Horrorgeschichten, Krimis

Grauen der Nacht

Beitragvon Max Kaiser » Mi 02 Sep, 2015 12:34


Es begann am 10. Oktober des Jahres 1991. Ich fuhr alleine mit meinem alten Auto durch die dichten Wälder eines Landstriches, den ich vorhabe, nie wieder zu betreten. Ich habe kurzfristig eine Einladung zu einer ominösen Veranstaltung bekommen an deren Namen ich mich aber nicht mehr erinnern kann, da ich nie dort angekommen bin. Es regnete bereits den ganzen Nachmittag doch in dieser Nacht tobte ein Gewitter von solchem Ausmaß wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Scheibenwischer kämpften gegen die endlosen Wassermassen an während Scheinwerfer ihr flackerndes Licht durch nebeldurchsetzte Dunkelheit auf die rissige alte Straße warfen. Schwarzgrüne Bäume neigten neugierig ihre Blätterhäupter im tobenden Wind unter krachendem Donner und zuckendem Blitzgewitter. Der wolkenummantelte Mond spähte zwischen Rissen im zornigen Äther hindurch und durchstreifte mit seinem ruhelosen Blick die düsteren Wälder. Die lange Fahrt machte mich müde und zu spät sah ich den Schatten, der plötzlich mitten auf der Fahrbahn stand. Ob tierischer oder menschlicher Natur konnte ich im Dunkeln nicht erkennen und selbst in munterer Verfassung hätte ich das Vehikel auf der rutschigen Straße nicht unter Kontrolle bringen können. Das Nächste woran ich mich erinnern konnte, ist ein deformiertes Autowrack, das sich in einen besonders dicken Baum gebohrt hatte.
Nur mit einer Taschenlampe ausgerüstet und einer dünnen Jacke über die Schultern geworfen irrte ich in den unheimlichen Wald hinein nachdem ich in meiner Benommenheit die Straße nicht wiederfinden konnte. Ich hoffte auf Unterschlupf oder wenigstens einen Wegweiser als ich durch den schlammigen Waldboden watete. Ich konnte meine eigenen Schritte nicht hören inmitten des lauten Aufklatschen unzähliger Wassertropfen und die Vegetation um mich herum schien immer dunkler, ausgedörrter und krankhafter zu werden. Eine Uhr hatte ich nicht bei mir aber ich schätze nach ungefähr zwanzig durchnässten Minuten etwas entdeckt zu haben. Zwischen dem Heer aus Stämmen und Gestrüpp im nebulösen Dunst, der sich über dem Boden absetzte, sah ich im Schein meiner Lampe einen unscheinbaren überwucherten Steinhaufen. Mit außerordentlicher Erleichterung und begeistertem Interesse kämpfte ich mich durchs Gebüsch. Zertrümmertes Gestein absuchend stellte ich fest, dass es sich um die Ruine eines alten Weinkellers handeln musste. Eine rankenbewachsene, mit mehreren Vorhängeschlössern gesicherte Eisengittertür versperrte den intakten Eingang, doch ich konnte einige besonders rostige zeitzerfressene Stäbe mit geringem Kraftaufwand herausbrechen. Auch wenn ich zu niedergeschlagen war, um dieses obskure Gebäude zu hinterfragen, so konnte mir meine unerklärliche Unruhe nicht entgehen. Ich zwängte mich mit einem unguten Gefühl hinein.
