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Stationsbericht

BeitragVerfasst: Mo 07 Sep, 2009 19:05
von Ruelfig
01.09.2019, 08:00
Übergabe.
Neueinlieferung um 05:45: Herr Paul Heinen, 58, ungepflegte Erscheinung, akuter Verwirrungszustand. Gewaschen und eingekleidet. Unterbringung in Saal 19, Bett 39. Medikamentöse Fixierung mit 0,88 mg Somalyserbinol, Dämmerzustand vermittels Lichtreduktion eingeleitet. Patient reagiert untypisch, beginnt zu lachen und schreit "Wir sind die Türken von morgen" in Endlosschleife. Herr Önder in Bett 31 beschwert sich über den Lärm, worauf Herr Heinen ihn als "Zwergwichser" und "Beutespießer" beschimpft. Herr Ö. verfällt in Jammerdelirium und muss mit 0,2 ml Ramokilam neu aufgebaut werden. Kein Therapeut in Rufbereitschaft, daher Einsatz mechanischer Rückhaltemittel (halal).
Herr H. singt inzwischen "phony Beatlemania has bitten the dust", beantwortet von einzelnen "London calling"-Rufen und dem Absingen von "All you need is love" durch die lärmbedingt erwachte Pilzkopf-Fraktion. Herr Michael Jäger baut sich vor dem Bett von Herrn H. auf und verlangt Satisfaktion. Aus der in Erregung durch Herausreißen seiner Kanüle verletzten Halsschlagader des Herrn J. spritzt feiner Blutnebel in den Saal, der sämtliche Putzboter zum Einsatz veranlasst, welche den Raum samt Insassen steril verschäumen.
06:22
Um die daraufhin eintretende Situation der Desorientierung der Patienten zu deeskalieren, speist das System "Saturday night fever" in die retinalen Bildschirme und die intraaurale PA. Herr H. befreit sich von den Bindemitteln, nimmt sein Gebiss in die rechte Hand und beginnt, die Schwestern damit ins Gesäß zu kneifen.
07:44
Herrn H. ist es gelungen, einer Sauerstoffflasche teilhaftig zu werden, welche er vermittels eines (illegalen) Feuerzeugs zu zünden droht, wenn nicht sofort der Film "Black throat" gezeigt und dazu "Gefangen in der BRD" abgespielt wird. Eine Analyse durch den Zentralcomputer lässt seine Drohung zu 98% wahrscheinlich erscheinen. Das Abspielen des Videos führt zu 23 spontanen Herzinfarkten, die zu 100% tödlich enden, da kein medizinisches Personal den Raum betreten mag und die Medboter durch den Einsatz der von den Putzbotern ausgeschäumten Reinmittel blockiert sind. Herr Stefan Auffemberg versucht ein klärendes Gespräch mit Heinen, wird von diesem jedoch durch Biss in den Adamsapfel zum Schweigen gebracht. Die Oberschwester gibt Einsatzbefehl für die Feuerfreiboter.
07:58
Beseitigung der Überreste, Räumung des Saales und Beginn der Renovierung.

Re: Stationsbericht

BeitragVerfasst: Mo 07 Sep, 2009 19:22
von OlafmitdemTraktor
jetzt bin ich doch über die putzboter gestolpert, durfte dann aber glücklicherweise noch die anderen dienstboter kennenlernen. :D
bei aller witzigkeit ( mensch rolf, die pharmamultis suchen immer wieder kreative gutbezahlte köpfe zur erfindung griffiger medikamentennamen) letztendlich auch ein stück, welches die technisierung unseres alltages zum thema macht, die offensichtliche entfremdung von den eigentlichen zielen und das heraufziehen eines neuen (bedrohlichen) menschenbildes.

selbst wenn ich oben angedeutetes weiterdenken einschränke, hier darf herzhaft gelacht werden. das ist humor ohne zu verletzen.

gern gelesen

lg OmdT

Re: Stationsbericht

BeitragVerfasst: Mo 07 Sep, 2009 22:26
von exmaex
hey rue,

kann mich olaf hier anschließen, stellenweise sehr köstlich. nur drei dinge:
"blutnebelfilm"? entweder blutnebel oder blutfilm, beides zusammen kann ich mir schwer vorstellen
1 flüchtigkeitsfehler
der sämtliche Putzboter zum Einsatz veranlasst, welcher den Raum samt Insassen steril verschäumt.

und
wird von diesem jedoch vermittels lethalen Bisses in den Adamsapfel zum Schweigen gebracht

klingt erzwungen lustig. das "vermittels" wurde vorher schon ausgereizt und so wirkt das irgendwie plump. ich bin für ändern oder streichen.

gruß maexxe

Re: Stationsbericht

BeitragVerfasst: Mi 09 Sep, 2009 17:44
von Ruelfig
Hallo Christoph,
ein lachender Mensch verbessert die Welt erheblich, möchte ich sagen und es freut mich, dass du den Text so sehen kannst.
Hallo emaex,
danke für deine Anmerkungen, habe verbessert (hoffentlich).
Grüße von der Station,
R

Re: Stationsbericht

BeitragVerfasst: Mo 01 Mär, 2010 22:12
von Neruda
Als Prosa des Monats September hierher verschoben.