Alle epischen Texte, die in keine andere Kategorie passen

Prolog

Beitragvon winter » Fr 11 Mär, 2011 18:51


Markus Koch wollte immer mein Freund sein. Manchmal war ich es leid, ihn wegzuschicken. Da habe ich ihn einfach meinen Freund sein lassen. Er haftete an mir wie ein Fremdkörper. Wie ein Splitter unter meiner Haut.

Wir spielten Verstecke oder Blinde Kuh. Ich machte die Augen zu, zählte bis Hundert und ging dann meiner Wege. Später erzählte er mir, er habe stundenlang in seinem Versteck ausgeharrt. Ich zuckte mit den Schultern und sagte, sein Schlupfwinkel sei einfach zu gut gewesen, ich habe aufgegeben, es zu suchen. Er hat es immer wieder geschluckt.

Ich weiß nicht, warum ich Markus Koch nicht leiden konnte. Vielleicht weil ihn auch kein anderes Kind leiden konnte. Ronnie Fikato hat gesagt, der Koch sei zur Hälfte ein dusseliges Schwein, seine Mutter hätte es nämlich mit einem Eber getrieben (nach meiner persönlichen Einschätzung war dies eine Lüge). Und Julia Schmidt küsste jeden für zehn Pfennig, außer Markus Koch. Den küsste sie nicht einmal für eine Mark.

Es muss eine unausgesprochene Verständigung zwischen Kindern geben. Wenn einige wenige anfangen, ein anderes Kind doof zu finden, ist es kurz darauf gleich bei allen unbeliebt. Niemand kann das übersehen oder gar leugnen: Eines muss das Opfer sein. Und alle Eltern beten oder hoffen, dass es nicht das ihrige sein möge. Mama und Papa Koch hatten wohl nicht genug gebetet. Oder sie haben es schlichtweg gar nicht getan.

Markus Koch war ein vollkommen unscheinbares Kind mit blasser Haut und blondem Wuschelkopf. Beim Zweifelderball wurde er immer als Allerletzter ausgewählt. Oder man ignorierte ihn komplett. Sogar die Sportlehrerin hatte einmal vergessen, ihn wie alle anderen zum 60-Meter-Lauf antreten zu lassen. Mir ist es aufgefallen, weil ich zweimal laufen musste. Vielleicht fing ich an jenem Tag an, ihn zu hassen.

Seine Eltern ließen ihn orthopädische Schuheinlagen tragen, weil er eine abnorm gekrümmte Wirbelsäule hatte. Als Baby war er vom Wickeltisch gefallen, weil Mama Koch so sehr damit beschäftigt war, den Truthahn zu würzen und zu verzieren, dass ihr entfallen war, dass sie eigentlich gerade dabei gewesen ist, dem kleinen Markus die Windeln zu wechseln.

Eines Tages, wir spielten wieder einmal Verstecken im Wald, verschwand Markus. Die Polizei hat noch Tage später alles durchforstet. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
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Beitragvon rivus » Sa 19 Mär, 2011 10:31


ach winter,
dein worten kommt mir sehr bekannt vor. welcher winter lässt die letzten streifen sausen?

der prolog prologisiert, prolongiert die gut phantasierbaren danach, davor, das logbuch.

die geschichte fundiert das ganze prolog von nähe, ferne. am ende siegt das fortgetriebene.

zwischenhandlungen schichten sorgfältig, was kommen wird.


gern gelesen

grüße rivus
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Beitragvon winter » Di 22 Mär, 2011 12:39


wieso bekannt? hab ich das schon mal gepostet?
ich gebe zu, der text ist was älter. mein output ist seit längerem sehr begrenzt. da schmücke ich mich eben mit vergangenen, längst ergrauten federn. und wenn ich schon nichts neues erbreche, so möchte ich das alte wenigstens weiter verfeinern und hoffe auf input von meinen imaginierten freunden. zufrieden bin ich nämlich nie.
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Beitragvon rivus » Mi 23 Mär, 2011 09:23


ach lieber winter,
das kenne wir doch alle, alle die mit worten ringen, dieses nie zufrieden sein mit dem entstandenen ....

gab es nicht mal so ein wort wie vervollkommnen ... packen wir es hier alle an, aber mit mit dem blickwinkel, dass jeder von uns seine grenzen, seine nur, aber immerhin individuellen möglichkeiten hat.
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