Im Inneren der Ruine roch es nach uraltem Moder und riesige Spinnweben hingen von der Decke aus kaltem Granit. Architektonisch primitive Säulen pressten sich an brüchiges Gemäuer und die Atmosphäre trug etwas unheimlich Abstoßendes in sich, als ob zwischen den Schatten etwas lange Verborgenes kriechen würde. Aber die engen Gänge waren überraschenderweise noch stabil und es war halbwegs trocken also ließ ich mich für eine kurze Rast auf einem verwittertem Steinblock nieder. Ich zitterte am ganzen Körper und meine nasse Kleidung klebte an mir während meine Füße in den wassergefüllten Schuhen schwammen. Durch den Nebel der meinen Verstand trübte und dem prasselnden Regen konnte ich mir nicht so sicher sein, aber ich glaubte an jenem gottverlassenen Ort ein unpassendes Geräusch gehört zu haben, das aber sofort wieder verstummte. Ein Schwenk meiner Lampe verriet mir, dass ein dunkler Schacht in die Finsternis des ominösen Kellers führte. Und irgendetwas zog mich dorthin. Trotz des Bedarfs an Ruhe und Schlaf flüsterte mir die Entdeckungslust zu, nur einige wenige Meter in die Tiefe zu wandern. Und aus irgendeinem Grund tat ich das auch. Ich stand entschlossen, aber immer noch am ganzen Körper bebend, auf und näherte mich dem Abstieg. Der Lichtkegel meiner Taschenlampe wies mir den Weg über zerbröckelte Stufen und meine Schritte hallten die nackten Wände und beklemmenden Gänge entlang, die sich über steile Treppen hinab in die unbekannte Tiefe wanden. Adrenalin und Angstschweiß schossen durch meinen Körper und mein anfängliches Unbehagen verstärkte sich merkbar, als ich nun zweifelsohne ein leises Kratzen hörte. Ich versuchte mir nichts dabei zu denken, doch so langsam beschlich mich ein Gefühl, als ob unsichtbare Augen ihren Blick auf mich richteten.
Ich gelangte schließlich zu einem kleinen Vorraum an dessen mir gegenüberliegender Wand mich eine alte aber massive Stahltür anglotzte. Auf deren Oberfläche war ein unleserlicher Schriftzug in einer mir nicht bekannten Sprache eingraviert. Ehrfürchtig schlich ich mich an die Pforte ins Ungewisse und strich mit zitternden Fingern über das kalte Metall und fühlte wie der Drang zur Flucht größer wurde. Doch die Neugier war stärker. Meine Hand fand eine rostige Klinke und drückte sie mit einem ohrenbetäubenden Kreischen nach unten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich presste gegen die jahrhundertealt wirkende Tür... doch sie gab nicht nach. Mein ganzes Gewicht stemmte ich ihr mit einer Schulter entgegen, doch sie war zu stur um sich zu bewegen. Das seltsame Kratzgeräusch setzte jetzt dauerhaft ein, und zwar genau zu dem unpassendem Zeitpunkt als der illuminierende Strahl meiner Taschenlampe flackerte und schließlich erstarb. In absoluter Schwärze stand ich da in dieser unheilvollen Kammer und große Furcht wallte in mir, denn ich war mir absolut sicher, dass ich nicht alleine war. Gerade als ich mich fragte, ob dies überhaupt ein Weinkeller war, wurde das Kratzen lauter. Ein Geräusch, als ob sich Fingernägel an den Mauern zu schaffen machten. Fingernägel, die meinem Standort immer näher kamen. Vorsichtig tastete ich mich Stufe um Stufe zurück nach oben als plötzlich, noch viel unheimlicher als es gekommen war, das Kratzen verstummte und einer unheilvolle Stille Platz machte. Wie die Ruhe kurz vor einem ungeheuren allesverschlingenden Orkan. Als ich meine Schritte beschleunigte und dem stürmischen Prasseln der Oberfläche näher kam, ertönte hinter mir aus der Tiefe das grässliche Kreischen der Türklinke. Und mit einem langgezogenen Quietschen öffnete sich die schwere Stahltür hinter mir. Ich hatte den rostigen Ausgang bereits erreicht, als mir ein eiskalter diabolischer Windhauch wie ein Dolch durchs Mark fuhr. Der Hauch vereiste mir die Knochen und zerschmetterte mir den Verstand. Meine Furcht wich nun einer panischen Todesangst vor dem unbenennbaren horrenden Terror aus dem uralten steinernen Gewölbe, der nun ohne Zweifel hinter mir war aber ich hatte nicht den Mut mich umzudrehen.
