Blaulicht-Besuch

Beitragvon wolfgangweber48 » Mo 14 Mai, 2012 13:59


Blaulicht-Besuch

Küsst er, oder küsst er sie nicht? – der Küster die Küsterin

Nein; offenkundig hat er sich auch diesmal dafür entschieden, der Alternative den Vorzug zu geben. Die Trachtengruppe Fehnheide im Ostfriesischen in ihrem traditionell blauweißen Gefährt und in neuer schmucker Uniform ist bereits mit einer Abordnung unterwegs zur küsterlichen Wohnung neben der Martin-Luther-Kirche. Das Blaulicht ist zwar eingeschaltet, aber auf den Einsatz des Martinshornes wurde verzichtet. Die Küsterin sitzt derweil auf der Couch in ihrer Guten Stube und stößt laut barmend Verwünschungen aus. Ihr rechtes Auge unter dem strohblonden Pony beginnt bereits in den spezifischen Farben Blau, Grün und Violett zu schimmern. Dazu trägt sie eine schicke beige Bluse und einen längeren dunkelbraunen Rock sowie schwarze Pumps. Betreut wird sie von Tochter Jelske – dem Süßchen, das mitsamt seiner Rubensfigur und den flammen Haaren allmählich auf die Dreißig zugeht und jetzt den Kopf mit den ondulierten Löckchen besorgt auf das lädierte mütterliche Auge zubewegt und es vorsichtig mit einem nasskalten Waschlappen betupft.

Der Küster selbst schreitet betont schwungvoll in der Stube auf und ab, dabei seinen intensiv einstudierten Vortrag deklamierend: „Die Martin-Luther-Kirche wurde noch rechtzeitig zum Dreißigjährigen Krieg fertiggestellt und weist – was ihre buntgemalten Fenster angeht – Züge der Spätgotik auf. Dank des Eingreifens vom schwedischen Gustav wurde sie von den Wirrnissen des Krieges verschont. Nur der Turm bekam was auf die Glocke. Sogar eine Orgel konnte angeschafft werden. `Ehre sei Gott in der Höhe´ soll das erste Lied gewesen sein, das der Organist gespielt hat.

Der Diener Gottes hält inne und sieht seine Holde warnend an, als er nun das Wort an sie richtet: „Es wird heute meine erste Führung durch die Kirche sein, und wenn alles klappt, hat der Pastor gesagt, soll’s auch mit meiner Probezeit gut gewesen sein. Dann hab´ ich die letzten fünf Jahre bis zu meinem Fünfundsechzigsten ausgesorgt. Und gegen ein bisschen Zusatzrente kannst doch selbst du alte Krawallschachtel nix haben!“

Die Küsterin würdigt ihn keines Blickes und blökt stattdessen in Richtung Süßchen: „Gleich werden sie hier sein, und dann werd´ ich ihn anzeigen, und dann kann er wieder Klinken putzen und sich auf Jahrmärkten rumtreiben. Es kann aber auch sein, dass er wieder Tüten kleben muss.“

Der Küster klingt jetzt gereizt und zerfahren: „`Ehre sei Gott in der Höhe´ soll das erste Lied gewesen sein, das der Onanist .... Quatsch....“

Unterdessen redet Süßchen begütigend auf die Mutter ein: „Er hat recht ... euch geht’s nicht gut ... zu viele Altschulden noch ... er kann doch mit seinen sechzig Jahren nicht mehr mit dem Bauchladen auf den Märkten rumturnen. Du ziehst dich doch mit hinunter, wenn du ihn jetzt in die Pfanne haust.“

Die Haltung der Küsterin bleibt unnachgiebig. „Das Spiel ist endgültig aus!“, blökt sie. „ Das Maß ist übervoll. Ich lasse mich diesmal durch nichts aber auch gar nichts mehr davon abbringen, ihm das Handwerk zu legen.“

Der Küster überlegt, ob er noch einmal Gott in der Höhe die Ehre geben soll, entschließt sich dann aber doch für das Säkulare hienieden. „Wenn du nicht augenblicklich die Schnauze hältst, Bilda, dann gibt’s auch da noch was drauf. Meine Geduld mit dir ist schon mehr als zu Ende.“

