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Schall und Rauch.Sie befinden sich genau zwei Schritte vor mir. Ich versuche sie zu überholen, möchte die Erste sein und gehe zügiger voran. Noch einen Schritt, dann bin ich ihnen gleich auf. Doch mein Gepäck verhindert diesen Triumph und sie betreten das Rechteck, das mithilfe einer gelben Markierung von Unbekannten in den Boden graviert wurde. Ihre massiven Rücken verschwinden hinter der Linie, ihre massiven Hände ziehen die zwei massiven Koffer hinter sich her. Sie sind angekommen. Doch keine zwei Sekunden später werde auch ich zum Grenzüberschreiter. Geschafft. Punktlandung möchte ich meinen, da ich mich in der absoluten Mitte des Rechtecks wiederfinde. Glaube ich zumindest. Ich zünde mir eine Zigarette an und blicke auf. Sehe, dass die zwei, die sich zusammengedrängt eine Ecke des Rechteckes teilen, wohl starke Raucher sind, da die erste Zigarette schon fast fertiggeraucht, gar verschlungen wurde. Obwohl ich sonst eher Genießer und nicht Dürstender bin, wünsche ich mir in diesem Augenblick ebenso schnell verschlingen zu können. Meine Hände sind kalt, die Finger reagieren nicht so, wie ich es gerne hätte. Ich führe sie dennoch gekonnt, da schon vielfach erprobt, an den Mund. Ziehe. Atme tief ein und blase den erzeugten Rauch wieder hinaus. Schleudere ihn den zwei Mitstehenden regelrecht entgegen. Sie sind mir gegenüber. Sie und Er. Vermutlich verheiratet. Selben Ring am Finger. Sie schauen mich an. Ich blicke zurück. Es entsteht ein Lächeln in ihren Gesichtern. Synchron ziehen sie ihre Mundwinkel in Ohrrichtung. Wie nett. Die zwei Fremden Sie und Er lächeln mich also an. Ich bringe jedoch keine Reaktion zustande und rauche einfach weiter vor mich hin. Ein weiterer Mensch gesellt sich zu uns. Genauer: Noch eine Sie, die ihre blonden Haare kurz, und eine blau-gelbe Hummel-Tasche über ihrer Schulter trägt. Sie weiß noch nicht so recht, wie sie sich positionieren soll. Hat ihren Platz in unserer kleinen Runde noch nicht gefunden. Unsicher steht sie da, dreht sich dann mir entgegen, während sie versucht ihre Zigarette anzuzünden. Der Wind, nicht müde, bläst kräftig. Sie benötigt einen zweiten Anlauf, bis der Glimmstängel endlich glüht. Lächelt. Mich an. Abermals verhindern meine lustlosen Muskeln eine Antwort. Solches Verhalten wird sofort bestraft. Sie dreht sich einmal im Halbkreis um sich selbst und mir abrupt den Rücken zu. Mein Desinteresse wird belohnt. Sie nimmt nun Sie und Er ins Visier. „Kalt hier, ne?“ Ich halte gespannt die Luft an. Vergesse, verwundert über ihren offensiven Annährungsversuch, dass sich in meinen Lungenflügeln noch Rauch befindet, der raus muss. Bringt mich mit dieser offenherzigen Kommunikation fast um. Ob sie sich dessen bewusst ist? Doch mein Körper wendet den Mordversuch mit einem Hustenanfall ab. Sie und Er und auch die Fast-Mörderin drehen sich erschrocken zu mir um. Eine Geste, die das erste Gemeinschaftsgefühl in unserem Refugium erzeugt. Ihre Blicke, so als fragen sie mich, ob alles in Ordnung ist. Selbstverständlich nicht. Ich aber tu so, als sei nichts passiert. Mit einem Schulterzucken dreht sich die blonde Sie wieder weg. „Na, wo kommt ihr denn her?“ Ein Versuch die Unterhaltung wieder in Schwung zu bringen, die durch mein Fast-Ersticken so jäh unterbrochen wurde. „Aus Dortmund“, hört man nun endlich die Stimme der verheirateten Sie erklingen. „Achja?” Wieso Erstaunen ihrerseits, wir kamen doch alle aus derselben Richtung. „Und wo soll es hingegen?“ „In den Süden von Hamburg“, antwortet nun Er, der verheiratete. Seine Stimme klingt anders als erwartet. „Da will ich auch hin, sollten wir heute irgendwann noch dort ankommen“ erklärt die unterhaltungsleitende Sie mit einem bedeutenden Blick auf die Uhr, der ihre Aussage wohl bekräftigen soll. Es ist vierzehn Uhr dreißig. In acht Minuten geht es weiter. „Nächste Woche haben wir ganze sieben Stunden Bahnfahrt vor uns, da geht’s nämlich zum Fußballspiel.“ Er legt dabei seinen Arm um seine Sie. Auch ohne diese Geste wissen wir, wen er in dieser Aussage miteinschließt. „Wie Schön, da hab ich Bekannte, also in Essen, und könnte dort pennen. Wenn ich mich für Fußball interessieren würde.“, sagt sie, die Blonde. Schweigen. Ein Hund läuft zielgerichtet auf uns zu und zieht eine Sie, die eine Hundehalterin ist, hinter sich her. Er kommt eine Leinenlänge vor ihr in unserem Rechteck an. Wer von beiden wohl zur Zigarette greifen wird, frage ich mich und warte gespannt ab. Doch meine Sensationsgier wird nicht gestillt, da sich der Hund an einem Wasser aus gemusterter Plastikschale, die sich in der gemusterten Tasche der Hundehalterin versteckt hatte, und Sie sich an einer Zigarette erfreut. Vierzehn Uhr zweiunddreißig. „Toller Hund, den Sie da haben, was ist denn das für eine Rasse?