An diesem Punkt lässt mich mein Gedächtnis im Stich. Ich erinnere mich vage an eine blinde Flucht vor einem unsichtbaren Verfolger und meine Angst vor der unbekannten Gefahr, verlieh mir die Kraft zu entkommen. Irgendwie habe ich es aus diesem Keller des Schreckens herausgeschafft und stand nun kraftlos und völlig außer Atem vor einem moosbewachsenen Ortsschild auf dem "Ford" geschrieben stand und mein rasendes Herz beruhigte sich endlich ein wenig.
Ford schien nicht besonders groß, obwohl ich mir einen vollständigen Rundgang zeitlich nicht leisten konnte. Meines Wissens nach, gab es dort nur einige wenige heruntergekommene Holzhütten, ein verlassen wirkendes Sägewerk, eine halb zerfallene Tischlerwerkstatt sowie die Überreste eines abgebrannten Gebäudes, das vielleicht einmal ein Rathaus gewesen war und eine alte eingestürzte Kirche, die wohl lange nicht mehr besucht wurde. Das früher einmal auf Forstwirtschaft spezialisierte Dorf wirkte wie eine ausgestorbene Geisterstadt. Als ich durch die menschenleeren überwucherten Pflasterstraßen schritt sah ich in den Fenstern einer einzigen Hütte Licht brennen, über dessen Eingangstür ein angeschimmeltes Schild hing mit den kaum noch lesbaren Buchstaben "Pension Natterrick".
Ich stand immer noch im Bann der Furcht und Paranoia nistete sich in meinem Hirn ein. Ich konnte die Atmosphäre, die dieses Haus umgab, nicht ignorieren. Es machte den Anschein von verzweifelter Zuflucht aber trotzdem spürte ich eine unheilvolle Aura. Gerade als ich zu einem Klopfen ansetzte, sprang bereits die Tür mit einem Knarren auf und ein vermummter Mann bat mich herein. Ich betrat eine kleine Empfangshalle und im fahlen Flimmern einer staubigen Glühbirne konnte ich den Hausherrn näher betrachten. Eine skurrile Gestalt mit großem Buckel und knochendünnen Gliedern, in einen bodenlangen altmodischen Mantel gehüllt, schloss hinter mir die Tür. Ein faltiges Gesicht, von einem grauweißen verfilzten Bart gesäumt, lugte aus der zerschlissenen Kapuze des Mantels hervor, als es sich mir zuwandte und mich mit einem Lächeln auf den dünnen Lippen bat, mich zu setzen. Mehr als zwei alte Holzstühle und einem kleinen wackeligen Tisch war in dem Raum nicht zu finden. Wir setzten uns und ich bat meinen Gegenüber freundlich um Zuflucht vor dem Sturm. Sein Lächeln wurde breiter und die hässliche spitze Nase tanzte vergnügt unter den glasigen Augen die mich begierig musterten. Ich erzählte ihm von meinem Unfall und hoffte auf ein verfügbares Transportmittel. Mit krächzender Stimme antwortete der alte Mann: "Mhm, ein Zimmer kann ich dir anbieten, jaja. Bis das Unwetter vorüber ist musst du aber warten mit deiner Abreise, oh ja. Hier gibt es kein intaktes Automobil aber unter dem Licht des Tages wirst du den nächsten Bahnhof finden, sicherlich. Komm, ich zeig dir dein Zimmer, komm!". Nach unserem Gespräch führte er mich durch einen knarzenden Flur zu meinem Zimmer, die Hände immer in den weiten Ärmeln seines Mantels versteckt. In der kleinen Pension gab es insgesamt nur drei Räume. Die Empfangshalle, mein eigenes Zimmer und eine Tür gegenüber, hinter der ich eine Abstellkammer vermutete. "Wenn du etwas brauchst, rufst einfach nach mir, hm. Übrigens, mein Name ist Eugen Drachtarn", erklärte er mit übertriebener Fürsorge. Ich bedankte mich höflich für seine Gastfreundschaft und zog mich zurück.