Die Küsterin ruckt mit dem Kopf nach ihrem Gatten. „Und meine Geduld mit dir, Hergen Schmitt, schon lange. Meine Mutter hatte recht, als sie sagte, ich soll‘ mich erst mal aufhängen, bevor ich dich heirate. Und wenn der Strick reißt, dann kann man immer noch die Ringe kaufen...“

Der kräftige Mann vor ihr bleckt sein Gebiss und fährt sich unwirsch durch sein dichtgewelltes Haar, während bei seinem Weib der übliche Film im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge vorbeiflimmert: Was hatte sie sich bloß damals dabei gedacht, als sie sich mit diesem Kerl einließ. Was hatte der Trömel eigentlich zu bieten? Zwölf Jahre Armee und keinen Beruf. Nach der Entlassung wollte er auf Uniformen partout nicht verzichten; daher nahm er den Nachtwächter-Job in dieser Elektronik-Firma an. Damals hatten sie noch außerhalb der Gemeinde in der Siedlung „Achternmeer“ gewohnt. Wie ein Pfau war er in seiner khakifarbenen Dienstkluft umherstolziert, bis sie ihn eines Tages abholten. Nach anfänglichem Leugnen hatte er sie schließlich in den baufälligen Schuppen neben ihrem kleinen Klinkerhaus geführt. „Mit dem geklauten Zeug könnten sie fast selbst schon eine Firma aufmachen“, hatte ihm der vernehmende Kripo-Beamte gesagt.

Wo ist eigentlich Hergen?“, wollten einige Zeit später die Nachbarn wissen.

Hergen geht’s gut, der macht in St. Moritz Ski-Urlaub“, erhielten sie als Antwort.

Im Hochsommer Ski-Urlaub? Du, pass‘ mal auf, Bilda! Wenn du willst, dass wir dir nochmal das Wort gönnen, dann raten wir dir dringend, uns nicht mehr so’n Schiet zu vertellen. Wir leben hier zwar in Achternmeer aber nicht hinter’m Mond.“

Das war deutlich.

Nach längerer Zeit der Abwesenheit war er wieder zurück und lungerte zunächst herum. Zum Glück besaß er ein ausgeprägtes musikalisches Talent. Auf der Querflöte machte ihm so schnell keiner was vor. Und hier oben an der Küste, wo es Spielmannszüge zuhauf gibt, brauchte es entsprechend Querflöten. Nach Schaltung einer Zeitungsannonce ließ sich die Sache mit dem Privatunterricht denn auch zügig und gut an. „Verschaff‘ dir ´ne Lohnsteuerkarte!“, riet sie ihm; „Du weißt, wir sind von Schakalen umgeben ...“

Welcher Politiker mit seinen fetten Nebeneinnahmen hat denn ´ne zusätzliche Lohnsteuerkarte?“, fragte er aufgebracht. „Der Staat bescheißt u n s ; und w i r bescheißen den Staat – so einfach ist das.“

Die Schüler unterrichtete er bei sich zu Hause jeweils einzeln in einem eigens dafür eingerichteten Raum. Auf seine Schülerinnen musste er nach einiger Zeit jedoch verzichten. Es wurde gemunkelt, dass er sich bei den Mädels nicht nur mit dem Trainieren der Flöten-Löcher begnügt habe. Und als dann noch aufgrund der Gerüchte-Küche die Jungs wegblieben, war einmal mehr Land unter. Notgedrungen ging er als Zeitschriftenwerber, bis ihm erneut Unregelmäßigkeiten einen weiteren Ski-Urlaub in St. Moritz bescherten. Der einzige Lichtblick in der Familie war Jelske, das dicke Süßchen. Die Tochter schaffte die Realschule und wurde Bäckerei-Fachverkäuferin.

