Alle Gedichte, die in keine andere Kategorie passen

Herrn Seelentaub's Sonett

Beitragvon Drehrassel » Mi 10 Mär, 2010 03:10


einmal das wort sagen können, einmal mit not-
wendigkeit, wie es immer hieß: rede
nur von dingen, die dich was angehn. (was?) und jede / sil
be zuviel ist... rot


-sein vor scham, weil man nicht weiß, was es bedeuten
soll (was?): na, dastehn und doch anders können. satz
für satz dein gewürge im hals, und den hosenlatz
offen
(mitten unter den selben fremden leuten

jeden tag, einmal eine öffentliche angst, das sprechen
ohne sinn, also als sinnvolle geräusche zu üben
und oder unter wachstumsschüben

leiden) haben. und und - als wären das verbrechen -
gedanken, die niemand teilen mag. niemand versteht,
nicht einmal du. / aber siehst du? das geht (was?)
dreimal selig, wer einen namen einführt ins lied!
- ossip mandelstam
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Re: Herrn Seelentaub's Sonett

Beitragvon rivus » Di 12 Apr, 2011 09:53


hi dreh,
hier habe ich seelentaub hervorgestöbert.

ein feines sprachsprechdingens.

sehr gern gelesen

lg, rivus
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Re: Herrn Seelentaub's Sonett

Beitragvon Drehrassel » Di 12 Apr, 2011 20:06


hey rivus,

im gegensatz zu manchen anderen irritiert es mich nicht im geringsten, wenn ein alter thread, ein alter text aus dem foren-archiv hervorgeholt, besprochen und damit wieder - für alle, welche an diesem board interessiert sind, seien es aktive user, neugierige besucher oder auch personen, die sich aus dem kreis ehemaliger stamm-schreiberlinge rekrutieren, die sich aber (noch) nicht dazu entschließen können, über den status eines gelegentlichen gasts und mitlesenden kiebitzes hinaus neu einzusteigen und den versuch einer wiederbelebung unseres forums zu eigener textproduktion zu nutzen, bzw. diese hier wieder vorzustellen/zu posten - aktualisiert, im sinne einer rezeptionsästhetischen sichtweise revitalisiert wird. - wieso auch? wo bitte schön sollte denn auch sonst über das reine tagesgeschäft, den nervösen ticker gegenwärtigen geschehens hinaus diskurs betrieben werden, wenn nicht in der literatur? meist ist doch bloß reine trägheit, wenn ein autor, welcher sich mit einem eigenen alten text konfrontiert sieht, darauf verweist, er sei nun sehr weiter fortgeschritten und könne mit seinen zeilen nicht mehr viel anfangen; als ließe sich nicht wenigstens das eigene werk als ein aus sich selbst zu rekonstruierender progress begreifen, als könne man nicht wenigstens werkästhetische beobachtungen festhalten, als gäbe es nicht wenigstens bestimmte entwicklungslinien nach zu zeichnen, bestimmte brüche zu konstatieren. ich meine, wenn man sich schon nicht mehr eines möglichen schreibimpulses und dessen motivation zu vergegenwärtigen in der lage sieht. -

in diesem falle hier aber ist mir nicht ganz klar, welche absicht dich dazu führte, dieses gedicht "nach oben" zu holen. dafür steckt mir zu wenig in deinem kommentar, als dass ich mehr darin erkennen könnte, als dass du einerseits versuchst - was ich löblich finde - überhaupt etwas hier in bewegung zu bringen; und dandererseits vermute ich, könntest du auch im sinn gehabt haben, über die direkte anrede, mich dazu zu verführen, mich selbst auch wieder im forum zu beteiligen. *zwinker* // hm. du lobst dieses gedicht. nennst es ein "feines sprachsprechdingens". so schmeichelhaft mir das auch scheinen könnte, wäre ich für solch unbegründete schmeicheleien empfänglich; darf ich dich fragen, was genau du damit meinst? verstehe mich bitte nicht falsch, aber... ein text, welcher einen so kurzen kommentar erhält, welcher zudem auch noch aus einem billigen (weil einfach zu habenden, ohne dass es eine auseinandersetzung mit dem text gegen hätte) lob besteht, ist mir suspekt. - das ist mir ein bisschen wie "wie gehts? - gut". kein echtes interesse, aber mal freundlich nachgefragt, bzw. noch nicht mal nachgefragt, sondern bloß freundlichkeit behauptet. dann doch lieber jandl:

http://lyrikline.org/index.php?id=162&author=ej00&show=Poems&poemId=1236&cHash=64e460dea7
Zuletzt geändert von Drehrassel am Di 12 Apr, 2011 20:36, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Herrn Seelentaub's Sonett

Beitragvon Anna Lyse » Di 12 Apr, 2011 21:50


hey dreh,

ich muss mich beeilen bevor dein kommentar hier verschwunden ist oder sogar der ganze text. wäre ja nix neues.
also deiner ausuferung zu urteilen hat es doch mal wieder gut getan so einen langen kommentar zu schreiben, das hat doch rivus prima angestellt und deinen geist hier wieder ins forum gebracht.

