Grenzgang
Verfasst: Mo 01 Feb, 2010 15:05
Als ich aufwachte, war ich tot.
Es hatte kein Wunder gegeben. Ich hatte auch keines erwartet. Wie immer stand ich auf, kleidete mich an und verließ das Haus. Auf mein Grüßen antwortete niemand. Blicke glitten durch mich hindurch. Wenn ich von meinem Spaziergang zurück käme, wäre meine Haustür von Trauerflor umsäumt. Drei Tage lang säßen sie alle in meinem Wohnzimmer und klagten. Drei Tage könnte ich zuhören, was sie über mich zu erzählen hätten. In den drei Tagen würden sie meine Habseligkeiten unter sich verteilen, Tee trinken und Hefezopf dazu essen.
Nach den drei Tagen müsste ich weichen, ein Geist, unrein. Durch die weit geöffneten Fenster und Türen würde ich unter Klappern und Schreien, vom Rauch des Lorbeerfeuers getragen, hinaus getrieben. Wen ich berührte, der wäre tot. Wie ich. Als Kinder hatten wir einmal Totsein gespielt. Kreischend hatten wir einander durch die Berührung unserer Finger getötet. Solange, bis Großmutter kreidebleich vor uns gestanden hatte. Danach hatten wir das Spiel nie wieder gespielt.
Die Toten könnten einander sehen, sagt man. Nachgewiesen hatte es noch niemand. Bis jetzt hatte ich nur Lebende gesehen, keinen einzigen Toten. Es sei denn, sie wären alle über Nacht gestorben, meine Mutter, mein Bruder, mein Freund und die Nachbarn.
Vielleicht gab es ja ein eigenes Land für die Toten. Eines, das den Lebenden verborgen blieb. Die Suche nach dem verborgenen Land wäre ein Abenteuer. Etwas, mit dem ich nicht mehr gerechnet hatte. Im Leben waren Abenteuer verboten. Die Gedanken mussten immer im Greifbaren bleiben, auf den befestigten Wegen. Nicht querdenken, nicht träumen! Wegen meiner Träume war ich jetzt tot.
Man hatte mich gewarnt, oft, aber ich konnte nicht anders. Die Lieder, die ich träumte, waren lebendig und sie wollten gesungen werden. Ich wusste nie, woher sie kamen. Die Worte flossen von meinen Lippen wie Wasser aus einem überlaufenden Fass.
Alles war so friedlich, so ruhig, so geordnet; kein Zank, keine Gefahr, kein wildes Tier, kein Feind. Die Grenzen waren klar, jeder kannte die Regeln. Jedermann war freundlich und hilfsbereit, nur ich mittendrin ohne Rast. Die Pastellfarben der Häuser, die sanft gewellten Hügel, die dornenlosen Büsche und der Schäfchenwolkenhimmel, sie schienen mich zu erdrücken und die Worte aus mir herauszupressen, die von Blut, Gier, Hass und Leid erzählten, unaufhaltsam, ein Quell von Eiter, dessen Ursprung ich nicht kannte. Kratzen wollte ich an ihren Fassaden, den rosa Zuckerguss mit Blut tränken, ihre Gesichter sich zu Fratzen verzerren sehen.
Man hatte mich gewarnt, mich verwarnt, mir gedroht. Man hatte mir eine letzte Frist gesetzt. Die war abgelaufen.
Dann starb ich, wie angekündigt. Niemand war da, um die Vollstreckung abzuwenden. In der Nacht kamen der Richter und der Henker. Von der Tür nahmen sie mein Namensschild ab, warfen es zu Boden, wo es in tausende Splitter zersprang. An den leeren Platz nagelten sie das Zeichen.
Für einen Augenblick meinte ich, das Pochen zu hören. Dann träumte ich von einer wilden Horde, die auf Drachenrücken durch den Frieden preschte. Ich ritt vorneweg und schwang die Fackel. Die Kohlegerippe der Häuser grinsten mich glühend an. Als ich erwachte, war ich tot.
Die drei Tage werde ich nicht abwarten. Ich gehe jetzt gleich. Hinter dem nächsten Hügel beginnt das Abenteuer, es zieht mich mit aller Macht. Sollen sie doch klagen! Die Welt endet nicht an der Grenze des Dorfes. Da draußen gibt es noch etwas. Es wartet auf mich.