Irgendwann geschah dann das Wunder: Der Küster-Job mit Dienstwohnung. Was seinem pensionierten Vorgänger in dreißig Dienstjahren nicht geglückt war, das gelang ihm auf Anhieb: Die komplette Renovierung seiner Amtsbehausung bei der Kirchenbehörde durchzusetzen. „Menschenwürde ist doch der Kirche besonders heilig – oder?!“, hatte er den Pastor bei der Wohnungsbegehung mit scharfer Stimme gefragt, und dieser hatte gottergeben genickt.

Bald schon sickerte in der Kirchengemeinde durch, wer da neuerdings die Glocken läutete. „Das darf doch nicht wahr sein, dass sie so einen nehmen“, sagten die einen und warfen aus Protest nur noch Knöpfe in den Klingelbeutel.

Doch – es ist wahr“, sagten die anderen; „und es hat auch wahr zu sein, denn kein Geringerer als unser Heiland daselbst hat den Gestrauchelten die Hand gereicht und besonders mit i h n e n das Brot und den Wein geteilt.“

In der Probezeit machte er sich wider Erwarten gut. Sogar die Reparatur der Kirchturmuhr bewerkstelligte er, obwohl geunkt wurde: „Bei seiner Langsamkeit wird er womöglich noch vom Stundenzeiger erschlagen.“ Aber er strafte seine Kritiker Lügen. Als Krönung seines Schaffens gelang es ihm gar, die Dorfkirche maßstabsgerecht als Pappmodell nachzubauen und sie für jedermann sichtbar auf den Altar zu stellen. Sogar in der Presse wurde er dafür gelobt. Die Zeichen standen für ihn auf Sieg.

Und heute, das hat er sich wohl fest vorgenommen, will er mit einer sauber hingelegten Touristen-Führung durch die Martin-Luther-Kirche den I-Punkt setzen. Aber da wird sie ihm einen Strich durch die Rechnung machen. „Das ist heute endgültig der Schlusspunkt!“, schwört sie laut entschlossen.

Das musst du nicht sagen, Mutti“, versucht Süßchen unbeirrt zu beschwichtigen; „versuch‘ auch mal seine guten Seiten zu sehen. Als du damals aus dem Entzug kamst, hat er aus Solidarität mit dir ebenfalls keinen Tropfen mehr angerührt, und als du nach deinem Infarkt nicht mehr schmöken durftest, hat er seine letzte volle Schachtel spontan weggeschmissen.“

Es läutet an der Tür. Jelske geht zu öffnen und kommt mit zwei Uniformierten zurück, die kurz salutieren und sich sogleich zur Frau des Hauses begeben. „Moin, Frau Schmitt“, sagen sie, „da sind wir mal wieder.“ Die Küsterin gibt den sterbenden Schwan und haucht: „Anzeige ... nur noch Anzeige – es geht nicht mehr. Urplötzlich hat er wieder zugelangt...“

Also wieder mal im Affekt“, bemerkt einer der Polizisten.

Der Küster lacht höhnisch auf. „Affekt, Affekt“, ruft er; „was für ein Unsinn. Ich hab‘ ihr auch diesmal zunächst die Brille abgesetzt ... Dann ist sie nämlich blind wie ein Maulwurf...“

Glauben Sie, Herr Schmitt, uns macht das Spaß, hier bei Ihnen mittlerweile Stammgast zu sein?“, fragt die Polizei.

Besser bei mir als bei besoffenen Russen“, schnauzt der Küster. „Bei mir könnt ihr wenigstens noch `ne Tasse Tee kriegen; bei den sibirischen Steppenkötern gibt’s für euch nur blaue Flecken!“

Zur Sache, Herr Schmitt: Was war wieder los?“, wird der Küster befragt.

Ganz einfach: Die nervt ... die nervt und hört nicht mehr auf damit“, erklärt das Kirchenfaktotum bündig.

Können wir nicht mit Mutti nach nebenan gehen?“, fragt das Süßchen die Streifenwagen-Besatzung.