Mein Quartier war spärlich eingerichtet. Ein kleines Bett, flankiert von einem rustikalen Schreibtisch unter einem verdreckten Fenster auf der einen Seite und, durch einen Vorhang getrennt, ein Badezimmer auf der anderen Seite, mit einem schmierigen Waschbecken und einer kaputten Toilette. Die einzigen beiden Lichtquellen waren die Schreibtischlampe und eine Glühbirne im Badezimmer. Meiner anfänglichen Enttäuschung wich unglaubliche Müdigkeit und Erleichterung. Ich legte mich sofort ins Bett und schloss die Augen. Endlich konnte ich mich ausruhen, endlich konnte ich schlafen... dachte ich jedenfalls. Schon nach kurzer Zeit geschahen seltsame Dinge.
Es begann mit dem Fenster. Ein hölzernes Klappern fuhr durchs Zimmer und ich dachte zuerst, es sei nur der lockere Fensterrahmen der im Wind scheppert. Als es begann, mir richtig auf die Nerven zu gehen, stand ich auf um ihn irgendwie zu fixieren. Einer Klapperschlange gleich tobte das Fenster doch als ich hinaus in den stürmischen Regen sah, konnte ich keine Baumwipfel sehen, die sich im Wind biegen sollten. Der unnatürliche Regenschauer und das Blitzgewitter schienen stärker zu werden, aber es war absolut windstill. Und trotzdem zitterte das Fenster, als hätte es vor etwas Angst. Ich versuchte das Geräusch zu ignorieren und wollte wieder zu Bett gehen, als mich ein Schock durchfuhr. Ich starrte furchterfüllt auf den Trennvorhang zum Badezimmer. Auf dem fleckigen, aber dennoch transparenten, Vorhang sah ich einen Schatten. Einen menschlichen Schatten. Wer konnte das sein? Mein Gastgeber hatte eher die Statur eines umgeknickten Baumstammes und sonst bin ich seltsamerweise keinem anderen Menschen begegnet. In meinem Kopf dröhnte es und wie unter Drogen schlich ich mich langsam zum Vorhang und riss ihn ruckartig auf. Aber da war nichts. Das schmierige Waschbecken und die kaputte Toilette gafften mich an und das Fenster lachte mich klappernd aus. Ich schob diese Sinnestäuschung auf meine Müdigkeit und legte mich schwer atmend zurück auf die harte Matratze. Ich versuchte mich zu beruhigen und lauschte dem rauschenden Regen und dem ratternden Fenster. Dem grollenden Donner und dem Knarzen der Wände. Den krachenden Blitzen und meinem pochenden Herzen. Doch mein Herz fügte sich nicht dem Rhythmus und setzte einen Schlag aus, als sich ein unheimliches Kratzen der Atmosphäre anschloss. Erschrocken fuhr ich hoch. Ein fernes Kratzgeräusch drang durch die Wand, als ob Fingernägel das Holz abschaben wollten und ein unregelmäßiges, und vor allem unnatürliches, Kirchenläuten setzte ein. 'Vielleicht gab es hier Mäuse?', redete ich mir ein und stand mit dem Wissen auf, dass ich niemals wieder eine ruhige Nacht haben würde.
Ich irrte benommen durch den Flur zur Empfangshalle, auf dem Weg zu meinem schrägen Gastgeber. Doch er war nicht hier. In meinen verschwommenen Erinnerungen hallte noch immer sein Name. "Eugen!", rief ich, "Eugen Drachtarn!". Als sich niemand meldete suchte ich nach ihm, so viel es in der kleinen Pension zu durchsuchen gab, bis ich auf die Abstellkammer stieß. Angst kroch mir den Nacken hoch als ich die alte Holztür öffnete.
