Das Testament
Verfasst: So 27 Dez, 2009 01:32
Das Testament
Durch einen gläsernen Tunnel, der uns durch ein Aquarium voller verdorrter Zierpflanzen und regloser, halb zerfledderter, aber noch immer schillernder Kampffischkörper führte, betraten wir seine Gemächer, in die er sich nun schon seit einigen Jahren zurückgezogen hat, kaum noch herausgekommen war und nur noch selten Besucher empfangen hatte. Wie im Foyer und in den Gängen, waren auch in seinem Wohnbereich sämtliche Glühbirnen aus den Fassungen gedreht worden und da auch alle Fenster verhangen waren, drang nur durch eine Luke unter dem Dach etwas Licht hinein. Das hatte er wohl so veranlasst oder es sogar selbst getan, die Birnen ausgeschraubt und teure Tücher und Teppiche vor den Fenstern angebracht, vielleicht um seine Augen vor dem verwilderten Garten zu schützen, in den er einst sein halbes Vermögen gesteckt hatte, den er durch Wasserfälle und eine Voliere in der die farbenprächtigsten Papageien gehalten worden waren, in ein tropisches Paradies verwandelt hatte, und das in der niedersächsischen Provinz wohl einzigartig gewesen war. Wir hatten lange keinen Zutritt mehr gehabt und umso schockierter waren wir, die einstige Pracht völlig verwahrlost und heruntergekommen vorzufinden, hatten zwar mit einigem gerechnet, aber diesen Zusammenbruch eines Lebenswerkes doch niemals in einer derart verheerenden Form erwartet.
Sämtliche Kontaktversuche unsererseits waren von ihm bis zum gestrigen Tage ignoriert worden, all unsere Bemühungen erneut eine Kommunikationsgrundlage, ein persönliches Verhältnis aufzubauen waren samt und sonders bis eben gestern unkommentiert gelassen worden, bis ich in der Post dann plötzlich ein Brief von ihm fand, in dem er uns auf seinen Landsitz einlud und uns sogar nachdrücklich bat, doch bitte dringend, sogar auf dem schnellsten Wege bei ihm zu erscheinen. Ich für meinen Teil hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass ich diese Räumlichkeiten überhaupt noch einmal betreten würde und mich hatte gleich so ein merkwürdiges, beklemmendes Gefühl befallen, als ich seine noch undeutlichere Handschrift zu entziffern versucht hatte. Jetzt, wo ich dieses Haus wieder betreten hatte, in dem ich aufgewachsen war und beinahe umgekommen wäre und das ich nun in einem derart erbärmlichen Zustand vorfand, war dieses Gefühl noch um einiges stärker geworden.
Und auch den Hausherren, meinen Vater, fand ich in einer Verfassung vor, der dem Zustand seiner Villa in nichts nachstand. Alles war in erbärmlichem Zustand und das war umso verwunderlicher, wenn man meinen Vater früher gekannt hat, diesen Menschen, der auf sein Äußeres immer den höchsten Wert gelegt hatte und einen ganzen Hofstaat von Gärtnern und Hausangestellten mit der Aufrechterhaltung seines Anwesens beschäftigt hatte, mit den exotischen Pflanzen, den empfindsamen und seltenen Sittichen und Aras, den Sammlungen, denen er einst ganze Flügel seiner Villa widmete und in die er größere Mengen seines Vermögens investierte. Zwar hatte er nie den Eindruck erweckt, sich für seine Kunstschätze oder die Rekonstruktion seines biblischen Garten Edens besonders zu begeistern oder ein tatsächliches Interesse an den Gebärden und Klängen der Vögel zu haben, aber er hatte nichtsdestotrotz immer den größten Wert darauf gelegt, alles in bester Ordnung und tadellosem Zustand halten zu lassen. Wenn er auf seinen Kontrollgängen den Garten abschritt, achtete er immer nur auf die Unsauberkeiten, ein welkes Blatt, dass die Gärtner nicht abgezupft hatten oder eine Skulptur, die vom Hauspersonal beim Putzen verrückt worden war. Für die Schönheit hatte er sich im Grunde nie begeistert, vielleicht war sie ihm nie aufgefallen, auch wenn er seine Gäste immer mit den ausschweifendtsen Geschichten über