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Gefangen im Skilift

Beitragvon schreibhexe » Mi 07 Apr, 2010 18:52


Gefangen im Skilift

Eigentlich hätte ich auf der Piste ins Tal fahren sollen. Aber als Neuling in diesem Gebiet traute ich mir die steile Abfahrt am Spätnachmittag nicht mehr zu. Meine Beine zitterten, ich war müde. Müde und doch auch sehr befriedigt vom Erlebnis dieses strahlenden, trockenkalten Tages im schneesicheren Gletschergebiet, noch ganz erfüllt von rasanten Abfahrten im knirschenden Schnee und eindrucksvollen Aussichten auf die hohen Gipfel des Zentralmassivs. Kaum hatte ich mich trennen können von der durchsonnten Stille der majestätischen Landschaft, nur unterbrochen von den Schleifgeräuschen der Skier im Schnee. Doch letztlich hatte mir die sich neigende Sonne den frühen Abend angezeigt und mich daran erinnert, dass ich die letzte Abfahrt des Lifts erreichen musste.
Rechtzeitig dort angekommen, erlebte ich eine böse Überraschung. Ich war ich weit und breit der einzige Passagier, ein Verbotsschild verweigerte den Einstieg. Ich ignorierte es ebenso wie eine niedrige Absperrung, die ich überstieg. Verwundert und verärgert fragte ich mich, welchen Grund es geben sollte, die Talfahrt zu verbieten? Schließlich hatte mich beim Kauf der Liftkarte niemand auf die Sperrung der Bergstation hingewiesen und ich war wirklich ausgepowert. Die letzte Abfahrt wollte ich um keinen Preis auf der Piste fahren. Was, wenn ich vor Erschöpfung stürzte und mich verletzte? Dort unten wäre ich ganz allein. Keiner könnte mich finden. Mein Handy hatte ich dummer Weise zu Hause liegen lassen. Wirklich dämlich. Ich hätte mich ohrfeigen können. Doch es war nun mal nicht zu ändern. Allmählich begann es auch zu dämmern. Nein, das Risiko war mir zu groß und die Aussicht auf eine bequeme Abfahrt im Lift sehr verlockend. Entspannt lehnte ich mich also in dem Sessel zurück, baumelte mit den Skiern und gab mich der sanften Gleitfahrt hin. In wenigen Minuten würde mich der Lift ins Tal getragen haben.
Die Baumgrenze war schon erreicht, die Sonne hinter den höher werdenden Gipfeln verschwunden, deren letzte schräge Strahlen sie in ein rötliches Glühen eintauchte; vom Tal her kroch blau die Dämmerung herauf und unter mir ragten die ersten Fichtenwälder dunkel die Steilhänge empor. Es wurde kälter.
Da ruckte es und der Sessellift stand.
Ein tiefer Schreck durchzuckte mich. Was war geschehen? Ein Defekt? Ein Stromausfall? Man würde ihn sicherlich schnell beheben. Mach dir keine Sorgen. In wenigen Minuten wird es weitergehen.
Doch Minute um Minute zerrann, nichts geschah.
Einzig eine Schar Krähen fiel in die Fichtenwipfel ein. Sie kreisten krächzend am Himmel, bevor sie ihr Nachtlager aufsuchten. Jetzt war nichts Erhabenes mehr zu spüren, ein Grauen schlich sich in mein Gemüt ein, ich fühlte mich dieser Wildnis unerbittlich ausgeliefert, hatte blanke Angst.
Da fing ich an zu rufen. Unter mir wedelten die letzten Skiläufer die Piste abwärts, ich konnte sie im Dämmerlicht noch erkennen. Aber sie hörten mich nicht. Die Entfernung war zu groß.
Nun hing ich da. Wohl zwanzig Meter über der Schneedecke, gefangen in diesem verdammten Skilift. Noch nicht einmal in der Nähe einer Stütze, an der ich mich vielleicht hätte herunterhangeln können. Nichts zu essen. Nichts zu trinken. Aller Proviant aufgezehrt. Kein Handy, mit dem ich hätte Hilfe herbei rufen können und es wurde unerbittlich dunkler.