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[size=85:y60bwflf]Der Fairness wegen, ein Übungstext für ein anderes Forum mit der Vorgabe des ersten Satzes. Da ich sonst derzeit wenig bis nichts schreibe, gebe ich Euch die Gelegenheit, diesen zu zerfleischen.[/size]
Es hatte kein Wunder gegeben. Ich hatte auch keines erwartet. Wie immer stand ich auf, kleidete mich an und verließ das Haus. Auf mein Grüßen antwortete niemand. Blicke glitten durch mich hindurch. Wenn ich von meinem Spaziergang zurück käme, wäre meine Haustür von Trauerflor umsäumt. Drei Tage lang säßen sie alle in meinem Wohnzimmer und klagten. Drei Tage könnte ich zuhören, was sie über mich zu erzählen hätten. In den drei Tagen würden sie meine Habseligkeiten unter sich verteilen, Tee trinken und Hefezopf dazu essen.
Nach den drei Tagen müsste ich weichen, ein Geist, unrein. Durch die weit geöffneten Fenster und Türen würde ich unter Klappern und Schreien, vom Rauch des Lorbeerfeuers getragen, hinaus getrieben. Wen ich berührte, der wäre tot. Wie ich. Als Kinder hatten wir einmal Totsein gespielt. Kreischend hatten wir einander durch die Berührung unserer Finger getötet. Solange, bis Großmutter kreidebleich vor uns gestanden hatte. Danach hatten wir das Spiel nie wieder gespielt.
Die Toten könnten einander sehen, sagt man. Nachgewiesen hatte es noch niemand. Bis jetzt hatte ich nur Lebende gesehen, keinen einzigen Toten. Es sei denn, sie wären alle über Nacht gestorben, meine Mutter, mein Bruder, mein Freund und die Nachbarn.
Vielleicht gab es ja ein eigenes Land für die Toten. Eines, das den Lebenden verborgen blieb. Die Suche nach dem verborgenen Land wäre ein Abenteuer. Etwas, mit dem ich nicht mehr gerechnet hatte. Im Leben waren Abenteuer verboten. Die Gedanken mussten immer im Greifbaren bleiben, auf den befestigten Wegen. Nicht querdenken, nicht träumen! Wegen meiner Träume war ich jetzt tot.
Man hatte mich gewarnt, oft, aber ich konnte nicht anders. Die Lieder, die ich träumte, waren lebendig und sie wollten gesungen werden. Ich wusste nie, woher sie kamen. Die Worte flossen von meinen Lippen wie Wasser aus einem überlaufenden Fass.
Alles war so friedlich, so ruhig, so geordnet; kein Zank, keine Gefahr, kein wildes Tier, kein Feind. Die Grenzen waren klar, jeder kannte die Regeln. Jedermann war freundlich und hilfsbereit, nur ich mittendrin ohne Rast. Die Pastellfarben der Häuser, die sanft gewellten Hügel, die dornenlosen Büsche und der Schäfchenwolkenhimmel, sie schienen mich zu erdrücken und die Worte aus mir herauszupressen, die von Blut, Gier, Hass und Leid erzählten, unaufhaltsam, ein Quell von Eiter, dessen Ursprung ich nicht kannte. Kratzen wollte ich an ihren Fassaden, den rosa Zuckerguss mit Blut tränken, ihre Gesichter sich zu Fratzen verzerren sehen.
Man hatte mich gewarnt, mich verwarnt, mir gedroht. Man hatte mir eine letzte Frist gesetzt. Die war abgelaufen.
Dann starb ich, wie angekündigt. Niemand war da, um die Vollstreckung abzuwenden. In der Nacht kamen der Richter und der Henker. Von der Tür nahmen sie mein Namensschild ab, warfen es zu Boden, wo es in tausende Splitter zersprang. An den leeren Platz nagelten sie das Zeichen.
Für einen Augenblick meinte ich, das Pochen zu hören. Dann träumte ich von einer wilden Horde, die auf Drachenrücken durch den Frieden preschte. Ich ritt vorneweg und schwang die Fackel. Die Kohlegerippe der Häuser grinsten mich glühend an. Als ich erwachte, war ich tot.
Die drei Tage werde ich nicht abwarten. Ich gehe jetzt gleich. Hinter dem nächsten Hügel beginnt das Abenteuer, es zieht mich mit aller Macht. Sollen sie doch klagen! Die Welt endet nicht an der Grenze des Dorfes. Da draußen gibt es noch etwas. Es wartet auf mich.
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[size=85:y60bwflf]Der Fairness wegen, ein Übungstext für ein anderes Forum mit der Vorgabe des ersten Satzes. Da ich sonst derzeit wenig bis nichts schreibe, gebe ich Euch die Gelegenheit, diesen zu zerfleischen.[/size]