"Mit Freunden Sex haben ist eine beschissene Idee", sagt Tikki. Polgar sieht sie an. Halblange rotgefärbte Haare, hell und leuchtend. Das anlasslose Lachen, die weißen Zahnreihen. Ihre ziemlich große Sonnenbrille - nicht so groß wie seine.
"Kannste nicht bringen", sagt er.
"Es wird alles komplizierter oder so was wie madig, danach kann man den anderen zu nichts mehr gebrauchen."
"Ja", sagt er. "Absolutes No-Go." Polgar fragt sich, wie Tikki klingt, wenn sie es tut. Vor allem ihren Gesichtsausdruck, den würde er gern sehen.
"Siehst aus wie ein italienischer Vorstadtprolet mit deinem Schnauzer."
"Hab deine verstohlenen Blicke mitgekriegt."
"Verstohlene Blicke!" Tikki kramt in ihrer Handtasche. "Kopfschmerzen ...", murmelt sie.
"Du arbeitest zu viel", sagt er. "Oder feierst zu lang. Wie auch immer, Süße, schalt mal nen Gang runter."
"Das ist nur so", sagt sie und schluckt eine weiße Pille. "Das geht wieder weg."
"Wie viele Packungen verbrauchst du pro Woche? Das Zeug kann Kopfschmerzen verursachen, wenn man es regelmäßig nimmt."
"Ich mixe, damit das nicht passiert. Aspirin, Ibuprofen, Paracetamol ..."
"Sag, dass das ein schlechter Scherz war. Nein, warte. Sag am besten mal gar nichts."
Sie kleckert Wasser auf ihr Unterhemd. Hebt es an und kuckt darunter. Ihre weiße Haut, die Rundungen. Polgar kuckt weg.
"Ich werde ihn absägen", sagt sie unvermittelt. "Der nervt, schreibt ständig SMS. Letztens wollte er mir Schuhe kaufen. Ich habe dreimal nein gesagt,- wer versteht das als Aufforderung, ein weiteres Mal zu fragen? Dazu ist er so dämlich, man sieht ihm richtig an, wenn er auf dem Schlauch steht. 'Nee, der checkt das jetzt echt nicht' – das denk' ich bei ihm einfach zu oft."
"Wenn er gut im Bett ist ...", sagt Polgar.
"Ich bin keine Hure!", braust sie auf. "Mich bezahlen oder was?"
"Lass dir doch Sachen kaufen", lacht er. "Ist doch egal."
"Du nimmst deine Brille wohl nie ab?"
"Heute nicht", sagt er. Ohne die wäre er gar nicht rausgegangen. Auch so war Rausgehen keine gute Idee gewesen. Ein Tag wie ein schwarzes Loch. Hinter jeder Sekunde lauert Gedankenleere, er sieht sich selbst, wie er blicklos starrt. Sekunden, in denen nichts in ihm geschieht, die durchaus Minuten sein könnten. Aber wenn jemand was sagt, springt sein Kopf sofort an und spuckt die richtige Antwort aus. Wie oft wird das noch funktionieren?, denkt er.
Sie lacht. Tikki ist wunderschön, wenn sie lacht. Er denkt so was eigentlich nicht, so was unspezifisches. Aber jetzt. Polgar zieht seine Show ab, konstruiert schlimmere Sätze, bis sie schlimmer lacht, was ihre Schönheit schlimmer macht. Reden hilft gegen das Einschlafen, deswegen immer seine mündliche Mitarbeit, damals, in der Schule. So lange man spricht, schläft man nicht. Was interessiert ihn ihr Aussehen? Wenn sie schön ist, schön für sie.
Diese elenden Quesadillas werden immer mehr im Mund. Diese Hitze. Immerhin zahlte sie für beide, er weiß nicht, wie er es hingebogen hat, aber es ist gelungen. Geldprobleme hat er nicht, es geht ums Prinzip. Er weiß nicht mehr um welches, aber dass es da eins gab, daran erinnert er sich. Hatte vielleicht nur damit zu tun, dass er nach Möglichkeit nicht zahlen will. Er wünschte, er wäre logischer, manchmal hat er das absurde Bedürfnis, nachvollziehen zu wollen, warum er denkt, was er denkt.
Draußen das trotz Filterung zudringliche Licht, viele Leute, die in der Grünphase über die Kreuzung hasteten und jetzt Richtung Kino strömen. Tikki hält Polgar zurück, als er nach vorne ausbrechen, über die Straße will. Ein italienischer Sportwagen fährt mit aufjaulendem Motor vorbei, Polgar spürt den Fahrtwind an seinen Beinen saugen. Tikkis skeptischen Blick. Aufpassen, ermahnt er sich.