Was haben die Leute eigentlich früher ohne Handy gemacht? schoss es mir durch den Kopf. Offenbar haben sie deutlich gefährlicher gelebt. Steinzeit! Nun hing ich da oben in dem Sessel und fühlte mich in die Steinzeit zurück katapultiert, nur weil versagende Technik und meine Vergesslichkeit eine unheilige Allianz eingegangen waren. Vielleicht aber hatte die Technik gar nicht versagt? Vielleicht hatte das Liftpersonal einfach Feierabend gemacht in der Annahme, dass niemand mehr kommen würde? Siedendheiß fiel mir das Verbotsschild auf der Bergstation ein. Natürlich! Die waren gar nicht darauf eingestellt, dass da noch jemand unterwegs war. Das konnte ja heiter werden. Geballte Wut erfasste mich. Mir steht eine kalte, einsame Nacht im Sessellift bevor, nur weil die vor Feierabend zu faul sind, die Strecke noch einmal abzufahren. Wenn ich erst mal hier befreit bin, kriegen die eine Klage an den Hals, die sich gewaschen hat. Gott sei Dank halten mich mein Skianzug und meine Handschuhe warm.
Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Über mir ein klarer Sternenhimmel, ein untrügliches Zeichen für eine eisige Nacht. Die Milchstraße quer über den Himmel war deutlich zu erkennen. Wann konnte man sie schon mal so klar und von künstlichem Licht unüberstrahlt betrachten? Unter anderen Umständen hätte ich mich wohl faszinieren lassen. Jetzt aber war sie Grund für höchste Besorgnis. Ich stellte mir vor, wie man mich in den Morgenstunden steif gefroren finden würde. Ich bäumte mich auf:
Hilfe! Hilfe!
Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Herrgott nochmal, hört mich denn keiner? Es muss mich doch jemand hören! Allmählich wurde mir klar, dass es ernst war. Panik überfiel mich. Mir fiel meine Freundin ein. Wie sehr wünschte ich mir, ich wäre jetzt bei ihr und unserem Kind. Die beiden hatten nicht mitkommen können, weil die Kleine einen Schnupfen hatte. Sie fehlten mir so sehr. Was sollten sie machen, wenn ich nicht mehr da wäre? Mein Kind würde ohne Vater aufwachsen. Sie brauchten mich doch. Meine Eltern fielen mir ein, mit denen ich hier ein paar Tage Urlaub verbrachte. Ich glaube, meine Mutter hätte es nicht überlebt, ihren einzigen Sohn zu verlieren. Mein ganzes Leben lang hat sie ängstlich über mich gewacht, damit mir auch ja nichts passiert, ihrem Einzigen. Als Junge war es immer schwer gewesen, mir heimliche Freiräume zu verschaffen. Dauernd hat sie mich bevormundet und bemuttert. Meine Freunde und Studienkollegen fielen mir ein. Was würden sie wohl sagen? Selber schuld? Durch meinen Schneeanzug fühlte ich bereits die Kälte kriechen. Was, wenn ich sie alle nie wiedersehen würde?
Stell dich nicht so an! Die Kälte bildest du dir nur ein. Denk an deine Freundin, an ihre Wärme. An dein Kind, wie es seine Ärmchen um dich schlingt. Das wird dich warm halten. Ach, wenn ich sie nur herbeirufen könnte!
Das ist es: Telepathie! Das hat man doch schon oft gehört: Einer ist in großer Not und ein Angehöriger bekommt es plötzlich mit der Angst zu tun. Also, konzentriere dich. Richte deine ganze Aufmerksamkeit auf deine Freundin. Auf deine Eltern. Schrei sie an in Gedanken. Vielleicht merken sie ja, was mit dir ist.
Ach Quatsch. Man würde mich auch so vermissen. Wahrscheinlich beunruhigten sich meine Eltern längst. Oder meine Freundin. Sie erwartete heute Abend meinen Anruf. Vielleicht hatten sie bereits die Bergwacht alarmiert. Tröstlich stieg dieser Gedanke in mir auf und ich wurde ruhiger. Wenn ich erst mal wieder festen Boden unter den Füßen hätte, würd’ ich allen erzählen, was für ein tolles Abendteuer ich hier erlebt habe.
Nein, das tust du nicht. Du müsstest ja von deiner eigenen Dämlichkeit erzählen.
Diese Finsternis! Etwas reflektiert der Schnee ja. Noch nicht einmal der Mond scheint. Alles hat sich, scheint es, gegen mich verschworen. Was knackt da in den Bäumen? Wahrscheinlich sprengt der Frost einen Ast ab oder irgend ein Wild streift durchs Unterholz.
Langsam kriecht Müdigkeit in meinen Kopf, in meine Glieder. Etwas schlafen. Etwas Kraft schöpfen. Die Zeit schlafend überbrücken. Die Kälte spüre ich gar nicht mehr so sehr. Mir ist sogar ein wenig wohlig, träumerisch.
