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Gefangene dürfen das nicht

Beitragvon kernbusch » Fr 08 Apr, 2011 21:13


Zigaretten!, Tabak!,
die dickliche Frau
vom Speisewagen,
trägt ein Hellblau
unter den Augen,
ein russisches Mutterlächeln,
die guten Sachen hat sie
einfach mit Vorhängeschlössern gesichert.

Wir trinken den Tee mit sehr viel Zucker,
Ihr 60er Jahre Blick
hat so einen Glanz,
Dauerwelle mit Rotstich,
der angepasste Acrylpullover.

Am letzten Bahnhof standen die Alten
mit Kinderwagen voller Eingemachtem,
Eine wie die Andre
pfiffen sie durch Zahnlücken.
Wir konnten die Fenster nicht öffnen,
an der kalten Luft saugen,
winken und um Verzeihung bitten,
für all diese Leben.
Zuletzt geändert von kernbusch am Di 12 Apr, 2011 20:41, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Gefangene dürfen das nicht

Beitragvon rivus » Sa 09 Apr, 2011 11:17


hey kernbusch,
gutes dingens, gut beobachtet, so mein ich, zugleich bin ich zurückversetzt vorgesetzt. fein-grob, wortträchtig gezeichnet historie. mensch, mich hast du mit deinen bildern eingepackt, ausgeweckt.



ach, die russische weite ist noch hinterm hellblau, vor- und rückgerichtet, vergänglichtes gegenwärtigt die guten sachen, die es auch gab und gibt, hinter vorhängeschlössern. tja mein sentiment ist sofort im wundersamen russisch-weichen-lebenabtrotzenden-seelenweisen "trägt ein Hellblau / unter den Augen / ein russisches Mutter Lächeln,"! die tiefe matriachalische mutterseele birgt alle geheimnisse der welt hinter vorhängeschlössern u. wird sie zu gegebener zeit wieder notdürftigen fürgeben.

die 60iger sind wirklich 60'ger. sie sistieren, fixieren unglaubliches: die gulags lösen sich formal auf u. gehen ins alltagsgewand einer gegenwart, die für die ewigkeit angepasst schien, und sogar das jetzige heutige schmerzvoll prägt. noch immer ist das unmenschliche nur mit tee mit sehr viel zucker zu ertragen!



ach, die dritte strophe, wärtigt gewaltig, blendet rückwärt vorwärts, zeichnet völkerwanderung, seelisch, menschelnd, sühnend-nichtsühnend. es schmerzt. "gefangene dürfen das nicht" retraumatisiert. das dritte bild transportiert geschichte, die wiederholbar bleibt. also "Eine wie die Andre / pfiffen sie durch die Zahnlücken./ Wir konnten die Fenster nicht öffnen, / an der kalten Luft saugen / winken .... das ist so vieldimensional, als ob cezanne noch sein "beeile dich, alles verschwindet" noch malt, doch vergebends, denn es scheint kein vergeben mehr möglich für all diese angepassten, unangepassten, verpassten leben: "gefangene dürfen das nicht"! das ist für mich aber auch so, als ob ein lyrhistoricus, dem allen sein, ein fürmenschliches seelenschnippchen schlägt und uns lyrwir einen hellblauen gegenentwurf anbietet, sodass das andre, bessere noch möglich ist, die vorhängeschlösser wieder abgemacht werden u. die archetypen das mitmenschliche zum entfalten bringen könnten ....

hui, ich bin kein analyticus, aber für mich ein gedicht des monats

respektgrüße, rivus
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Re: Gefangene dürfen das nicht

Beitragvon kernbusch » Di 12 Apr, 2011 20:40


Hi Jo,

vielen Dank für Deine Betrachtungsweise.

Leider interpretierst Du den Text völlig anders, als er gemeint ist.

Das kann an mir liegen, aber da rivus der Sache schon wesentlich näher kommt, warte ich mal ab, ob/wie andere ihn auslegen.

Das Mutterlächeln und die 60er werde ich aber ändern.

Lg
Mathias K.
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Re: Gefangene dürfen das nicht

Beitragvon Antibegone » Di 12 Apr, 2011 20:46


was ist daran so schlimm, wenn jo den text anders interpretiert? oO

kann das gedicht nicht für sich stehen? muss er so interepretiert werden, wie du es "gemeint" hast? warum schreibst du dann ein gedicht und kein essay, frag ich mich da, in nem essay, sollte u.U. deutlich werden, was man meint.
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Re: Gefangene dürfen das nicht

Beitragvon kernbusch » Di 12 Apr, 2011 20:51


Es geht nicht darum, das es ein Problem an sich ist, wie er es interpretiert, sonders das ich auf seine Sicht nicht in jedem Punkt antworten kann.

Dies wollte ich nur mitteilen, denn er hat ein Recht darauf zu erfahren, warum ich gewisse Änderungsvorschläge nicht übernehmen kann/möchte.

Ich sagte ja schon, ich bin gespannt, wie andere Leser den Text auslegen.
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