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Und in die nächste Heimat.

Beitragvon Neruda » Mi 17 Feb, 2010 20:53


Fingernägel kratzen Tapetenreste von den Wänden, die Kuppen wie Schmirgelpapier, ein Hauch von roter Farbe in den Vertiefungen. Der Raum ist fast leer. Nur ein weißer Ledersessel steht noch auf dem zerkratzten Parkettboden. Ein Erbstück. Mein Vater hatte nie einen sonderlich guten Geschmack. Ich brauche nicht viel zum leben. Erst recht keinen weißen Ledersessel. Er wird bleiben. Er ist alles was bleibt.

Gestern habe ich K. noch einmal angerufen um mich zu verabschieden. Dass ich weggehe habe ich ihr nicht gesagt. Ein Lebwohl ist nicht nötig; wir werden uns nicht vermissen. Freunde waren wir nicht, nur ein willkommener Zeitvertreib. Hin und wieder haben wir einen trockenen Martini getrunken und über das Leben gesprochen. Oder das, was man im Allgemeinen Leben nennt. Was es eigentlich ist habe ich immer noch nicht herausgefunden. Manchmal hat sie von M. erzählt. Er behandelt sie nicht gut, aber sie glaubt sie würde ihn lieben. Ich glaube nicht an Liebe. Oder an Freundschaft. Ich habe meist nur zugehört und geschwiegen, ab und zu auch mal genickt. Was hätte ich ihr auch raten sollen?

Gestern wollte ich nur noch einmal ihre Stimme hören, diesen rauen Klang, der an Blues und dreckige Barhocker erinnert. Eine angenehme Stimme. Es war beruhigend ihr zuzuhören. Manchmal frage ich mich, ob ich etwas hätte sagen sollen. Hätte ich ihr raten sollen M. zu verlassen? Vermutlich hätte sie sowieso nicht auf mich gehört.
Ab morgen bin ich nicht mehr da. Es war besser sie nicht daran zu gewöhnen Hilfe zu haben. Am Ende steht man ja doch alleine da. Am Ende bleibt nicht viel.
Zuerst erinnert man sich noch an jedes Detail, dann nur noch vage an einige Abende und schließlich gerät alles in Vergessenheit. Es war eine gute Zeit. Vermissen werde ich sie nicht. Und K. wird vergessen. So wie sie die Schläge vergessen hat.

Ich schaue mich um. Hier habe ich also die letzten drei Jahre verbracht. Hinter dunklen Gardinen im Kerzenlicht. Die Gardinen sind schon verpackt. Im Sonnenlicht sieht der Raum plötzlich ganz anders aus. So als hätte ich hier niemals gelebt. Schon morgen habe ich hier niemals gelebt.
Während ich mich umschaue, fällt mir etwas auf. Ich bücke mich; unter meinem Pullover treten die Rippen hervor. Manchmal frage ich mich ob sie sich wohl in mein Inneres bohren werden wenn ich wieder aufstehe. Sie tuen es nicht. Und trotzdem fällt es mir schwer zu atmen. Unter der Heizung finde ich eine milchig-weiße Glasscherbe. Es ist ein Relikt aus vergangenen Tagen. Ein Teil eines Kerzenhalters, den K. gegen die Wand warf, als sie erfuhr, dass M. sie betrogen hatte. Das war meine Aufgabe: Ihr beim Weinen zuzusehen und ihr Gläser zu geben, die sie an die Wand werfen konnte. Das kann jeder andere genauso gut wie ich. Ich werde ihr nicht fehlen. Sie wird kaum bemerken, dass ich nicht mehr da bin.
Ich schließe die Finger über der Glasscherbe; sie ist stumpf. Es schmerzt nicht, nur ein leichter Druck ist zu spüren. Dann lasse ich sie in meiner Manteltasche verschwinden.

Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. Es gibt kein zurück mehr. Die Schlüssel habe ich schon abgegeben. Vielleicht lasse ich K. den weißen Ledersessel liefern. Dann weiß sie, dass ich nicht mehr da bin. Dass sie jetzt die Gläser von jemand anderem zerbrechen muss.
"...and the poets are just kids who didn't make it." -Fall Out Boy-
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