seine Anschaffungen zu unterhalten wusste, wenn er sie herumführte und über Stunden beschäftigen konnte. Dennoch hatte er für die Pracht nie etwas übrig gehabt und inzwischen gab es diese Pracht ja auch gar nicht mehr. Von dieser Pracht war nichts mehr übrig geblieben und auch von der einst stolzen Gestalt meines Vaters war nichts mehr übrig. Er war in der Verwerfung seines Lebenswerkes ebenso konsequent gewesen, wie er beim Aufbau dieses Lebenswerkes gewesen war und ich war mir, als ich in dieser jämmerlichen Verfassung sah, ganz sicher, dass nicht nur von seinem Lebenswerk, sondern auch von seinem Leben selbst, bald nichts mehr übrig sein würde und ihm angesichts der Krankheit, von der er so gezeichnet war, oder besser übermalt war, nicht nur die eigene Sterblichkeit, sondern auch die Vergänglichkeit seines Lebenswerkes bewusst geworden war. In dem Moment, in dem er einsehen musste, dass seine Lebenszeit in absehbarer Zeit ausgeschöpft sein würde, machte es für ihn auch keinen Sinn mehr an der materiellen Befestigung und Untermauerung seines Lebensanspruches festzuhalten und ließ also alle seine Ansprüche fallen. Nur so war es auch zu erklären, dass er uns jetzt zu sich ließ und auch den Anspruch auf seinen Stolz, seine Überlegenheit und sein Recht uns gegenüber aufgegeben hatte, gab also all das auf, was er unter den größten Entbehrungen für uns und vielleicht auch für ihn stets aufrecht erhalten hatte.
In der derzeitigen Verfassung hatte er in seinen strikten und erbarmungslosen Denkmustern aber nun jede Berechtigung für diese Gefühle des Stolzes verloren, aus deren Überanspruch all die anderen Ausprägungen seines luxuriösen Statushaushaltes, wie die Papageien und die inzwischen abgehängten Portaits, die ihn im edelsten Zwirn und maßgeschneiderter Jägermontur zeigten, hervorgegangen waren. Und genau diese Gefühle waren eben auch dafür verantwortlich, dass er uns nie verzeihen konnte, dass wir nicht in seine Fußstapfen treten konnten, obwohl wir ja die beste Bildung genossen hatten und schon früh in den väterlichen Betrieben die kostbarsten Erfahrungen machen durften. Das Zerwürfnis und der endgültige Abbruch jedes Kontakts waren für ihn folgerichtig und konsequent gewesen so lange er sich noch etwas auf sich selbst einbilden konnte. Als er krank wurde und in den Vorruhestand gehen musste und das nicht mehr konnte, weil der Tod, der große Gleichmacher, zu dem er wie auch zu uns nie den Kontakt gesucht hatte, sich seinerseits an meinen Vater angenähert hatte, hatte eben dieser Vater also auch wieder zu uns, also zu seinen beiden Söhnen den Kontakt herstellen können und nun standen wir ihm also gegenüber, hatten ihn beinahe zwanzig Jahre nicht gesehen und standen nun dieser kranken, zerfressenen Gestalt gegenüber, die trotz ihrer nahezu allgegenwärtigen Abwesenheit einen derart verheerenden Einfluss auf unser Leben genommen hatte. Es dauert eine Weile, bis er das Wort ergriff und offenbar kostete es ihn die größte Anstrengung und als er dann auch noch sagte, dass er sich wünschte, dass er mehr Zeit gehabt hätte, da wurde ich wirklich wütend. Er hätte alles sagen können und ich hätte ihm vergeben und ihm angesichts seiner ernsten Lage vielleicht alles verziehen, ihm die Verpfuschung und Verstümmelung meines Lebens verziehen, aber als er allen ernstes den Wunsch nach mehr Zeit äußerte, verlor ich jeden Anstand und ich warf ihm vor, dass er die viele Zeit, die ihm zugestanden hatte und die er sich aufgrund seines vielen Geldes ja jederzeit hätte nehmen können, ja niemals effektiv und sinnvoll genutzt hatte, sich immer nur um die Betriebe gekümmert hatte, die Gewinnmaximierung, den Absatzmarkt und die Börsennotierung, aber nicht um uns oder unsere Mutter und nicht mal um die Sittiche. Ich sagte ihm