Sie hakt sich ein, kuckt links, rechts, links und zieht ihn auf die andere Straßenseite. "Vorbildlich", sagt er. Tikki funkelt wütend, sagt nichts. Polgar macht sich los und meint, sie solle nicht so ein Theater machen.
"Dass du hier völlig verpeilt rumläufst!", ruft sie. "Du wärst der Karre direkt vors Blech gelaufen!"
"Quatsch", sagt er. "Du warst doch da. Nichts passiert."
"Was ist los?", fragt sie. "Irgendwas stimmt nicht."
"Bin etwas unkonzentriert in letzter Zeit", sagt Polgar. "Die Reize werden nicht immer so gefiltert, wie sie sollen. Ständig diese Müdigkeit ... keine Ahnung, wo das herkommt."
"Wenn du mich anlügst, hau ich dir eine rein."
Auf dem Uferweg, der See auf der einen, die Konsulate auf der anderen Seite, ziehen sie ihre gemeinsame Show ab. Streitendes Pärchen. Werfen sich Vorwürfe an den Kopf.
Er beginnt klassisch, dass sie immer nur ans Geld denke.
Polgar sei so ein Geizkragen, immer auf dicke Hose machen, wenn andere dabei wären, aber innerlich jedem Cent hinterhergierend.
Man sehe ja, dass es für Tikki gar kein anderes Thema gebe. Wenn sie an ihn denke, dann zuerst an sein Verhältnis zum Geld. Wann habe sie ihn das letzte Mal gefragt, wie es ihm gehe, wann habe sie Interesse für ihn als Persönlichkeit gezeigt?
"Du und Persönlichkeit!", ruft sie. "Deine Witze waren früher bes..."
"Entschuldigen sie die Einmischung", unterbricht sie ein gepflegter Mann im feinen Zwirn und legt Tikki die Hand auf den Arm. Seitenblick zu Polgar.
"Sie haben ihre Jacke verloren ..." Er zeigt auf den Weg hinter Tikki.
"Du bist so ein Esel!", ruft sie. "Bemerkst nicht mal, dass deine Frau ihre Jacke verliert."
"Was geht mich deine Jacke an?", fragt er. "Du hast eh zu viele Klamotten ..."
Danach ist die Luft raus. Scheint irgendwie auch kälter zu werden. Auf einmal Körperkontakt. Ein paar Meter machen sie Arm in Arm. Seine Hand auf ihrer nackten Schulter, Tikkis Arm um seine Taille. Sie streicht ihre Haare beiseite und über das darunterliegende rasierte Schädelstück. Polgar macht es ihr nach. Weiche Härchen, die warme Kopfhaut.
"Die Marilyn-Tage sind vorbei", sagt sie. "Ich spüre sie davonfließen. Edith kommt."
Meine Diva, denkt er und merkt, dass er unwillkürlich einen Schritt Abstand nimmt. Schon wieder der Tanz, denkt er und will im Boden versinken, Augen und Ohren unter Tage verstauen. Ein paar Jahre Auszeit. Warten, dass die Dinge vorbeigehen und er mit ihnen.
Am Abschiedsgleis großes Umarmen, gegenseitige Versicherungen, dass man den anderen - das ist die eine Gelegenheit, in der man das sagen kann. Wenn die Türen des Zuges bereits schließen und man sich schnell voneinander trennen muss. Sie ruft ihm etwas hinterher, das er nicht richtig versteht, weglaufend erwägt Polgar, sich umzudrehen und nachzufragen, über den halben Bahnhof brüllen, warum nicht, das würde Spaß machen. Aber die Vorstellung, sie noch einmal zu sehen, zwickt ihn so sehr, dass er es bei einer halb erhobenen Hand belässt, die er grob in Richtung Zug winkt.
Ihre roten Haare, pumuckelfrech, das Lachen.
Zu Hause hängt er seine Ausgeh-Persönlichkeit in den Schrank und schlüpft in etwas Bequemeres, Unkompliziertes für den Hausgebrauch. Nimmt die Sonnenbrille ab und sieht lange in den Spiegel, bis er lächeln muss wegen seiner Albernheit, etwas in seinem Spiegelbild erkennen zu wollen. Den Teufel oder was? Von draußen läuten die Kirchenglocken wie bestellt. Polgar kocht Kakao und isst dazu ein Stück Schokoladenkuchen. Atmet hörbar aus.