Doch da schrak ich hoch. Du darfst nicht schlafen. Hast du nicht immer gelesen, gehört, dass man bei Frost nicht einschlafen darf? Dass man sonst erfriert? Mir fielen meine Jugendbücher von Jack London ein, dem Goldsucher am Yucon. Ach was, dein Anzug hält dich doch warm. Mütze und Kapuze fest um den Kopf gezogen, die Fäustlinge an den Händen, so kann ich mir ein Nickerchen doch leisten, oder? Träge sackte ich wieder in mich zusammen.
Wenn ich nur die Skier abschnallen könnte. Sie baumelten mittlerweile wie Klötze an meinen Füßen. Ich werde sie abwerfen. Vielleicht kann ich sie hier ja irgendwie aufstellen? Ich muss sie doch dem Skiverleih zurückbringen. Jetzt war ich wieder ganz wach geworden. Auch mein Hintern war schon ganz taub. Wann merken die denn im Hotel endlich, dass ich nicht zurückkomme? Jetzt könnte die Ängstlichkeit meiner Mutter einmal von Nutzen sein.
Ich beugte mich nach vorn über den Bügel, der mich festhielt, um an meine Skibindungen zu kommen, versuchte die linke vorsichtig zu lösen und gleichzeitig den Ski mit der rechten Hand festzuhalten. Tatsächlich, das gelang, trotz der dicken Handschuhe. Jetzt den Ski schwenken, in den Liftsessel bugsieren, senkrecht stellen, mit dem Rücken festhalten und dann den anderen Ski lösen. Da rutschte der erste Ski weg und stürzte in den Abgrund.
Himmelverdammichnochmal!
Ist ja auch klar, wenn ich mit untauglichen Mitteln arbeite. Kein Riemen, um den Ski am Sessel festzuschnallen. Aber den anderen Ski muss ich auch los werden. Egal, ob er abstürzt. Meine Füße fühlen sich an wie Eiszapfen. Wenigstens haben die Turnübungen meinen Kreislauf wieder etwas in Schwung gebracht.
Wie lange hänge ich denn schon hier oben? Drei Stunden? Meine Uhr zeigt sieben. In der Dunkelheit sehe ich ihre Leuchtzeiger. Wie die Zeit dahin schleicht! Grausiger Gedanke, dass ich noch eine ganze Nacht vor mir haben könnte. Wie stehe ich das bloß durch? Ich könnte heulen! Wie sagt man doch? Auf See und vor Gericht in Gottes Hand? Hier oben ganz sicher auch. Wenn dir sonst niemand hilft, vielleicht hilft dir ja Gott. Aber wer ist das? Die Unbekannte in einer Gleichung? In welcher Gleichung? Heutzutage sind wir aufgeklärt und der Kosmos ist so was von erforscht. Das ist alles Sache von Physikern und Kosmologen. Da wird beobachtet, vermessen, berechnet. Für Gott ist da kein Platz. Genauso gut kannst du an Astrologie glauben. Eher schon glaube ich an den Satz: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott. Trotzdem: Es ist schön, an etwas Höheres als mich selbst zu glauben. Man fühlt sich so ... so ... bescheiden und ... getragen. Meine Gedanken trieben ab.
Lieber Gott, bitte, bitte, mach, dass ich hier weg komme!
Ach Scheiße! Soll er mir Flügel wachsen lassen?
Ich zitterte am ganzen Körper. Vielleicht gibt mir ja dieser Gott noch einen klugen Gedanken ein?
Was hab ich noch in meinem Rucksack? Wie blind und voll hektischer Unruhe tastete ich herum. So also fühlt es sich an, wenn man blind ist. Ist noch Kaffee in der Thermosflasche? Wenigstens ein winziger Schluck? Das täte jetzt gut. Nein, die Flasche ist leer. Aber hier: Mein Feuerzeug. Jetzt kann ich etwas Licht machen. Ein wenig schwindet das Gefühl des Ausgesetztseins. Das Feuerzeug hilft, meine Panik im Zaum zu halten. Es ist ein Funke, etwas Vertrautes.
Da: Unter mir in einiger Entfernung kriechen Schneeraupen den Hang hinauf. Ich sehe ihre Lichter, ich höre ihre Motoren. Sie präparieren die Piste für morgen. Vielleicht kannst du sie irgendwie auf dich aufmerksam machen. Und ich schrie und rief und wedelte mit den Armen, ich suchte noch einmal im Rucksack nach Dingen, die ich nutzen konnte, um auf mich aufmerksam zu machen. Die Landkarte konnte ich doch zu einer Art Fahne umfunktionieren. Sie würde weiß in der Dunkelheit erscheinen und von unten gut gesehen werden. Wenn es doch nur etwas Mondlicht gäbe, wenn in der Schwärze doch nur jemand heraufblickte!