außerdem, das er mit der Zeit, die ihm gegeben war, nichts anzufangen gewusst hatte und dass es damit wohl ziemlich vermessen wäre, zu glauben, dass er mit der Zeit, die ihm nicht gegeben worden war, anders gewesen wäre. Ich warf ihm vor, erst viel zu spät die Bedeutung der Zeit erkannt zu haben, erst als die Zeit sich entschlossen hatte ihn wegzuwerfen, seinerseits aufgehört hatte, die Zeit täglich aufs Neue wegzuwerfen und zu vergeuden. So lange er die Gelegenheit gehabt hatte, hatte er die Zeit jeden Tag aufs Neue ohne die geringste Reue vergeudet und auch verspottet. Er hatte die Zeit immer und immer wieder verspottet und als sie nun einmal ihn verspottete und ihm die Erkenntnis ihrer Kostbarkeit derart spät vermittelte, da regte er sich auf und fühlte sich ungerecht behandelt. Ich brüllte ihn an und teilte ihm mit, dass er es genau deshalb ja im Grunde gar nicht besser verdienen würde und dass er sich eigentlich noch bei der Zeit bedanken sollte, weil sie ihn ja nicht ohne Vorwarnung aus dem Leben gerissen hatte, sondern ihm zum Beispiel noch einige sehr bewusste Augenblicke wie diesen geschenkt hatte, die er aber auch auf die traurigste Art und Weise vergeudete, indem er diesen Moment nicht etwa genoss, sondern nur der verlorenen Zeit, mit der er nie etwas anzufangen gewusst hatte, nachtrauerte und diese Zeit auch nicht mit den Menschen, die ihm immer am nächsten gestanden hatte, verbrachte, sondern mit uns, die ihm von allen Menschen immer am fernsten gewesen waren. Dabei war das eine große Gnade, die ihm die Zeit da gewährte, die er aber erneut nicht zu nutzen verstand und damit statt der von ihm gewünschten Verlängerung seines Lebens, eher noch eine Verkürzung rechtfertigen würde. Ich war jetzt wirklich in Rage und ich schimpfe auf all die Leute, die in ihrer widerwärtigen Gier immer mehr und mehr wollen, obwohl sie es gar nicht brauchen und das mein Vater ja wohl das beste Beispiel für diesen Wesenszug sei. Ich sagte ihm, dass er einfach nie zum Ende kommen konnte, wie damals in den Betrieben, und das es damit nur logisch wäre, dass das Ende irgendwann also zu ihm kommen würde und nun schon fast da sein würde. Als ich ihm das gesagt hatte, ging ich, ging durch den Tunnel. Über mir schimmerten die toten Kampffische.
Wenig später saß ich mit meinem Bruder, der sich mit meinem Vater ausgesöhnt hatte, während ich mich hemmungslos in einer abscheulichen Spielunke betrunken hatte, in unserem Hotelzimmer. Mein Vater war wenige Stunden nachdem ich hinausgestürmt war verstorben und mein Bruder machte mir nun die größten Vorwürfe. In meiner Trunkenheit beugte ich mich zu ihm rüber und sagte ihm, dass ich mich meinem Vater noch nie so nah gefühlt hatte, wie in dem Moment, in dem ich ihn kurz vor seinem Tod aufs Übelste beschimpft hatte, da ich mich genau so verhalten hatte, wie mein Vater es getan hätte, wenn er nicht von der Zeit überrascht worden wäre. Und tatsächlich hatte mein Vater, wie ich später erfuhr, sein Testament unmittelbar nach unserem Besuch noch einmal umändern lassen und vererbte mir die Firma. In einer Randnotiz in seinem Testament hatte er vermerkt, dass zu seiner Freude nun doch einer seiner Söhne die nötige Courage und Härte für die Übernahme der Firma besessen hatte, seinen Weg verfolgte ohne auf falsche Sentimentalitäten Rücksicht zu nehmen und er damit doch noch beruhigt abtreten konnte. Bei der Beerdigung spuckte ich mehrmals auf sein Grab, weil sich der Alte offenbar noch in seinem Todeskampf und trotz all des Theaters gar nicht wirklich verändert hatte wie die Testamentsänderung bestätigte. Seine Firma ruinierte ich innerhalb von zwei Jahren, allerdings ohne das zu wollen. Ich mach halt einfach nicht so besonders viel richtig. Auch daran hat sich in all den Jahren nicht viel geändert.
