse absonderten. Kein Kloster der Welt konnte strenger, keine Theologie dogmatischer sein. Und kein Epigone treuer als seine Schwester Allergia, wie er sie immer noch heimlich nannte, obwohl sie tatsächlich wohl doch Anja hieß. Blaß und verhuscht sah sie aus in ihrer gesundheitspolitisch korrekten Kleidung, aus handgefärbter Schafwolle, die sie im Umweltaktionsladen 1 kaufte, der bis in die späten 70er Jahre Trotzkiforum hieß, bis sich die Aktivisten zur Umweltpolitik bekehren ließen, die sie mit anarchischen Mitteln betrieben, bis sie auch dem schnöden Mammon verfielen und ideologisch gefärbte Kleidung zu kapitalistischen Konditionen in Indien fertigen und in Deutschland verkaufen ließen.
Papa war längst Geschichte, jedenfalls für Mama und Anja. Nachdem er sich auf einem Bewußtseinsseminar, das ihm Mama zum 35. Geburtstag geschenkt hatte und dessen wesentliche Bestandteile aus tantristischer Existenzerfahrung bestand (ein Umstand, dem Mama wohl zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hatte), in eine Teilnehmerin emaniert hatte (na ja, vielleicht hatten sie auch nur gemeinsam eine neue Bewußtseinsebene erreicht, die zwar nicht in Verschmelzung, jedoch aus inniger, immer wieder stattfindender tantristischer Vereinigung bestand), erschien er für Mama angesichts der aufkommenden HIV Hysterie als auszumerzender Krankheitserreger, den sie von Stund an nicht mehr ins Haus, geschweige denn zu den Kindern ließ. Ein Umstand, der Daniel wenig störte, der doch, wo immer es ging, das Haus verließ, um - vorgebend zu einer Gesundheitssportgruppe mit bewußtseinserweiternder Selbstverteidigung asiatischen Provenienz anzugehören - ins TomsPomms eilte, um dort nun gemeinsam mit seinem Vater all das zu genießen, was seine Mutter verteufelte.
Papa hatte sich inzwischen immer mehr emanzipiert und hatte sich all dem verschrieben, was seine Exfrau hasste und er aus Opportunismus lange Zeit gemieden hatte. Er war das Urbild des Spießbürgers geworden und besuchte Tantraseminare nur noch wenn ihn der Hafer stach, was des öfteren der Fall war, zumal er sich nach seiner schlechter Erfahrung mit Mama nie mehr fest binden wollte. Hier sassen sie nun in stillem Einverständnis zusammen und assen und assen sich dem Tod entgegen, so würde es jedenfalls Anja sagen, die auf ihre vegane Art auch irgendwie nicht gesunder wirkte als Vater und Sohn im Glück.
Was alle nicht ahnten war, dass Mama und Papa und Jahre später Daniel und Anja exakt im selben Alter sterben würden. Der gemeinsame Hausarzt, der alle überlebte, war der stillen Überzeugung, dass es im Letzten bei allen die Folge von Fehlernährung war und schmunzelnd dachte er bei sich, dass Mama und Anja gesunder, Papa und Daniel glücklicher gewirkt hätten.
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Re: ... und sterben dann gesund

Beitragvon vakuum » Mo 08 Feb, 2016 16:21


Wow! Das ist aber mal etwas Erfreuliches, sowohl was die sprachliche Gewandtheit als auch das "lecker" gewählte Thema angeht! Und etwas zum Schmunzeln! Man liest sich gern und schnell durch diese appetitlich/unappetitliche Kurzgeschichte und nimmt gerne die Binsenweisheit mit, dass eine zum religiösen Postulat übersteigerte Hinwendung zu gesunder Lebensweise sich ggf. reziprok zum persönlichen Glücklichsein verhält. Sehr gerne gelesen - und obwohl ich gerne klassische Musik höre, mag ich Mozart auch nicht im Übermaß.
Danke, mehr davon, lg vakuum
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