Ein Geruch von verrottetem Papier stieß mir entgegen. Der ganze Raum war eine winzige, unordentliche Bücherei. Zerbrochene Regale mit endlos vielen Bänden lagen auf dem Boden und chaotische Haufen von Büchern füllten jeden Quadratzentimeter. Nur eine einzige enge Passage führte durch ein Tal im Büchergebirge zu einem beleuchteten Lesetisch. Eine frisch angezündete Kerze flackerte neben einem geöffneten Buch. Es trug keinen Titel und schien genauso antik zu sein wie die Geschichten, von denen es erzählt. Und als ich es so betrachtete verstummte das Kratzen und ich spürte einen Luftzug hinter mir. "Ah, meine Bibliothek hast du gefunden, hehe. Ich habe hier sonst nicht viel zu tun, jaja", sprach der alte Mann, der einfach so aus dem Nichts aufgetaucht ist. Ich wandte mich ihm zu und fragte ihn zuerst, ob es hier Mäuse in den Wänden gibt. Er schien die Frage nicht verstanden zu haben und fixierte seinen Blick auf das Buch in meinen Händen. "Oh...", begann er. "Oh, ein wunderbares Werk. Sag, junger Mann, kennst du die alte Legende vom Grauen der Nacht? Nein? Naja, wundert mich nicht, hehe". Er nahm es mir behutsam aus den Händen und das war das erste Mal als ich die seinen sah. Anstatt der normalen Anzahl an Fingern hatte er nur vier missgebildete knochige Stummel an jeder Hand, die mit faltiger Haut überzogen waren und an deren Spitzen Fingernägel von unbeschreiblicher Form herausstachen. Welche Finger fehlten, war nicht zu erkennen, denn diese Hände waren auf keinen Fall normal, ja nicht einmal menschlich. Vermutlich eine Missbildung oder Mutation. Er erzählte im Flüsterton. "Vor langer, langer Zeit als Ford gegründet wurde fand man eine Struktur zwischen den Stämmen des Waldes, jaja. Ein Gebäude, das zu jenen alten Zeiten schon uralt war. Es war ein Verlies, ein Gefängnis, oh ja. Und in diesem Gefängnis war natürlich etwas eingesperrt, hehe. Nämlich das schrecklichste und bösartigste Monster, das es auf dieser Erde voller verdammter Kreaturen gibt". Als er die Worte 'schrecklichste' und 'bösartigste' formulierte, zeigten sich unter seinen Lippen winzige nadelspitze Zähnchen. "Und wer diese Kammer öffnet, oh... Möchtest du das wirklich wissen? Nun gut... den verfolgt das Grauen und die Angst sucht ihn heim, diesen unglücklichen Menschen, jaja. Oh, und diese Angst, die von dem Opfer fließt wie ein Wasserfall, ist die Nahrung der Nacht. Das Biest wird stärker, je mehr man es fürchtet. Und je stärker es ist, desto furchteinflößender wird es, oh ja. Verstehst du? Es ist wie... wie ein... ein...", stockte er. "Teufelskreis", vervollständigte ich den Satz mit einem Schaudern in der Stimme. "Genau! Wie ein Teufelskreis... Und deshalb weckt man es nicht, hehe. Denn dann ist es für immer erwacht, oh ja, hehe... Aber es ist nur eine alte Legende, nicht wahr? Obwohl diese Nacht scheinbar nie enden will. Jaja, wenn du willst, kannst du es dir ruhig ausborgen, ein gutes Buch, hehe", meinte er und überreichte mir breit grinsend den Band.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und untersuchte das Buch, da Schlaf für mich nun ausgeschlossen war. Mehrere Geschichten, Volksmythen und sogar Berichte von Reisenden sowie einige Tagebucheinträge gaben dem Ganzen eine beunruhigende Glaubwürdigkeit, obwohl die meisten der Autoren eindeutig Verrückte waren. Sogar eine Skizze der Kreatur war darin zu finden. Ich informierte mich in den nächsten Stunden intensiv über diesen Mythos und konnte mir nach den Beschreibungen der verbotenen Texte ein gutes Bild machen, während im Hintergrund immer noch das Fenster ratterte und die Glocken läuteten.