“ „Ein Berger Picard!“ Noch nie gehört. Die Hundehalterin streicht über die goldene Pfote ihres Hundes und lächelt in die Runde. „Ach, die sind ganz selten hier, nicht wahr?“, will die blonde Sie von der Hundehalterin wissen, obwohl sie bereits die Antwort kennt. Ihr Tonfall will Bestätigung, keine Belehrung. „Ja. Kennen Sie sich mit Hunden aus?“ „Geht so.“ Die Hundehalterin bindet ihre langen schwarzen Haare zusammen und sieht aus, als hätte sie schlecht geschlafen. Das erkenne ich, obwohl mein Blick nur ihre Seite trifft. Wir warten nun zu sechst in diesem Rechteck. Hund mitgezählt. Die sechs auf den Zug Richtung Hamburg und ich auf etwas, das nicht passiert. Noch eine Sie überschreitet die gelbe Markierung. Es werden sich neugierige Blicke zugeworfen. Sie trägt eine lila Tasche mit sich, aus der eine Orchidee in den Himmel schaut. Sieben also. So langsam wird es eng hier. Ein Er mit Gepäck und Zigaretten, drei Sies mit Gepäck und Zigaretten, eine Sie mit Gepäck, Zigaretten und Hund und eine Sie mit Gepäck, Zigaretten und Schuhen im Leopardenlook. Um uns herum: Nichts als Leere und Stille. Alle was lebt an diesem Ort rückt freiwillig innerhalb der sauber gezogenen Markierung zusammen, steht in diesem gelben Rechteck, das uns rahmt und Symbol unserer Isolation ist. Die langweiligen geraden Linien des langweiligen geraden Bahnhofs gähnen in den leeren Raum hinein. Nur das kleine gelbe Rechteck bäumt sich mit Lebenden auf. Blicke werden nun wild getauscht, Wörter rege gewechselt, Zigaretten verraucht, es ist vierzehn Uhr sechsunddreißig. „Das ist aber eine schöne Blume in Ihrer Tasche.“ „Danke sehr. Ich bin ein wenig besorgt, dass ich sie auch ja heil nachhause bringe.“ Sie drückt ihre lila Tasche fester an ihren Körper. „Mir brauchen Sie nichts über Orchideen erzählen.“, sagt die blonde Sie zu ihr. „Ich weiß alles über Orchideen.“ Noch eine Minute. Ich stehe noch immer einfach so da, beobachte das zwischenmenschliche Zusammenspiel und nehme mir noch eine Zigarette. Zünde sie an und ziehe im Rhythmus der Gespräche daran. Ein Er watet uns entgegen, glaubt auf einer Blumenwiese zu sein. Das glaube ich, wenn ich im so dabei zusehe. Wie sein Herz aufgeht und lacht, bei unserem Anblick. Herzhaftes Lachen unserer kleinen Gruppe. Nicht meinetwegen. Vierzehn Uhr siebenunddreißig. Die Bahnhofsuhr tickt Bahnhofsminuten. Sonnenstrahlen zwängen sich durch die durchlöcherte Wolkendecke. Strahlen jeden von uns an. Ich lasse Rauch frei und habe plötzlich Sonne im Mund. Vierzehn Uhr achtunddreißig. Der Zug fährt ein. Pünktlich. Jeder rafft an sich, was ihm gehört – man hat sich doch so wohl gefühlt, dass das Gepäck geradezu herrenlos im Rechteck steht. Ein Gruß des Abschieds ist allerseits zu hören, man winkt sich hinterher, dann verlässt einer nach dem anderen die Markierung und verschwindet ganz für sich allein im gemeinsamen Zug. Die Worte sind verschwunden. Unser gelbes Rechteck ist wieder leer und wartet auf neue Menschen an diesem Bahnsteig, die es mit Leben füllen.
Zuletzt geändert von Verkehrt am Di 29 Jul, 2014 15:14, insgesamt 2-mal geändert.
Re: Schall und Rauch.Hallo Verkehrt!
Dein Rechtecktext liest sich wie ein sich ein kurzer Klappentext eines monologisierenden Kontemplativen, der Schall- und Rauchzeuge wird. Obwohl er sich bemüht, sich in die Kommunikations- Szenarien einzubringen, bleibt er ein einsamer, aber aufmerksamer Zeitraffer, der alle in diesem Rahmen stattfindenden Begegnungen erstaunlich präzise auf den Punkt bringt. Schall und Rauch konzentriert Oberfläche und Tiefe. Irgendwie gehören am Ende alle zusammen. Selbst das gelbe Rechteck koexistiert und funktioniert als wesentlicher Bestandteil eines Wirgefüges, das rein zufällig mit zufällig ausgewählten Protagonisten Schall und Rauch als Elemente des Lebendigen erfassen kann, um den Strom der Zeit ins Sichtfeld von uns Lesern zu bringen. Nur dem Beobachter gelingt es, das Dahinter der zufälligen Annäherungen und Selbstdarstellungen wahrzunehmen. Es ist wohl die gestillte Sehnsucht des erlebten Gemeinsamen, die vom zurückblickenden Einsamen auf das gelbe Rechteck übertragen wird, damit es sich wieder mit lebendigen Schall und Rauch füllen kann. Die Dimension von Schall und Rauch hat in der Erzählung aus meiner Sicht eine andere Bedeutung. Sie verschwindet nicht einfach, sondern ermöglicht uns Menschen erst den Kontakt. Ganz gleich wie er vonstatten geht, im Ensemble mit S & R sind selbst die Einsamsten unter uns wenigstens für Augenblicke aufgehoben .... gern gelesen vom rivus
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