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Heimat - 1. Versuch einer Ortsbestimmung

Beitragvon wüstenvogel » Sa 04 Feb, 2012 13:09


Die Geborgenheit des tiefen Waldes
dort
wo nicht mehr ge-borgt
ge-tauscht
ge-kauft
nur noch ge-schenkt
ge-geben
ge-teilt wird.

Heimat
liegt im Windhauch
der den Flügel eines Schmetterlings streift
in der Sanftmut eines Augen-Blickes
in der Fülle einer Sommerwiese
in der Stille einer Winterlandschaft.

Nur dort
wo kein Wort
kein Begriff
keine Vorstellung
das Empfinden entstellt
verzerrt
ergreift
wo ich leben:
kämpfen
lachen
weinen
arbeiten
lieben
sterben kann -
bin ich daheim.

Dieser Ort
ist nicht zu ermessen
nicht zu begrenzen
nicht zu besitzen
nicht zu beherrrschen
jeder hat Anteil daran
jeder ist Teil von ihm.

Er ist unermesslich
grenzenlos
und manchmal auch so winzig
bloß
mit dem Auge allein
nicht zu erkennen.

Wehe denen
die dort nicht wohnen können
wie sollen sie je
Frieden finden?
Zuletzt geändert von wüstenvogel am So 05 Feb, 2012 11:12, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Heimat - 1. Versuch einer Ortsbestimmung

Beitragvon rivus » So 05 Feb, 2012 06:51


hi wüstenvogel.

ja, ein wald kann geborgenheit und noch vieles mehr bieten. er ist praktisch ein indikator für den zustand der gäa und unsrer menschlichen heimat. hier, in deinem gedicht, taucht er als erster standort der heimatbestimmung auf. zurecht wie ich finde und doch gibt es den tiefen wald, der sich den gesetzen des mehrwertes entzieht, nicht mehr allzu häufig.

räusp, wie seltsam, das ge in so vielen worten birgt unsren ge-brauch von heimat, die in der postmoderne, in der sogenannten zivilisierten gesellschaft so verwertet wird. dort, wo die geborgenheit des waldes noch ge-geben ist, dort ist der urtraum, die urwurzel von mütterlicher heimat.

die zweite strophe ist für mich poetisch. sie trifft die ge-währte heimat, mit einfachen und doch vollen, ganzwertigen bildern. so kann sehnsucht auch ein kapitän von heimat werden.

in der dritten strophe (--wo kein wort---{das e ist wohl zuviel oder?}) lese ich die sehnsucht einer emfindsamen seele, eine unverstellte heimat zu finden, wo es keinen vormund gibt. das lyrich möchte nicht fremdbestimmt, nicht bewertet, benutzt werden, sondern frei sein von fremden bestimmungen. nur so findet die lyrichidentifizierung ihre gewünschte verortung; "nur dort" kann es sagen "ich bin daheim"!

diesen ort, den man heimat nennen kann, scheint mir ein ort utopia, aber auch ein ort mit besonderen eigenschaften. so, im beschriebenen status quo, könnte er unbeschädigt bleiben und für jedefrau/jedermann/jedeskind/jedesgeschöpf ein schutzraum sein, in dem sich jederzeit jeder geborgen und als teil eines daheimseins, als dasein im heimatlichen fühlen könnte, um wenigstens teilheimat für jeden zu ermöglichen.

in der fünften strophe wird die wirkliche dimension dieses einen ortes gezeichnet, welche so wichtig ist für das überleben des einzelnen und ganzer gemeinschaften. sie ist ausgelegt für einen faszinierenden makrokosmos, aber auch für eine zerbrechliche miniaturwelt und zumeist, mit innerem und äußerem auge, allein, nicht wahrzunehmen. dazu benötigt man die optik von emotio, ratio, geist, seele sowie möglicherweise auch die transzendenz.

in der letzten strophe wird aufgezeichnet, aufgemahnt, dass menschen, die nicht wohnen können, wohl kaum frieden finden können. sie sind es wohl, um die sich behauste und beheimatete kümmern sollten, damit unsrer blauer planet, die gäa aller menschenzeitalter, noch weiter bestehen kann. ich assoziiere die gefährdungen, die völkermorde, den fremdenhass, den raubbau aller irdischen und seelischen güter, auch das malevile von robert merle ...


danke für diese zeilen; es grüßt der rivus
Zuletzt geändert von rivus am So 05 Feb, 2012 10:39, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Heimat - 1. Versuch einer Ortsbestimmung

Beitragvon wüstenvogel » So 05 Feb, 2012 12:10


Hallo rivus,

erstmal vielen Dank für deinen sehr ausführlichen Kommentar.

Dieses Gedicht von mir ist ungefähr 30 Jahre alt und nur wenig überarbeitet.

Da ich schon als Kind gerne im Wald war und es auch heute noch bin, ist es klar, dass dieser an erster Stelle steht.

Der Begriff "Heimat" birgt ebenso wie "Frieden" oder "Leben" (unendlich) viele Facetten und ist nicht auf einen bestimmten "Ort"
zu beschränken. Leider ist mit diesem Begriff so viel Schindluder getrieben worden, dass es schwierig ist, sich ihm unvoreingenommen zu nähern.

Wenn mir das einigermaßen gelungen sein sollte, würde mich das sehr freuen.

Wir Menschen brauchen (wenigstens von Zeit zu Zeit) das Gefühl von "Heimat", des Aufgehobenseins in einem sinnerfüllten Leben.

Du hast mein Gedicht so toll interpretiert und beschrieben, dass ich fast nichts mehr hinzufügen kann.

Übrigens ist dieses Gedicht letztes Jahr im April in der Anthologie "Lyrische Koordinaten" im Czernik-Verlag, Edition L. erschienen.

Viele liebe Grüße

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