Das Grauen der Nacht ist ein transzendentes Wesen, das zwar einen ursprünglichen Körper hat, ihn aber nur selten zeigt und sich meist perfekter Tarnung bedient, die es gänzlich unsichtbar macht. Einmal aus seinem Gefängnis befreit, verfolgt es seine Opfer auf subtile Weise, die sie in den Wahnsinn treiben. Mit hinterhältigen Tricks schürt es Furcht in ihnen und durch diese Furcht erstarkt es auf unerklärliche Weise. Mit zunehmender Stärke werden auch seine Tricks immer ausgereifter, sodass es andere Gestalten annehmen und durch extrem real wirkende Illusionen das Opfer unter seine Kontrolle bringen kann, nur um dann mit seiner Angst zu spielen. Mit großer Stärke kann es sogar seine einzige Schwäche ausmerzen und bei Tageslicht wandern. Sein eigentliches Erscheinungsbild ist das eines humanoiden Körpers aber es hat nichts menschliches an sich. Es wurde von graubleicher Haut und tiefschwarzen dämonischen Augen berichtet. Und eine furchtbar scheußliche Fratze mit einem Grinsen aus dem lange spitze Reißzähne und eine noch längere Zunge ragen. Ein Grinsen, das sich über das gesamte hässliche Gesicht erstreckt, die Mundwinkel dort wo bei einem Menschen die Ohren sein würden. Aber der schrecklichste Horror an dieser Abscheulichkeit und das Merkmal seines Terrors sind seine Klauen. Abnormal lange Krallen in der Länge von einem ganzen Meter und vier an der Zahl wachsen dem Ungeheuer aus den Stummeln, wo ein Mensch seine Hände hätte. Mit diesem tödlichen Werkzeug schlitzt es seine Opfer am Gipfel ihres Wahnsinn besonders dramatisch in Stücke und ihr Tod verbreitet den Mythos des Monsters und somit seinen Einfluss. Deshalb sollte es nie erweckt und befreit werden. Wie es in einem uralten Text heißt: "Für immer erwacht das Grauen der Nacht".
Natürlich belastete mich dieses Thema und die Geschichten und Beschreibungen bereiteten mir Kopfschmerzen und gaben mir das Gefühl, selbst verrückt zu werden. Ich hielt nie etwas von Gespenstern oder anderen Horrorgestalten aber die Ereignisse dieser Nacht haben meinen Glauben und meine Ideale erschüttert. Auch wenn ich in diesem Keller oder Verlies nichts Konkretes gesehen habe, bereue ich es doch, auch nur einen Fuß in seine lockenden Tiefen gesetzt und das Böse erweckt zu haben. Ich war mir nicht einmal mehr sicher wie schnell die Zeit verging. Der Mond hing schon mindestens seit Stunden an der selben Stelle und den Blick auf eine Uhr habe ich schon sehr lange nicht mehr genossen mit Ausnahme, der zerstörten Kirchturmuhr, dessen zertrümmerte Glocken mir ins Hirn hämmerten. Alles schien so irreal und verschwommen und mit jedem verstreichenden Atemzug kam mir alles mehr und mehr wie ein Traum vor. Ein niemals endender Albtraum. Und ich fügte mich der Angst und rutschte hinab in den Abgrund des Wahnsinns.