Durch einen gläsernen Tunnel, der uns durch ein Aquarium voller verdorrter Zierpflanzen und regloser, halb zerfledderter, aber noch immer schillernder Kampffischkörper führte, betraten wir seine Gemächer, in die er sich nun schon seit einigen Jahren zurückgezogen hat, kaum noch herausgekommen war und nur noch selten Besucher empfangen hatte. Wie im Foyer und in den Gängen, waren auch in seinem Wohnbereich sämtliche Glühbirnen aus den Fassungen gedreht worden und da auch alle Fenster verhangen waren, drang nur durch eine Luke unter dem Dach etwas Licht hinein. Das hatte er wohl so veranlasst oder es sogar selbst getan, die Birnen ausgeschraubt und teure Tücher und Teppiche vor den Fenstern angebracht, vielleicht um seine Augen vor dem verwilderten Garten zu schützen, in den er einst sein halbes Vermögen gesteckt hatte, den er durch Wasserfälle und eine Voliere in der die farbenprächtigsten Papageien gehalten worden waren, in ein tropisches Paradies verwandelt hatte, und das in der niedersächsischen Provinz wohl einzigartig gewesen war. Wir hatten lange keinen Zutritt mehr gehabt und umso schockierter waren wir, die einstige Pracht völlig verwahrlost und heruntergekommen vorzufinden, hatten zwar mit einigem gerechnet, aber diesen Zusammenbruch eines Lebenswerkes doch niemals in einer derart verheerenden Form erwartet.
Sämtliche Kontaktversuche unsererseits waren von ihm bis zum gestrigen Tage ignoriert worden, all unsere Bemühungen erneut eine Kommunikationsgrundlage, ein persönliches Verhältnis aufzubauen waren samt und sonders bis eben gestern unkommentiert gelassen worden, bis ich in der Post dann plötzlich ein Brief von ihm fand, in dem er uns auf seinen Landsitz einlud und uns sogar nachdrücklich bat, doch bitte dringend, sogar auf dem schnellsten Wege bei ihm zu erscheinen. Ich für meinen Teil hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass ich diese Räumlichkeiten überhaupt noch einmal betreten würde und mich hatte gleich so ein merkwürdiges, beklemmendes Gefühl befallen, als ich seine noch undeutlichere Handschrift zu entziffern versucht hatte. Jetzt, wo ich dieses Haus wieder betreten hatte, in dem ich aufgewachsen war und beinahe umgekommen wäre und das ich nun in einem derart erbärmlichen Zustand vorfand, war dieses Gefühl noch um einiges stärker geworden.
Und auch den Hausherren, meinen Vater, fand ich in einer Verfassung vor, der dem Zustand seiner Villa in nichts nachstand. Alles war in erbärmlichem Zustand und das war umso verwunderlicher, wenn man meinen Vater früher gekannt hat, diesen Menschen, der auf sein Äußeres immer den höchsten Wert gelegt hatte und einen ganzen Hofstaat von Gärtnern und Hausangestellten mit der Aufrechterhaltung seines Anwesens beschäftigt hatte, mit den exotischen Pflanzen, den empfindsamen und seltenen Sittichen und Aras, den Sammlungen, denen er einst ganze Flügel seiner Villa widmete und in die er größere Mengen seines Vermögens investierte. Zwar hatte er nie den Eindruck erweckt, sich für seine Kunstschätze oder die Rekonstruktion seines biblischen Garten Edens besonders zu begeistern oder ein tatsächliches Interesse an den Gebärden und Klängen der Vögel zu haben, aber er hatte nichtsdestotrotz immer den größten Wert darauf gelegt, alles in bester Ordnung und tadellosem Zustand halten zu lassen. Wenn er auf seinen Kontrollgängen den Garten abschritt, achtete er immer nur auf die Unsauberkeiten, ein welkes Blatt, dass die Gärtner nicht abgezupft hatten oder eine Skulptur, die vom Hauspersonal beim Putzen verrückt worden war. Für die Schönheit hatte er sich im Grunde nie begeistert, vielleicht war sie ihm nie aufgefallen, auch wenn er seine Gäste immer mit den ausschweifendtsen Geschichten über seine Anschaffungen zu unterhalten