Nein, dieses Signal mit der Landkarte war wohl zu schwach. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen. Im Rucksack fand ich noch mein Portmonee. Aber was sollte ich damit anfangen?
Verzweifelt brach ich zusammen. Nun fing ich wirklich an zu heulen. Die mögliche Rettung in greifbarer Nähe und trotzdem hoffnungslos. Keine Chance mich bemerkbar zu machen. Statt-dessen hielt ich mein Geld in den Händen. Dieses Scheißgeld!
Wieder begann ich zu schreien, zu rufen, meine Stimme krächzte nur noch: Hilfe, Hilfe!
Die Raupen fuhren aufwärts, abwärts, planierten den Boden, gleichmütig eine Bahn nach der anderen ziehend. Allmählich kamen die Scheinwerfer und der Motorenlärm etwas näher. Doch mein Rufen blieb ungehört.
Ich zermarterte mir mein Hirn. Was musste ich anstellen, um mich bemerkbar zu machen? Ich stellte mir vor, ich wäre einer der Fahrer da unten. Was müsste geschehen, damit ich trotz Motorenlärm nach oben blickte?
Es müsste etwas sein, das ich aus den Augenwinkeln sehen, das mich interessieren würde, etwas Bewegtes, etwas, das mich überraschte. Etwas Helles, Blitzendes. Etwas, das nicht hier her gehörte. Eine Sternschnuppe zum Beispiel. Aber wie eine Sternschnuppe jetzt herzaubern? Ich benahm mich wie ein Kindskopf. Ach, hätte ich doch nur eine Leuchtrakete!
Ich könnte ja ... Einen Versuch war es wert. So etwas wie eine Leuchtrakete könnte ich mir selbst basteln. In irrer Hoffnung dachte ich plötzlich mein Feuerzeug und meine Geldscheine zusammen. Die Wirkung wäre zwar mit einer Leuchtrakete nicht im Mindesten vergleichbar, aber einen Versuch war es wert ...
Rasch zählte ich meine Geldscheine, es waren acht. Jeder Einzelne könnte meine Rettung sein. Ließen sie sich denn überhaupt anzünden? Und brannten sie genügend lange? Würden sie nicht ausgehen während ihres Falls zu Boden? Wenn das gelänge! Dies wäre die Investition meines Lebens. Lieber, lieber Gott, lass dies Experiment gelingen, ich bitte Dich!
Feierlich und ängstlich zugleich zog ich meine Handschuhe aus, nahm den Schein mit dem geringsten Wert (warum eigentlich?), öffnete mein Feuerzeug und zündete ihn an einer Ecke an. Er brannte. Ich schwenkte ihn hin und her, er brannte weiter. Die Flamme war nicht sehr hell, ich zweifelte, ob sie aus der Entfernung überhaupt gesehen werden konnte; aber der Schein brannte, langsam, bedächtig, kein Strohfeuer. Ich ließ den brennenden Schein los. Langsam schwebte er – nein, nicht zu Boden, sondern durch die Hitze aufwärts getrieben, in die Höhe. Dort sprühte er Funken, entfaltete sein Licht und sank dann erst, schwächer brennend, langsam in die Tiefe. Mehr konnte ich mir nicht wünschen.
Ich fing wieder an zu schreien, mit der Landkarte zu wedeln. Zusammen mit dem brennenden Geldschein musste ich doch gesehen werden. Das musste doch auffallen.
Dann wartete ich ein Weilchen. Mit den Geldscheinen musste ich sparsam umgehen, durfte mein Pulver nicht zu schnell verschießen. Auch wenn ich inzwischen von einer wahnwitzigen Ungeduld getrieben wurde.
Was machten die Schneeraupen jetzt? Ihr Dröhnen war etwas lauter geworden, ihre Lichtkegel schienen etwas näher zu kommen. Aber immer noch arbeiteten sie gleichmütig weiter. Niemand hatte anscheinend etwas Auffälliges wahrgenommen.
Inzwischen war es neun Uhr abends geworden, der Frost immer beißender, meine Lage immer verzweifelter. Damit ich nicht ganz steif vor Kälte wurde, schlug ich meine Arme um meinen Körper, immer wieder, immer wieder.
Ich nahm mir vor, alle fünfzehn Minuten einen Geldschein zu verbrennen. Ich hatte also noch knapp zwei Stunden. Dann musste ich gefunden worden sein. Wenn nicht, war das mein sicherer Tod.