Gestützt auf die Tochter und in Begleitung der stellvertretenden Obrigkeit, begibt sich die Küsterin in den Nebenraum, während der Küster laut seinen Vortrag memoriert und ihn gestenreich begleitet. Nach geraumer Zeit erscheint das Quartett wieder auf der Bildfläche. Die beiden Polizisten scheinen amüsiert, die Küsterin hat verheulte Augen, lächelt aber. Und Jelske, das Süßchen? Die strahlt und tänzelt auf den Herrn Papa zu. „Alles klar“, tut sie fröhlich kund; Mutti wird nichts gegen dich unternehmen. Sie will sogar mit dir in Urlaub fahren.“

Der Küster nickt beiläufig und hebt die Hand lässig zum Gruß in Richtung der beiden Beamten. „Dann macht’s mal gut, Leute. Tschüß bis demnächst!“

Eine Stunde später hat sich in der Martin-Luther-Kirche zu Fehnheide vor den Stufen, die zum Altar hinaufführen, eine kleine Menschenmenge versammelt: Touristen aus dem Süden. Aus der Sakristei tritt gemessenen Schrittes ein korpulenter Mann im schwarzen Anzug und stellt sich würdevoll vor der Besucherschar in Positur. Die Hände hoch erhoben, ruft er mit lauter Stimme, die im Kirchenschiff klangvoll widerhallt: „Ehre sei Gott in der Höhe! Halleluja!“

Sodann beginnt er mit der Führung. [font=Calibri, serif]

written by Wolfgang Weber
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Re: Blaulicht-Besuch

Beitragvon Martho » So 24 Jun, 2012 08:08


Großartig.
Was als störendes Sandkorn beginnt, maustert sich oft zur Perle.
(Warum huschende Muscheln nuschelnd tuscheln - Jim Panse, Jubeltrubel Ferlak)
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Re: Blaulicht-Besuch

Beitragvon rivus » Mi 04 Jul, 2012 09:26


Hi Wolfgang!
Die Geschichte wirkt stringent, legt eine tragikomische Spur. Das uniforme Vorsein eines eigentlich Gescheiterten ist der passende Tarnmantel für einen Menschen, der ursprünglich in Machtstrukturen beheimatet, eben durch diese befähigt wurde, einem, seinem schauspielerischen Überlebensnaturell entsprechend, eine Existenz aufzubauen, die scheinheilig über alle Bedenken, Gegenströmungen, Niederträchtigkeiten obsiegt. Das weitergegebene Erbgut an die Tochter garantiert scheinbar eine unendliche Geschichte, eine Posse, die durch alle Beteiligten weiter am Leben gehalten wird. Die eigentlich bemitleidenswerte Gattin spielt möglicherweise das Spiel weiter mit, weil es ihr durch die Folgen der Affektausbrüche ihres Mannes möglich wird, öffentliche und andere Aufmerksamkeit sowie Aufwertung zu bekommen. Die Erzählung zeichnet auf sarkastische Weise, wie manipulierbar, leidensfähig, verdrängungsbereit wir Menschen sind, wenn es um existentielle Überleben geht und welchen Selbstdarstellungen wir, aus dem Blickwinkel von Blaulicht, im Alltag auf dem Leim gehen können. Der Hauptkonflikt zwischen Küster und Küsterin, am Ende entscheidet sie sich überraschend dafür, trägt die Geschichte zu einem Ende, dass der Leser nicht erwartet hat und sie, in meinen Augen, zur Phantasieanknipserin macht.
Hinweise:

mitsamt ihrer Rubensfigur

zweimal blökt

für das säkulare Hienieden

zu vertellen interessantes wort, kenne ich nicht, aber habe es ausgiebig ausgegoogelt; ich hatte es mir auch schon vom englischen abgeleitet, soll ja niederländischer herkunft sein …. würde hier aber eher zu erzählen wählen ….

…mit dem privatunterricht dann auch zügig an


mit freundlichem gruß
rivus

p.s.: die frage
[highlight=#e9e9e9]Küsst er, oder küsst er sie nicht? – der Küster die Küsterin[/highlight">
würde ich weglassen, weil der leseblickwinkel damit schon fokussiert wird
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