meist ist doch bloß reine trägheit, wenn ein autor, welcher sich mit einem eigenen alten text konfrontiert sieht, darauf verweist, er sei nun sehr weiter fortgeschritten und könne mit seinen zeilen nicht mehr viel anfangen; als ließe sich nicht wenigstens das eigene werk als ein aus sich selbst zu rekonstruierender progress begreifen, als könne man nicht wenigstens werkästhetische beobachtungen festhalten, als gäbe es nicht wenigstens bestimmte entwicklungslinien nach zu zeichnen, bestimmte brüche zu konstatieren. ich meine, wenn man sich schon nicht mehr eines möglichen schreibimpulses und dessen motivation zu vergegenwärtigen in der lage sieht. -


schön gedacht. es ist doch noch schöner wenn man als schreiber nicht mal mehr irgendwas vorzuweisen hat und somit auch das gängige klischee eines unzufriedenen autors mimen kann, nicht wahr? somit bleibt man doch lieber älterem treu und kramt und wurschtelt solange bis man sich selbst eingebläut hat dass es immernoch besser ist als was man seitdem produzierte oder gar sich selbst verproduzierte.
schön. doch ich mag wechselnde gemüter auf anhieb leiden und auch hier sehe ich wieder ein wechselndes gesicht zum text. lieblich.

deine texte zu kritisieren war schon immer und jetzt vielleicht noch viel mehr eine herausforderung ohne gleichen! man schrieb was man dachte und es wurde der eigene gedanke so verdreht dass man sich am ende seiner sache immer unsicherer wurde. demnach hat man sich als leser auf deine makelbehafteten worte geschlagen, die im grunde aus der luft gegriffen waren nur damit man einen eckpunkt gefunden hatte. man wollte ja nicht löblich erscheinen, ja keinesfalls wollte man etwas gut heissen was vielleicht am ende dennoch nie verstanden würde. weisst?

der text sowie sehr viele texte, nicht nur deiner, verdient es herausgepuhlt zu werden aus den tiefen einer datenbank. er verdient es meines erachtens auch verissen und sogar! gehuldigt zu werden. denn steckt in dieser kleinen geschichte, mehr als nur irgendwas schnelllebiges. hier wütet ein tier zwischen den zeilen. etwas unentschlossenes wildes...mit einem hang zum dramatischen geschick sucht es ein opfer aber findet nichts. dieses viele "was?" will den leser nur über eine bestimmte ebene der verwirrung führen. ist es doch allgegenwärtig und doch so klein! vielleicht wäre subtil hier angebrachter.
als ein besonderes kunststück deinerseits sehe ich das hier nicht. auch wenn mir die sprachliche vielfältigkeit zu denken gibt, ja sogar gefällt.

tja mehr bleibt mir gerade nicht und ich hoffe ich habe es jetzt noch rechtzeitig geschafft bevor der text wieder verschwunden ist oder sogar ganz weg.

bis dahin und lg,
isa
.
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Re: Herrn Seelentaub's Sonett

Beitragvon rivus » Mi 13 Apr, 2011 08:12


hey dreh,
räusp, ich interpretiere, das dauert, weil ich, je tiefer ich deinen text rezipiere, um so mehr formiert sich ein schwerer bildgehalt, als mir beim ersten klingen des sonetts offenbar wurde. .....
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Re: Herrn Seelentaub's Sonett

Beitragvon rivus » Fr 15 Apr, 2011 07:42


hey drehrassel,

Warum ist alles so rätselhaft?
Hier ist das Wollen, hier ist die Kraft;
Das Wollen will, die Kraft ist bereit,
Und daneben die schöne, lange Zeit.
So seht doch hin, wo die gute Welt
Zusammenhält!
Seht hin, wo sie auseinanderfällt!
von Goethe


prima dich wieder hier, wie in alten zeiten, genauso wortgewandt, zu lesen. u. sorry für die allzu billige annäherung . dies sonett klang mir wirklich u. wahrhaftig im ohr, auf dem lyr.lippen meiner assoziativen stimmbänder, im archiv meiner besonderen schublade, die ich gern öffnete, weil mir drehrassels wacher literarischer u. durchaus kritischer u. vor allem analytischer und formenkundiger, rhythmenerspürender geist tatsächlich an allen ecken und kanten unseres forums fehlt.

seelentaubs sonett klingt sehr melanlyrisch, fast archaisch, dem lyrwir,unsrem aller seelentaub zugewandt. seelentaub suggeriert eine hyperstasierte seele.