Das Ticken der großen Wanduhr. Meist hört er es gar nicht; es klingt überlebensgroß, wenn die Zeit knapp und gegen ihn ist; jetzt vergehen die Sekunden in rätselhafter Langsamkeit. Angenehm, die langen Weilen, das Leben ist so kurz. Polgar hört das Tack-Tack-Tack, entscheidet sich, mal einen Gang runterzuschalten; die Zeiger der Zeit ticken unbeeindruckt weiter.
Tikki sitzt in einem fast leeren Abteil. Nur Edith ist noch da, sitzt ihr gegenüber und überlegt, wie sie in Tikki hineinkäme. Die spannt ihre Kiefernmuskeln, verhärtet sich. Keine Tränenzeit, sie will lächeln, lächeln, lächeln. Du kriegst mich nicht, denkt sie. Und weiß, dass Edith sie kriegen wird. Nicht jetzt, aber bald. Sie wird so lange in ihrer Nähe bleiben, bis Tikkis Schilde einen Moment gesenkt sind, um die Kontrolle zu übernehmen und alles umzudrehen.
Die leere Wohnung. Alle Möbel beim Ex. Das Nest, weg. Ihr Herz auch, bei dem, der Edith kennt und weiß, was sie braucht. Der mit Marylin nicht mehr tanzen konnte, ohne sich zu fragen, wann die andere wieder auftauchen wird. Sie zahlt mit klingender Münze für das, was Spaß war; nimmt sich die Typen, wie sie will. Nur die Konvertierungsmaschine ist kaputt, es kommt kein Glück mehr raus; nichtmal eine Zufriedenheit, die durch die Tage trüge. Wie lange? Nicht sehr lange, wenn die Tage konventionell zählten.
Dass es so schnell gehen wird, hätte sie nicht gedacht. Edith ist da. Tikki zwingt sich, fröhliche Musik zu hören. Macht Atem- und Turnübungen. Ediths Welt ist eine Sirupwelt. Das Fröhliche wird übersüßt bis zum Zuckerrausch, klingt viel zu hell bis grell bis überdreht. Die Übungen stoßen auf unsichtbaren Widerstand, geben keine Kraft, sondern rauben sie. Schwere Beine werden schwerer, die Gravitation stärker. Nein.
Edith steht auf der Autobahnbrücke und überlegt, wie sie hergekommen ist, was sie jetzt tun sollte. Nicht loslassen.
Tikki will diese Tiefe nicht mehr ertragen müssen, springen ist so naheliegend. Sie spürt im Rücken das Geländer, vor sich zweimal drei Spuren. Das Rauschen des Verkehrs.
Edith will nicht gehen, sich von einer Brücke stürzen, in den Verkehr hinein. Drama ist großartig, andere mitnehmen, deren Leben in prosaischer Zufriedenheit verlaufen könnte, ist es nicht. Sie will nicht gehen, das Leben ist es wert, erlebt zu werden. Wohin sollte sie, wenn dieser Körper fiele?
Tikki will diesen kleinen Schritt tun, mit einem Mal, das Drängen. Der Sirenengesang des Nichts. Sie macht einen Schritt durch den Sirup.
Edith hält fest, das Bein in der Luft, die Hände um den Stahl.
Am Horizont eine Schlange, die aus vielen kleinen Punkten besteht. Ganz nah: Die milden Luftbewegungen des Abends; ein Vogel, dessen Frequenz über dem Motorenlärm hörbar wird.
Edit beschwört Tikki, bei der Echtheit dieser Eindrücke, hierzubleiben.
Die Punkte sind nähergekommen keine Punkte mehr. Sie verwandeln sich in Motorräder, eine endlos wirkende Prozession von behelmten Harley-Fahrern, deren Zotteln und Mähnen im Fahrtwind wehen. Edith und Tikki sehen, wie einer den Arm auf sie richtet, als zeige er auf sie. Ein Horn ertönt, dunkel und voll, es klingt noch, als der Biker die Brücke unterquert und danach von der anderen Seite.
Die nachfolgenden Fahrer tun es ihm nach. Bald ist die Luft vor und hinter der Brücke vom Hupen erfüllt.
Edith-Tikki stellt das Bein zurück auf die Brücke, schließt die Augen und lauscht dem Gruß der Motorradmänner. Ein paar Minuten können sehr lang sein. Trotzdem haben sie aufgehört, als Tikki auf dem Weg nach Hause eine kurze Melodie pfeift, etwas Einfaches, Leichtes.