Zehn Minuten später zündete ich den zweiten Geldschein an. Auch er brannte gleichmäßig, nicht zu stark und nicht zu schwach, auch er schwebte zunächst in die Höhe, dann sprühte er eine Anzahl Funken, wahrscheinlich verbrannte der Sicherheitsstreifen aus Aluminium, und sank schließlich im Schwächerwerden der Flammen allmählich in die Tiefe. Da er aber größer war, war er auch länger zu sehen.
Warten. Warten auf Reaktionen. Und rufen. Sich die Seele aus dem Leib schreien.
Nichts. Wieder nichts. Ich stürzte in schwarze Verzweiflung. Mein Tod war wohl schon beschlossene Sache.
Wieso kamen keine Suchhubschrauber? Wieso hatte ich nur mein Handy liegen gelassen? Es hatte eine Meinungsverschiedenheit zwischen mir und meiner Mutter gegeben. Mein Vater hatte sich eingemischt. Beide nahmen mir meine Extratour, wie sie es nannten, übel. Sie meinten, es wäre leichtsinnig, alleine, ohne Gruppe ins Hochgebirge zu fahren. Ich würde die Gegend doch gar nicht kennen. Sie hatten von Lawinengefahr gesprochen und von Gletscherspalten. Dabei war es viel zu kalt für Lawinen. Sie trauten mir einfach nichts zu. Dabei hatte ich mich vorher bei einem Bergführer genau erkundigt. Es war immer das Gleiche. Vor Ärger war ich fahrig geworden. Ich brauchte diese Auszeit. Ich wollte so schnell wie möglich weg, weg von meinen Eltern. Da musste ich wohl im letzten Augenblick mein Handy vergessen haben. Diese Unachtsamkeit sollte jetzt mein Tod sein.
Wieder einmal zermarterte ich mir mein Hirn. Ich war so müde. Wenn ich nur schlafen dürfte!
Blick auf die Armbanduhr, fünfzehn Minuten vorbei, der nächste Geldschein. Wieder das kleine Feuerwerk, wieder keine Reaktion.
Und noch einmal und noch einmal. Die Raupen arbeiteten und arbeiteten und nichts änderte sich.
Fünf Geldscheine waren verbraucht, drei noch übrig. Jetzt konnte nur noch ein Wunder geschehen. Fast schon fand ich mich damit ab, dass man mich nicht rechtzeitig finden würde. Ich versank in Apathie.
Ich musste wohl tatsächlich einige Minuten geschlafen haben. Mit einem Ruck und voll Schrecken erwachte ich wieder, schaute auf die Uhr. Höchste Zeit, den nächsten Geldschein zu verbrennen.
Ist doch eigentlich egal. Die bemerken mich ja doch nicht. Was macht das schon, wenn ich weg bin? Sterben müssen wir alle. Die Einen früher, die Anderen später. Und dein Mädchen? Und dein Kind? Willst du sie wirklich allein lassen? Der Gedanke mobili-sierte meine Lebenskräfte wieder. Also, Geldschein verbrennen. Mit den Augen folgte ich seiner Leuchtspur. Unten drehte eine der Schneeraupen kurz ihren Lichtkegel in meine Richtung. Plötzlich war ich wieder ganz da. Vor lauter Hoffnung schrie ich wild auf:
Hilfe! Hilfe! Hier bin ich!
Doch niemand dachte daran, den Motor auszuschalten. Der Lärm verschluckte all mein Schreien. Wie bisher auch. Irgendetwas muss denen jedoch aufgefallen sein. Schnell den nächsten Geldschein hinterher.
Bitte, bitte! Schaut in meine Richtung. Stellt den Motor ab!
Und tatsächlich: Der Lichtkegel der Raupe von vorhin wanderte wieder in meine Richtung. Suchte am Lift entlang, sah mich aber nicht.
Hilfe! Ja, hier bin ich! Hier oben!
Niemand hörte mich, wie bisher auch.
Verzweiflung machte sich wieder breit. Mit flatternden Nerven fingerte ich den letzten Geldschein aus der Tasche.
Der letzte Geldschein. Wenn sie den nicht beachten, dann bin ich geliefert. Ich küsste ihn, flüsterte ihm zu wie irre:
Tu deine Arbeit. Mach sie gut. Bitte! Du bist wertvoller als alles, was auf dir steht. Du bist ein ganzes Leben wert!
Und er brannte, schwebte wie alle anderen, schickte Funken nach unten und zeichnete im Fallen eine dünne Leuchtspur.
Da wurden die Motoren ausgeschaltet und alle Lichtkegel drehten sich nach mir um. Ich war gerettet!
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Re: Gefangen im Skilift

