Nach Mitternacht in der Business-Lounge am Flughafen, dezente Hintergrundmusik, gedimmtes Licht. An kleinen Tischen und in Ledersesseln warteten noch Passagiere auf den Aufruf der letzten zwei oder drei Flüge. Durch die breite Glasfront hatte man freie Sicht auf Starts und Landungen, doch jetzt rangierten dort nur noch einzelne Maschinen, fanden ihre Parkpositionen, Busse und Servicewagen kreuzten geräuschlos durch die Dunkelheit.
Außer einem jungen Mädchen hinter der Bar war nur noch ein Kellner im Dienst, Tom. Auf dem Schild an seinem Revers stand Thomas Menzel, doch für Kollegen, Stammgäste und für sich selbst war er Tom. Nach dem Studium ohne Job, Redakteur oder besser gesagt „freier Mitarbeiter“ diverser Magazine, also permanent in Geldschwierigkeiten, und jetzt eben diplomierter Kellner.
Tom brachte einem hageren Mann im Rollstuhl seinen Campari-Orange. Der Grauhaarige trug eine getönte Brille und einen Nadelstreifenanzug. Vor ihm lagen Notizen, die Tom beiseite schieben musste, um Platz für den Drink zu schaffen. Gegenüber saß die Pflegerin des Alten, seine Nurse, die kurz von ihrem Penguin Taschenbuch aufschaute.
Der Mann krächzte ein höfliches „Vielen Dank!“ Doch was Tom noch mehr überraschte – bisher hatten die beiden nur Englisch gesprochen -, war, was er in diesem flüchtigen Moment auf den Notizen erkannte: Zwischen handschriftlichen und getippten Zeilen wiesen Pfeile hin und her ... und mehrfach las er deutlich den Namen Pit Cornwebel.
Tom wich ein paar Schritte zurück. Gütiger Himmel! Der Kerl im Rollstuhl musste Jack Schneider sein! Eine lebende Legende, zumindest für Tom, ach was, für eine ganze Generation, die Schneiders Bücher und Stories verschlang. Dieser Pit Cornwebel, der in seinen amerikanischen Romanen als sein Alter Ego den Aufstand gegen alles Bürgerliche, Glitzernde, Manipulierte verkörperte, war auch im alten Europa ein Held. Seit über zwanzig Jahren, heutzutage vielleicht noch aktueller als damals. Tom hatte einst eine Rezension zu einem Schneider-Buch geschrieben, für ein anderes Magazin ein Kapitel aus dem Amerikanischen übersetzt. Jack Schneider war gebürtiger Deutscher, lebte bekanntlich in L.A., und jetzt saß er hier.
Tom schielte auf den Monitor mit den Departures: Die Maschine nach New York, auf die Schneider zweifellos gebucht war, musste jeden Moment aufgerufen werden. Aus und vorbei wäre die Chance, mit im zu sprechen. Doch als hätte das Schicksal seine Verzweiflung gespürt, leuchtete prompt mit einem hellen Gong eine rote Anzeige auf: „30 Minuten Verspätung!“
Noch ein Campari und eine Coke. „Sie sind Jack Schneider, nicht wahr?“
„Yeah, wieso?“ Der Alte räusperte sich und nahm seine Brille ab. „Kennen wir uns?“
„Nicht persönlich, ich kenne Ihre Bücher, Pit Cornwebel und alles, was Sie geschrieben haben ...“
„Okay, okay mein Sohn ...“ Schneider schob seine Notizen zusammen und ließ den losen Stapel in eine Ledermappe gleiten. „Nehmen Sie Platz, haben Sie denn Zeit?“
Tom zog einen niedrigen Hocker herbei, setzte sich und grüßte die Nurse erneut mit einem Kopfnicken. „Ja, danke.“
Schneider zog ein Päckchen Pall Mall hervor, bot Tom eine an, der jedoch ablehnte und auf die Non-Smoking-Schildchen auf den Tischen zeigte. Unbeeindruckt davon zündete sich Schneider seine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und sah auf den Monitor. „Ich habe auch Zeit. Momentan dreißig Minuten mehr als erwartet. Aber was sind schon Minuten, Stunden, Jahre im Rad der Ewigkeit? Rauchpartikel, blaues Nichts wie mein Zigarettenqualm. Also los, junger Mann, was wollen Sie?“
„Tom beugte sich vor. „Ich schreibe auch ...“
„Ach du Scheiße.“
„Wie bitte? Also ... ich schreibe für Zeitungen ...“
Schneider beugte sich ebenfalls vor, erstaunlich flink. „Soll das ein Interview werden?“
„Verflucht, nein! Hören Sie doch erst einmal zu.“ Tom sah sich um, aber keiner der übrigen Passagiere schaute herüber.
„So gefallen Sie mir schon besser. Also raus damit, was kann ich für Sie tun?“ Schneider setzte ein verschwörerisches Grinsen auf.
Tom erzählte von den Magazinen, für die er schrieb, von der kraftlosen Literaturszene in seinem Land, von seiner Sehnsucht nach dem Feuer der Achtziger Jahre.
„Punk? Techno?“
„Oh nein, eher die Saat der Beats, aber anders, kräftig und laut und authentisch.“ Tom gestand, Schneiders Spuren gefolgt zu sein, darum bemüht, in eigenen Stories die gleiche Intensität zu schaffen, Erlebtes in Sprache zu meißeln.
