Postmortem NetSolutions GmbH&Co.KG
„Frl. Weber, rufen Sie mir doch bitte mal den M. aus der Vertriebsabteilung ins Büro – und er soll sich beeilen, ich will das endlich hinter mich bringen!“ Stimmlage zwischen ungeduldig und genervt.
Frl. Weber, die emsige und bemühte Vorzimmerdame, erledigt ihren Auftrag prompt. Sie weiß, wann sie alles andere stehen und liegen zu lassen hat, erkennt den Tonfall, der keinen Aufschub duldet.
Ihr Chef, Herr A. Dellenhorst-Rademacher, Inhaber der Fa. „Post mortem NetSolutions GmbH&Co.KG“, besitzt wenig Geduld, dafür umso mehr furchteinflößende Präsenz. Seinen „Bitten“ nicht umgehend Folge zu leisten käme einem Vaterlandsverrat gleich – in seinen Augen.
Sie beschließt, höchstpersönlich den Gang ins übernächste Stockwerk anzutreten und den netten, etwas linkischen Mitarbeiter aus der Vertriebsabteilung selber ins Schlepptau zu nehmen; damit der „Bitte“ kein Donnerwetter folgt.
M., der sich keinerlei Vergehens oder Schuld bewusst ist, trabt nichtsdestoweniger leicht unsicher hinter der Vorzimmerdame her. Ob sein Aufruf zum morgendlichen Appell etwas mit den gestern veröffentlichten, neuen Verkaufsstatistiken zu tun hat?
Fast schon etwas außer Atem (zum Sport treiben bleibt einem gewissenhaft arbeitenden Mitglied der werktätigen Bevölkerung schon lang keine Zeit mehr), tritt er Minuten später über die Büroschwelle des Vorgesetzten, den alle im Betrieb nur „A.“ nennen – und jeder darf sich ausmalen, wofür das nun steht (ob für einen historisch sehr belasteten Vornamen oder ein Körperteil am Ende des verlängerten Rückens).
Leicht keuchend tritt er an A.‘s Schreibtisch – um von einem Wortschwall so gewaltig wie Gewitterdonner und so laut wie ebensolcher fast wieder zur Schwelle gefegt zu werden:
„Herrrrrr M. (das Zungenrollen beherrscht er gut), was glauben Sie eigentlich, wofür Sie in diesem Hause angestellt wurden? Um sich die Nägel zu lackieren? Dann wären Sie besser Sekretärin geworden!! Was können Sie mir zur gestrigen Verkaufsstatistik als ernste Entschuldigung anbieten? Dafür, dass Sie zum dritten Mal in Folge weit hinter Ihren Kollegen zurückstehen was die Anzahl der monatlich getätigten Abschlüsse angeht?!“
M. beginnt es ungemütlich zu werden. Er ahnt, dass zwischen „sich bemühen“ und „guter Leistung“ gegebenenfalls doch kleine, nuancenartige Unterschiede bestehen.
„Herr Dellenhorst-Rademacher, ich…“ setzt er an, noch von ausreichend Mut beseelt, seinen mangelnden Verkaufserfolg durch forsches Auftreten zu ersetzen – aber der Chef fällt ihm, während er sich aus dem schweren Ledersessel erhebt und wie Wotan, der Donnergott, die Fäuste ballt, beinahe rabiat ins Wort:
„Es kann doch keine Schwierigkeit sein, im virtuellen Zeitalter narzistischer Egomanen Verträge an den Mann oder die Frau zu bringen, die eine reges und kontinuierliches Weiterleben in den sozialen Netzwerken bis zu zwei Jahre post mortem, und das mit Qualitässiegel, garantieren!
Wer da draußen möchte nicht webseitig zwei Jahre länger existieren und in regelmäßigen Abständen seine wie eh und je dummen, uninteressanten Selfies posten oder den ebenso dämlichen Mitmenschen mitteilen, dass nach 25 Jahren die alten Badfliesen durch neue ersetzt wurden, die Tochter einen ausländischen Freund hat oder der Urlaub mit 3 kg Hüftspeck Nachwehen hinterlassen hat?! Obwohl er das Gras schon von unten betrachtet, häh? Das ist der Traum der Generation von heute – und morgen – und übermorgen auch, das lassen Sie sich versichert sein: Ewig leben im Netz, noch aus dem Jenseits intelligenzbefreites Geschwafel über die hinterbliebenen Anverwandten und Freunde vergießen, mit Qualitätssiegel und Garantie!!!“
A. schnappt nach Luft – so eine Tirade erschöpft selbst seinen Atem, der aufgrund jahrelangen verbalen Tobens und Zeterns durchaus geschult ist. Sein Gesicht hat die Farbe vom „Männlein im Walde“ und strahlt irgendwo zwischen Purpurrot und Violett, Schweißtropfen rinnen ihm übers kernige Doppelkinn.