Beitragvon Struppigel » So 15 Aug, 2010 13:12


Hallo Schreibhexe,

der Text ist nach meinem Geschmack. Zeigt er doch, wie aus einer banalen Situation heraus, eine spannende, wenn gar dramatische Geschichte entstehen kann.
Schön auch, wie die Stimmungen wechseln von Erschrecken, zu Angst, zu Zuversicht, zu Wut, zu erneuter Angst und zuletzt zu Verzweilfung und Aufgabe. Etwas länger könnte für meinen Geschmack aber eine Zuversichtsphase am Anfang sein, wenn die Kälte noch nicht in den Knochen liegt. Die Angst kommt hier meines Erachtens zu schnell, so dass der spätere Satz "Allmählich wurde mir klar, dass es ernst war." nicht ehrlich klingt – er hatte doch vorher schon horrende Angst und Todesvorstellungen.

Den Titel könntest Du noch mal überdenken. Er verrät schon die Essenz des Textes und nimmt ein mögliches Spannungsfeld weg.

Der folgende Absatz enthält inhaltliche Wiederholungen. Das ließe sich viel kürzer fassen, ohne an irgendetwas zu verlieren. Im Gegenteil, ich halte es für einen Gewinn, wenn man den Leser nicht überflüssigem Ballast belästigt.
Rechtzeitig dort angekommen, erlebte ich eine böse Überraschung. Ich war ich weit und breit der einzige Passagier, ein Verbotsschild verweigerte den Einstieg Das Verbotsschild will nicht einsteigen?. Ich ignorierte es ebenso wie eine niedrige Absperrung, die ich überstieg Ignorieren der Absperrung = Übersteigen der Absperrung. Eins von beiden reicht.. Verwundert und verärgert fragte ich mich, welchen Grund es geben sollte, die Talfahrt zu verbieten? Schließlich hatte mich beim Kauf der Liftkarte niemand auf die Sperrung der Bergstation hingewiesen und ich war wirklich ausgepowert. Die letzte Abfahrt wollte ich um keinen Preis auf der Piste fahren. Was, wenn ich vor Erschöpfung stürzte und mich verletzte? Dort unten wäre ich ganz allein. Keiner könnte mich finden. Mein Handy hatte ich dummerweise zu Hause liegen lassen. Wirklich dämlich. Ich hätte mich ohrfeigen können Alle drei Sätze sagen das gleiche: Es war dumm. Doch es war nun mal nicht zu ändern. Allmählich begann es auch zu dämmern. Nein, das Risiko war mir zu groß und die Aussicht auf eine bequeme Abfahrt im Lift sehr verlockend Dieser Satz ist komplett überflüssig. Entspannt lehnte ich mich also in dem Sessel zurück, baumelte mit den Skiern und gab mich der sanften Gleitfahrt hin. In wenigen Minuten würde mich der Lift ins Tal getragen haben Auch dieser letzte Satz ist überflüssig.


