Hallo Kim,
ein Text, der sich für mich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass er bekannte Motive verwendet, diese aber auf sehr expressive Weise verbindet, sodass etwas ganz Einzigartiges entsteht. Dies gilt vor allem für die erste Strophe:
die straßen sind wie ausgestorben & wie du
mir diese leeren hände reichst, in den morgen
in dem man nur ist & ist & ist & bleibt
dient hier quasi als syntaktisches Gelenk, das drei Aussagen möglich macht. Die Straßen sind nicht nur „leer wie du“, sondern auch das Reichen der Hände selbst kann in Analogie zu der ausgestorbenen Straße gesehen werden (die dritte Lesart würde in dem Enjambement dann nur eine rhythmisch konnotative Aussage finden). In diesem Sinne ist das Adjektiv „leer“ für die Hände eigentlich überflüssig – in meinen Augen würde das Gedicht an Verdichtung gewinnen, wenn du darauf verzichten würdest.
Schön finde ich, dass das lyrisch „Du“ die Hände nicht nur seinem Gegenüber reicht, sondern auch in den Morgen. Markanteste Stelle (und sehr gelungen) ist dann der von Wiederholung geprägte dritte Vers – wäre es hier nicht eine Idee, das „bleibt“ als strophenübergreifendes Enjambement zu realisieren, damit dem „Bleiben“ noch mehr Gewicht zukommt?
bis halb sechs, solange die stunde jede logik frisst,
vernunft nur eine blasse wolke am horizont ist,
die sich um hochhäuser schlingt
über unseren köpfen
lange bevor der himmel
bricht
ab
halb sieben
In den folgenden Zeilen schwingt für mich eine tiefe durch die Tageszeit und das, was zwischen beiden Protagonisten angedeutet wird, geschaffene Indifferenz. Das Reichen der Hände, die Zweisamkeit, die zeitweilige Verbannung der Vernunft könnten zweifelsfrei auch optimistisch gelesen werden im Sinne von erbaulichen Stunden zu zweit. Die Wiederholungen, das Grau der Wolken, das hier negativ konnotierte Wort „frisst“ und „bricht“ lassen mich aber eher Energie- und Sprachlosigkeit lesen. Die angesprochene Indifferenz ist nun, meiner Lesart nach, ein dem kommenden Morgen gegenüber ausbleibendes Gefühl. Das Jetzt ist sprachlos, die Hände, die gereicht werden, sind leer. Dass der Morgen die Situation beenden wird, was wohl auch eine art Verlust ist (der Himmel „bricht“, die Hochhäuser reduzieren in dieser Beschreibung auch jede „Romantik“), scheint nicht betrauert zu werden.
Formal gefällt mir die erste Strophe etwas besser, denn in der zweiten fällt für mich Vers II sprachlich etwas ab. Dennoch ist vor allem das Ende wieder sehr gelungen, denn das „Abbrechen“ unterstützt du gekonnt auch formal und das „halb sieben“ markiert den Endpunkt. Insgesamt für mich eine nachfühlbare Momentaufnahme, die etwas beschreibt, das wohl nicht in konkretere Worte zu fassen ist – damit wird die Verpackung als Gedicht für den Leser zusätzlich nachvollziehbar.
Grüße,
Friederich
L'avenir, on ne l'attend pas comme on attend le train. L'avenir, on le fait. (Georges Bernano)
Friederich