„Aber“, wagt M. zu bemerken, “die Argumente werden nicht von allen eingesehen – die Kundschaft wagt zu bezweifeln, ob sie selbst noch viel von dieser Netpräsenz zwei Jahre nach leiblichem Ableben hat!“ Er erinnert sich an so manchen Hinauswurf, bei dem er nur seinen langen Beinen den Umstand zu verdanken hat, dass er den Fußtritt nicht abbekam…
„Papperlapapp, alles fadenscheinige Ausflüchte – in einer Zeit, in der sich jeder für den King of Kongo hält und glaubt, dass die Welt Anteil nimmt an seinen hämorrhoidalen Beschwerden, seinem langweiligen Sexleben und seiner noch langweiligeren Wohnung, in einer Zeit wie dieser, die nur so strotzt von selbstverliebten Dummies, die keinen anständigen Satz zustande bringen, aber stundenlang hirnlose Ergüsse ins Netz stellen, ist es doch ein Leichtes, wie der Rattenfänger von Hameln aufzutreten und kostspielige Verträge abzuschließen, die uns reich und die Kunden unsterblich machen – beinahe. Wo liegt das Problem?!“
A. lässt sich mit Wucht wieder in den klobigen Ledersessel plumpsen, der in den Rollgelenken quietscht und ächzt.
Und M.? „Jetzt oder nie“, denkt er, „wenn ich jetzt nicht Farbe bekenne und die Reißleine ziehe, wenn ich jetzt nicht kündige, dann verliere ich noch jegliche Selbstachtung…“
Aber just in dem Moment, in dem er seinen Mund öffnet, fällt ihm das noch unbezahlte Haus ein, das anstehende Studium des älteren Sohnes, die Ehefrau, die noch nie das Geld wirklich zusammenhalten konnte – und er hört sich selber einknicken: „Gut – ich werde mich noch mehr anstrengen, Menschen zu verkaufen, was keiner braucht für Geld, das keiner hat.“ Immerhin hat er es geschafft, sarkastisch zu wirken.
„Na, wir wollen mal keine Spitzfindigkeiten austeilen , nicht wahr, M.?“ Das „Herr“ fällt unter den Tisch, aber es klingt fast wohlwollend-kollegial, „Wir machen die Menschen glücklich, und Glück hat seinen Preis, ob vor oder nach dem Tode. Legen Sie sich ins Zeug, dann sitzen Sie vielleicht in einigen Jahren auch mal hier in meinem Büro hinter dem Tisch und lassen Dampf ab gegenüber einem Jungspund, der noch Skrupel hat!“ Jetzt poltert A. los, wenn man dieses Lachen so bezeichnen möchte, und seine Gesichtsfarbe bewegt sich erneut zwischen Purpurrot und Violett, wirkt allerdings nicht mehr bedrohlich, sondern abgeschmackt und einstudiert. M. verabschiedet sich, so schnell es der Anstand erlaubt, und A. reisst sich die obersten beiden Knöpfe seines nadelgestreiften Managerhemdes auf…
„Das“, so sagt er sich im Stillen, „das tut so gut wie eine kühle Dusche an einem heißen Sommertag – ist ja auch ein Dampf-Ablassen!“ Er grinst, und wer ihn nicht kennt, möchte meinen, dass ihn garstige Zahnschmerzen plagen, so verzieht er sein Gesicht.
Und M.? Er wird die nächsten Jahre keinen auch noch so kleinen Aufstand mehr wagen – weil er den letzten Zipfel seines Selbstwertgefühls als Mitglied der werktätigen Bevölkerung soeben zu Grabe getragen hat, und weil in nächster Zeit keine größere Erbschaft in Aussicht steht, die ihn von A. unabhängig werden ließe. Schwer, Aufrichtigkeit und Anstand hoch zu halten in diesen Zeiten.