im ersten quartett wird das seelentaub eingestimmt. wir leser erleben wie es zu diesem seelentaub, zur sprachlosigkeit der seele kommen konnte. diese wird schon im ersten vers konditioniert. es besteht der wunsch eines lyrichs ein wort, das wort, sagen zu können, einmal mit der ganzen wucht eines einziges wortes , einmal mit not, mit wirklichem wortdrang, mit der kraft einer ertaubenden seele, die im mutismus steckenbleibt, weil schon im zweiten vers , das postulat eines anonymen lyrwir, die aufforderung zu reden, das reden können blockiert, die unwendigkeit kognitiv manifestiert u. diese nun-auch- wortblockade im dritten vers durch den absoluten imperativ endgültig ein seelen taub im innern eines lyrichs so installiert, fixiert, dass jede silbe, sogar das be nach dem a-ton schon zuviel ist u. rot ist, von einem (wortbrachial)gegenschlag eines intoleranten gegenüber oder von einem unvermögen worte aus dem tiefsten seelen innern einen adäquaten ausdruck zu verleihen, um nach draußen zu gelangen, weil das l yrich bei sovielen redevorgaben seine eigene seele weder per wort identifizieren darf (von einem tauben draußen forciert ), noch kann (was?,) noch nach so langem unberedten schweigen empfindet?
das zweite quartett führt den innewohnenden sehnwunsch, das wort sagen zu können, in die antithetische ebene des vielleicht doch noch nicht so seelentauben lyrichs. das unerzählte rot des vierten verses prolongiert fast erzählerisch das rot in das rot-sein vor scham. jedoch ist es nun auch das rotsein der anonymen anderen, der lyrwirtauben, die plötzlich all das nicht mehr einordnen, deuten können und somit eigentlich vorgeführt werden und sich doch im alten kontext ihrer seelischen sprachlosigkeit , mit der gewohnten allmacht des imperativen von ihrer unlyrischen bühne ganz im gebahren ihres stereotypen rollenverständnis ses saloppieren. das sollgezwängte, sollbedrängte, sich infrage stellende lyrich soll gefälligst parieren! (das „was?“ enttarnt für einen moment das perfide spiel der doch bewusst handelnden lyrakteure. macht, machmißbrauch, manipulierlust entblößen sich zwar, doch ist es das rot der täter, für die es kein wort gibt.) das soll gebiert aber auch den widerstand, welchen das zum äußeren gehorsam gezwungene lyrich gerade wegen seinem eigentlich nicht mehr zu ertragenen insichsein, während des dastehn’s und doch anders können müssens entwickelt und den satz, der die traurige gewissheit eines totgestellten aussichseins gegen alle ausbrechwünsche justiert und somit das seelentaub der anderen fortführt. für mich wird nun das lyrich einer unfassbaren seelenfolter ausgesetzt, die satz für satz grenzen überschreitet, missbrauch, ohnmacht fortsetzt. ein ganz konkreter lyrdutäter wird bildlich identifiziert, sprachlich entmaskiert und allgegenwärtig. so wird ein lebenslanges flashback , ein für immer aussichsein, ein pseudooffen, ein ewig andauerndes „mitten unter den selben fremden menschen“ installiert.
die isolierung des lyrich’s wird im ersten terzett fortgeschrieben, obwohl es gegen das vergessen jeden tag ankämpft und einmal wenigstens bei den tätern eine öffentliche angst erzeugt, dass der missbrauch doch ans tageslicht kommt. doch das sprechen misslingt, ist, scheint ohne sinn – wegen der seelentaubheit der umwelt - aber dient wenigstens noch den innenübungen, um vielleicht doch noch dem inmichkerker des lyrichs zu entkommen. da sich das lyrich aber nach außen nicht mitteilen kann, ist es ein qualvoller kampf. einmal muss es während der sich selbst reproduzierten traumata sein insich bewahren, was aber eine grausame einsamkeit impliziert oder es wächst so in seine seelische verletzungen hinein, dass das lyrich in die fänge einer irreversiblen regression gerät.
unter solchen leiden, unter solchem haben –schuldgefühle am insichsein u.aussichsein – von schuld am eigenem zustand, „-als wären das verbrechen- entwickelt das lyrich „ gedanken, die niemand teilen mag. niemand versteht“ , welche auch dem lyrdu unterstellt werden, nicht zu verstehen und mit diesem schachzug kann das lyrich seine ohnmacht ummünzen, eigenschuldvorwürfe, mitschuldgefühle fallen lassen, seiner opferrolle ein stück weit entschlüpfen und zumindestens in meiner lesart dem seelentaub des lyrdu einen bugschuss geben, not u. zorn neu fokussieren , endlich schmerz, scham, verzweiflung mit fragen annehmen, bewehren. mit dem verzicht auf vorwurfsvolle rückschau, mit der versprachlichung der bindung zum täterlyrdu kann das lyrich sich im hier u.jetzt vom lyrdu lösen u. mit der eigen- befreiung beginnen. „aber siehst du? das geht“ ermöglicht dem sensiblen lyrich, trotz der lastenden vergangenheit , das fortsetzen seines lebensweges, welches sogar vergebung nicht ausschließt. das ursprüngliche seelentaub, welches nun gespürt und verbal ausgedrückt werden kann, perturbiert und kann möglicherweise auch das nicht gespürte und nicht gehörte, innerlich und äußerlich miteinander versöhnen …. seelentaub wird so zur historie.

räusp, der versuch einer annäherung. das sonnett hat’s synthetisiert u. mich am ende sprachlos gemacht.

grüße, rivus
Zuletzt geändert von rivus am Sa 16 Apr, 2011 21:32, insgesamt 3-mal geändert.
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