Jetzt war nichts Erhabenes mehr zu spüren, ein Grauen schlich sich in mein Gemüt ein, ich fühlte mich dieser Wildnis unerbittlich ausgeliefert, hatte blanke Angst.

Das sind Beschreibungen, die sich viel eindrucksvoller über die Körperreaktionen lösen lassen. Allein das Wort "blanke Angst" reicht nicht, um diese wirklich zu transportieren. Lass den Leser mehr die konkreten Empfindungen spüren, die damit einhergehen.

Verzweifelt brach ich zusammen.

Wie kann man sitzend zusammenbrechen? Wie kann man vor allem derart darüber reflektieren, während man gerade zusammenbricht. Ich jedenfalls denke in dem Moment nicht: "Aha, ich breche gerade zusammen."

Feierlich und ängstlich zugleich zog ich meine Handschuhe aus, nahm den Schein mit dem geringsten Wert (warum eigentlich?), öffnete mein Feuerzeug und zündete ihn an einer Ecke an.

Und das geht so einfach, obwohl er durchgefrohren ist? Schonmal mit klammen Händen versucht, Feuer zu machen?

Ich stürzte in schwarze Verzweiflung.

Er sitzt auf einen Skilift und sagt hier, er stürzt – das ist nicht gut in dem Zusammenhang. Man könnte annehmen, er stürze sich vom Lift in die Dunkelheit hinab.
Unter mir in einiger Entfernung kriechen Schneeraupen den Hang hinauf. Ich sehe ihre Lichter, ich höre ihre Motoren. Sie präparieren die Piste für morgen. Vielleicht kannst du sie irgendwie auf dich aufmerksam machen. Und ich schrie und rief und wedelte mit den Armen, ich suchte noch einmal im Rucksack nach Dingen, die ich nutzen konnte, um auf mich aufmerksam zu machen.

Die Wechsel in der Zeitform verwirren sehr. In den meisten Fällen ist es erlebte Rede, da wirkt es noch ok (hier aber nicht - das sind nur Beschreibungen von Schneeraupen). Man kann diese aber trotzdem im Präteritum schreiben und vermeidet solche unlogischen Zeitformensprünge wie sie hier zu Hauf vorkommen. Sie stören wirklich sehr.
Lange Rede, kurzer Sinn: Es hat keinen Nutzen, hier ab und an ins Präsens zu rutschen.

Eine Kleinigkeit noch: Auslassungspunkte sind typografisch nicht etwa drei Punkte, sondern ein Zeichen, nämlich dieses: …
Im Unterschied dazu die drei Punkte: ...
Ja, das ist Krümelkackerei ;)

Den allerletzten Satz solltest Du weglassen. Dieses "Ich war gerettet!". Belass es bei den sich umdrehenden Lichtkegeln. Die sagen schon alles.

Viele Grüße
Struppi
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Re: Gefangen im Skilift

Beitragvon schreibhexe » Mo 26 Dez, 2011 23:00


Hallo Struppi,

ich glaube, ich muss mich nochmal herzlich bedanken für Deine ausführliche Kritik vom 15. August 2010. Etwas lange her. Ist viel passiert bei mir in dieser Zeit. Ich bitte um Entschuldigung.

Innzwischen hat dieser Text mehrere Metamorphosen durchlaufen. Der Titel heißt jetzt "Der Wert des Geldes" und der Text hat sich passagenweise auch sehr verändert. Dieses "Ich war gerettet!" ist immer noch da. Am besten, ich stell den Text noch einmal ein, dann kannst Du ihn nochmal lesen und schauen, ob er besser geworden ist.
Er ist inzwischen auch in einer Anthologie veröffentlicht und hat in einem Wettbewerb den dritten Preis gemacht.
Lieben Gruß
und noch ein schönes Weihnachten und ein erfolgreiches, gesundes neues Jahr!
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