wusste, wenn er sie herumführte und über Stunden beschäftigen konnte. Dennoch hatte er für die Pracht nie etwas übrig gehabt und inzwischen gab es diese Pracht ja auch gar nicht mehr. Von dieser Pracht war nichts mehr übrig geblieben und auch von der einst stolzen Gestalt meines Vaters war nichts mehr übrig. Er war in der Verwerfung seines Lebenswerkes ebenso konsequent gewesen, wie er beim Aufbau dieses Lebenswerkes gewesen war und ich war mir, als ich in dieser jämmerlichen Verfassung sah, ganz sicher, dass nicht nur von seinem Lebenswerk, sondern auch von seinem Leben selbst, bald nichts mehr übrig sein würde und ihm angesichts der Krankheit, von der er so gezeichnet war, oder besser übermalt war, nicht nur die eigene Sterblichkeit, sondern auch die Vergänglichkeit seines Lebenswerkes bewusst geworden war. In dem Moment, in dem er einsehen musste, dass seine Lebenszeit in absehbarer Zeit ausgeschöpft sein würde, machte es für ihn auch keinen Sinn mehr an der materiellen Befestigung und Untermauerung seines Lebensanspruches festzuhalten und ließ also alle seine Ansprüche fallen. Nur so war es auch zu erklären, dass er uns jetzt zu sich ließ und auch den Anspruch auf seinen Stolz, seine Überlegenheit und sein Recht uns gegenüber aufgegeben hatte, gab also all das auf, was er unter den größten Entbehrungen für uns und vielleicht auch für ihn stets aufrecht erhalten hatte.
In der derzeitigen Verfassung hatte er in seinen strikten und erbarmungslosen Denkmustern aber nun jede Berechtigung für diese Gefühle des Stolzes verloren, aus deren Überanspruch all die anderen Ausprägungen seines luxuriösen Statushaushaltes, wie die Papageien und die inzwischen abgehängten Portaits, die ihn im edelsten Zwirn und maßgeschneiderter Jägermontur zeigten, hervorgegangen waren. Und genau diese Gefühle waren eben auch dafür verantwortlich, dass er uns nie verzeihen konnte, dass wir nicht in seine Fußstapfen treten konnten, obwohl wir ja die beste Bildung genossen hatten und schon früh in den väterlichen Betrieben die kostbarsten Erfahrungen machen durften. Das Zerwürfnis und der endgültige Abbruch jedes Kontakts waren für ihn folgerichtig und konsequent gewesen so lange er sich noch etwas auf sich selbst einbilden konnte. Als er krank wurde und in den Vorruhestand gehen musste und das nicht mehr konnte, weil der Tod, der große Gleichmacher, zu dem er wie auch zu uns nie den Kontakt gesucht hatte, sich seinerseits an meinen Vater angenähert hatte, hatte eben dieser Vater also auch wieder zu uns, also zu seinen beiden Söhnen den Kontakt herstellen können und nun standen wir ihm also gegenüber, hatten ihn beinahe zwanzig Jahre nicht gesehen und standen nun dieser kranken, zerfressenen Gestalt gegenüber, die trotz ihrer nahezu allgegenwärtigen Abwesenheit einen derart verheerenden Einfluss auf unser Leben genommen hatte. Es dauert eine Weile, bis er das Wort ergriff und offenbar kostete es ihn die größte Anstrengung und als er dann auch noch sagte, dass er sich wünschte, dass er mehr Zeit gehabt hätte, da wurde ich wirklich wütend. Er hätte alles sagen können und ich hätte ihm vergeben und ihm angesichts seiner ernsten Lage vielleicht alles verziehen, ihm die Verpfuschung und Verstümmelung meines Lebens verziehen, aber als er allen ernstes den Wunsch nach mehr Zeit äußerte, verlor ich jeden Anstand und ich warf ihm vor, dass er die viele Zeit, die ihm zugestanden hatte und die er sich aufgrund seines vielen Geldes ja jederzeit hätte nehmen können, ja niemals effektiv und sinnvoll genutzt hatte, sich immer nur um die Betriebe gekümmert hatte, die Gewinnmaximierung, den Absatzmarkt und die Börsennotierung, aber nicht um uns oder unsere Mutter und nicht mal um die Sittiche. Ich sagte ihm außerdem, das er mit der