Ich war auf dem Weg zum Bahnhof um einen Zug zu kriegen. Ein kleines Kind fuhr mit einem City Roller an meinen Füßen vorbei. Dabei bestand ein geringer Abstand, der den Radius einer allzukleinen, sozialen Sphäre bereitstellte. In dieser Enge hätte ich mich kaum rühren können, so dass ich etwas wütend wurde. Da das Kind bereits an mir vorbeigefahren war und ein unschuldiges Alter aufwies, wollte ich den Zorn verbergen. Beinahe lächelnd schaute ich dem nächsten Passanten entgegen. Als dieser den Blick erwiderte, wurde mir etwas mulmig zu Mute, da ich nicht sicher war, ob der Mensch möglicherweise restliche Spuren meines Zorns identifiziert haben könnte.
Im Zug gesellte sich ein lustiger Typ neben mich, der etwas Zerknautschtes an sich hatte. Er sprach mit einem niederländischen Akzent und probierte immer wieder die Tür der Zug-Toilette zu öffnen. Woraufhin jedes Mal eine Computerstimme mitteilte, dass das WC defekt sei. Als der Mann des Drückens des Knopfes überdrüssig geworden war, schaute er nach meiner Zeitung und fragte: "darf ich lesen?". Ich hatte lediglich ein Blatt der FAZ in der Hand, die gesamte übrige Zeitung lag neben mir. Ich griff unbewusst nach der Zeitung, da ich mein Eigentum schützen wollte. Mein erster Impuls lag darin, die neben mir befindliche Zeitung aufzuteilen und dem Herrn nur einen wohlportionierten Teil davon zu übergeben. Doch da ich bereits einen spannenden Artikel in der Hand hielt, gab ich dem Herrn doch die gesamte übrige Zeitung, die zu meiner Linken lag. Während der Übergabe lächelte der Mann dankbar. Auch ich musste lächeln. Ein Gefühl der Geborgenheit überkam mich. Dann las ich in Ruhe weiter.
Der Mann zu meiner Seite erschuf mit Hilfe der Zeitung eine beachtliche Geräuschkulisse. Ich hütete mich davor ihn anzuschauen, da ich mir das Elend der Scham ersparen wollte. Denn sicher würde er beschämt sein , ob seiner mangelnden Fähigkeiten im Hantieren mit einer Zeitung. Ich faltete meine Zeitung mit Expertise. Der Mann blieb hartnäckig und wurschtelte eine halbe Stunde mit der Zeitung herum. Ich weiß nicht ob er überhaupt dazu kam etwas zu lesen. Schließlich legte er das in Mitleidenschaft gezogene Papier wieder behutsam neben mich und betätigte sogleich den Knopf an der Toilettentüre.
Nachdenklich stellte er fest: "Entweder ist die Toilette kaputt oder derjenige darin ist eingeschlafen". Ich hütete mich davor seine Aussage zu beurteilen und tat so als würde ich einen Kommentar lesen. Doch die ständige Durchsage: "diese Toilette ist defekt wir bitten um Ihr Verständnis" störte meine Konzentration. Der Mann zu meiner Seite der mit seinen Grundbedürfnissen rang, war beileibe nicht die einzige Person die auf den Knopf an der Tür drücken sollte.
Alle Personen die das stille Örtchen aufsuchten, lösten sofort die schallende Durchsage aus. Sie alle ignorierten den ikonischen Hinweis samt eines Schriftzugs.
Nur eine einzige Person las den entsprechenden Text, anstelle dessen den Knopf zu drücken: "this toilet is out of order". Ich schaute ehrfürchtig zu dem Herrn auf. Er erschien mir als tiefgelehrte Persönlichkeit, voller Weisheit. Als ich den Zug verließ suchte ich eine öffentliche Toillette auf. Auch der Tiefgelehrte war dort und urinierte mit schmerzverzerrtem Gesicht. Als ich die Toilette verließ, stand am Eingang vor dem Drehkreuz mein Lesepartner aus dem Zug. "Ich wünsche dir einen wunderschönen Tag", sagte er und ich erwiderte seinen Gruß. Dann verließ ich beschwingt den Bahnhof