„Nicht ganz ungefährlich,“ brummte Schneider, „aber jeder muss tun, was er tun muss. Und sonst?“
Tom hoffte, Antworten auf zwei Fragen erhalten, die ihn beschäftigten, seit er Schneider erkannt hatte. Die erste war „Was ich nie herausfand war die Sache, wie Sie zum Vornamen Jack kamen. Oder ist das Ihr echter Name?“
„Nein.“ Schneider hob seinen Blick, als gäbe es da oben an der Decke ein Loch, durch das er in die Vergangenheit schauen konnte. „Ich bin schon als Kind immer weggelaufen, wollte einfach nur fort. Nicht fliehen vor irgendwas, sondern Neues entdecken. Musik, später auch Drogen, Liebe, aber vor allem Reisen. Ich war ständig auf Achse, fuhr um die ganze Welt, verstehst du? On The Road! Darüber begann ich Stories zu schreiben, aus denen Bücher wurden. Und schon war mein Kerouac-Image perfekt. Man nannte mich Jack, und ich nahm die Ehrung an.
Noch 15 Minuten. Tom besorgte neue Drinks für Schneider und sich selbst, spendierte auch der Nurse noch eine Cola. Doch statt sich zu bedanken, schalt die den Mann im Anzug: „You shouldn´t drink that much!“
Schneider knurrte und winkte ab, und an Tom gewandt: “Dabei hat sie recht. Mein Magen ist ziemlich hinüber. Ein paar andere Dinge auch. Nun, so ist das eben.“ Sie tranken. Dann hielt Schneider seine Kippe hoch, Tom nickte. Schneider ließ das funkensprühende Ding fallen, und Tom trat kurzerhand darauf.
„Es gibt verschiedene Gerüchte, wie das mit Ihrem Unfall geschah. Was ist damals wirklich passiert?“
Schneider schickte wieder einen kurzen Blick zur Decke, sah dann Tom fest in die Augen. „Eine pure Dummheit, typisch für die Zeit und für mich. 1987. Ich hatte meinen eigenen kleinen Verlag ans Laufen gebracht, hielt mich für den Ferlinghetti des Ruhrgebiets. Aber Bücher schreiben und Bücher produzieren sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe, weißt du? Beim Schreiben kommt es auf den Inhalt an, auf die Schöpfung, alles andere ist scheißegal. Muss es sein. Beim Verlegen geht es um Geld, nur um Geld, und auch hier ist der Rest scheißegal. Aber das wusste ich damals noch nicht. Ich war enthusiastisch und versessen darauf, tolle Bücher zu machen und die Welt damit zu überschwemmen.“
„Das ist Ihnen ja auch gelungen.“ warf Tom ein.
„Ja, aber ganz anders und erst zwanzig Jahre später! Damals wollte ich schreiben und publizieren. Kompletter Bullshit. Ich verlor mein ganzes Geld, das war nichts Neues. Aber neu war die Erfahrung für mich, von Leuten aufs Kreuz gelegt zu werden, die ich bis dahin vergöttert hatte: Buchhändler. Typen die vorgaben, Seelenverwandte zu sein, die ich für Idealisten und edle Mitstreiter gehalten hatte, servierten mich eiskalt ab, drückten die Preise, blieben Rechnungen schuldig, zerknitterten Bücher und schickten sie als unverkäufliche Mängelexemplare zurück. Da gibt es eine Menge fauler Tricks ...“
Aus den Lautsprechern kam der erste Aufruf für den Flug nach New York. Die Lounge geriet in Bewegung. Während die Nurse ihr Buch schloss und verstaute, blieb Schneider ungerührt. „Erst trickste ich mit, dann gab es besonderen Ärger mit einem der Buchläden. Zu einem Berg unbezahlter Rechnungen kam eine Flut von Angriffen auf meinen Verlag, Abmahnungen, Verdächtigungen, weil ich angeblich etwas mit der Frau des Inhabers angefangen hätte, was nicht einmal stimmte.
Bis mir eines Tages, nach zwei oder zehn Drinks zu viel, der Kragen platzte. Ganz im Stil von Pit Cornwebel, den ich gerade erfunden hatte, stieg ich nachts in meinen alten Opel und fuhr in die Nachbarstadt zu dem Laden. Ich gab Vollgas, knallte erst über den Bordstein und flog dann frontal ins Schaufenster. Ein böser Knall, mein Wagen hing halb im Geschäft.
„Großer Gott!“ Tom leerte sein Glas.
„Zum Glück war niemand verletzt, außer mir. Aber davon hatte ich schon nichts mehr gemerkt. Als man mich aus dem Auto zog, war ich von oben bis unten bekotzt, und mein Rückgrat war hin. Seitdem fahre ich nur noch Rollstuhl.“
Tom schwieg und musterte den Mann gegenüber, der in Gedanken woanders zu sein schien.
„Dreißig Jahre ...“ Schneider sprach mehr zu sich selbst als mit Tom. Schon wurde alles vom zweiten, „dringenden“ Aufruf für den New-York-Flug übertönt. Die Pflegerin war auf den Beinen und löste die Bremsen von Schneiders Rollstuhl.
Doch jener wandte ich noch einmal an Tom: „Ich will Sie auch mal etwas fragen, junger deutscher Mann. Was ist wirklich wichtig?“
Tom zögerte mit der Antwort, überlegte definitiv zu lange.
„Wichtig ist relativ. Jeder Augenblick deines Lebens ist so wichtig wie das ganze Universum ... und gleichzeitig ist im Grunde nichts wichtig. Was soll´s?“ Der hagere Mann wurde zum Ausgang gerollt. Als Tom die Tür aufhielt, hörte er Schneider noch sagen: „Nichts ist wichtig. Wir könnten genauso gut zwei Figuren einer Geschichte sein, die sich jemand ausgedacht hat. Lebwohl.“