Zeit, die ihm gegeben war, nichts anzufangen gewusst hatte und dass es damit wohl ziemlich vermessen wäre, zu glauben, dass er mit der Zeit, die ihm nicht gegeben worden war, anders gewesen wäre. Ich warf ihm vor, erst viel zu spät die Bedeutung der Zeit erkannt zu haben, erst als die Zeit sich entschlossen hatte ihn wegzuwerfen, seinerseits aufgehört hatte, die Zeit täglich aufs Neue wegzuwerfen und zu vergeuden. So lange er die Gelegenheit gehabt hatte, hatte er die Zeit jeden Tag aufs Neue ohne die geringste Reue vergeudet und auch verspottet. Er hatte die Zeit immer und immer wieder verspottet und als sie nun einmal ihn verspottete und ihm die Erkenntnis ihrer Kostbarkeit derart spät vermittelte, da regte er sich auf und fühlte sich ungerecht behandelt. Ich brüllte ihn an und teilte ihm mit, dass er es genau deshalb ja im Grunde gar nicht besser verdienen würde und dass er sich eigentlich noch bei der Zeit bedanken sollte, weil sie ihn ja nicht ohne Vorwarnung aus dem Leben gerissen hatte, sondern ihm zum Beispiel noch einige sehr bewusste Augenblicke wie diesen geschenkt hatte, die er aber auch auf die traurigste Art und Weise vergeudete, indem er diesen Moment nicht etwa genoss, sondern nur der verlorenen Zeit, mit der er nie etwas anzufangen gewusst hatte, nachtrauerte und diese Zeit auch nicht mit den Menschen, die ihm immer am nächsten gestanden hatte, verbrachte, sondern mit uns, die ihm von allen Menschen immer am fernsten gewesen waren. Dabei war das eine große Gnade, die ihm die Zeit da gewährte, die er aber erneut nicht zu nutzen verstand und damit statt der von ihm gewünschten Verlängerung seines Lebens, eher noch eine Verkürzung rechtfertigen würde. Ich war jetzt wirklich in Rage und ich schimpfe auf all die Leute, die in ihrer widerwärtigen Gier immer mehr und mehr wollen, obwohl sie es gar nicht brauchen und das mein Vater ja wohl das beste Beispiel für diesen Wesenszug sei. Ich sagte ihm, dass er einfach nie zum Ende kommen konnte, wie damals in den Betrieben, und das es damit nur logisch wäre, dass das Ende irgendwann also zu ihm kommen würde und nun schon fast da sein würde. Als ich ihm das gesagt hatte, ging ich, ging durch den Tunnel. Über mir schimmerten die toten Kampffische.
Wenig später saß ich mit meinem Bruder, der sich mit meinem Vater ausgesöhnt hatte, während ich mich hemmungslos in einer abscheulichen Spielunke betrunken hatte, in unserem Hotelzimmer. Mein Vater war wenige Stunden nachdem ich hinausgestürmt war verstorben und mein Bruder machte mir nun die größten Vorwürfe. In meiner Trunkenheit beugte ich mich zu ihm rüber und sagte ihm, dass ich mich meinem Vater noch nie so nah gefühlt hatte, wie in dem Moment, in dem ich ihn kurz vor seinem Tod aufs Übelste beschimpft hatte, da ich mich genau so verhalten hatte, wie mein Vater es getan hätte, wenn er nicht von der Zeit überrascht worden wäre. Und tatsächlich hatte mein Vater, wie ich später erfuhr, sein Testament unmittelbar nach unserem Besuch noch einmal umändern lassen und vererbte mir die Firma. In einer Randnotiz in seinem Testament hatte er vermerkt, dass zu seiner Freude nun doch einer seiner Söhne die nötige Courage und Härte für die Übernahme der Firma besessen hatte, seinen Weg verfolgte ohne auf falsche Sentimentalitäten Rücksicht zu nehmen und er damit doch noch beruhigt abtreten konnte. Bei der Beerdigung spuckte ich mehrmals auf sein Grab, weil sich der Alte offenbar noch in seinem Todeskampf und trotz all des Theaters gar nicht wirklich verändert hatte wie die Testamentsänderung bestätigte. Seine Firma ruinierte ich innerhalb von zwei Jahren, allerdings ohne das zu wollen. Ich mach halt einfach nicht so besonders viel richtig. Auch daran hat sich in all den Jahren nicht viel geändert.