Halluzinationen plagten mich und ich hörte undefinierbare Stimmen. Wenn ich aus dem Fenster sah, starrten mich leuchtende Augenpaare aus dem Wald an, wenn ich das Waschbecken benutzte rann nur blutrotes Wasser aus dem Hahn und die Toilette begann immer wieder spontan zu blubbern. Es fühlte sich an, als ob das teuflische Geschöpf den Raum in seinem widerlichen Griff hatte. Ich konnte nicht mehr klar denken, meine eigenen Gedanken spielten mir Streiche. Ich kann mich immer noch an die scheußlichen, perversen und widernatürlichen Träume und Illusionen erinnern, die mich plagten. Aber selbst im Wahnsinn wusste ich, dass dieser Horror von dem Erzeuger des grässlichen Kratzens ausging, das jetzt scheinbar nicht nur aus den Wänden, sondern auch unter meinem Bett zu kommen schien und ich fühlte jede Vibration, die ohne Zweifel von den langen Krallen der Kreatur ausgingen, die mich verfluchte und mir mit jedem Kratzer abscheuliche Dinge in den Kopf brannte, welche sich nun immer tiefer in mein Hirn fraßen. Es saugte mir die Kraft aus und in meiner Agonie konnte ich mich nicht wehren. Der nagende Albtraum schien kein Ende zu haben. Vielleicht lag ich Stunden, vielleicht auch Tage paralysiert in dieser Holzhütte, geplagt von dem unbeschreiblichen Bösen in ewiger Finsternis und alles was ich mir wünschte war eine Erlösung durch den Tod.
Aber der Tod kam nicht. An seiner Stelle kam jemand völlig anders. Ein Klopfen riss mich aus den Träumen des Chaos. Es kam mir eher wie ein Kratzen vor aber es hatte auch den Anschein eines Klopfens. Mein kranker Verstand ließ mir keine Kontrolle über meine körperliche Hülle und so ging ich wie eine Marionette, gesteuert von jemand anderem auf die Tür zu, deren Aussehen mich auf einmal an die Stahltür aus dem Verlies erinnerte. Ich drückte die quietschende Klinke nach unten und die Holztür schwang auf. Ein gleißendes Licht verbrannte mir fast die Augen und ich konnte zuerst nichts sehen aber als sich meine Augen daran gewöhnten geschah etwas äußerst Unerwartetes. All der Horror, all die Träume und Halluzinationen, all der Schmerz und Wahnsinn waren fort. Einfach so. Und ich stand in einem rustikal eingerichteten Zimmer mit einem Kamin, davor ein rotbrauner Teppich, im Eck ein gemütliches Sofa und eine schnörkelverzierte Standlampe, im anderen Eck ein großer Schreibtisch aus Mahagoni mit einem wunderschönen Polstersessel davor und auf einer Wand blickte ich aus einem großen Panoramafenster auf eine belebte Stadt, erhellt von den Strahlen der Sonne. Ich drehte mich um und sah ein weißes romantisches Doppelbett. Als ich mich zur Tür wandte, stand da vor meinen Augen eindeutig eine lebendige Person aus Fleisch und Blut und kein Produkt einer Halluzination. Und es war ohne Zweifel meine Frau.
Sie erstrahlte in solcher Schönheit, dass ich einige Sekunden brauchte um ihre Erscheinung vollständig zu erfassen. Mit wallendem weißen Kleid, langem gelockten Haar und einem mitfühlenden Lächeln stand sie da. Sie schien so unglaublich perfekt, genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte mit ihren kantigen Zügen, die ich so sehr liebte, ihren vollen Lippen, die ich so gern küsste, ihrer kleinen spitzen Nase, die ich so gern mit meiner anstupste, ihren wunderschönen blauen Augen, in die ich so gern sah, ihrer sanften blassen Haut, die ich so gern berührte. Es gab unzählige Dinge, die ich ihr sagen wollte, so viele Erlebnisse, die ich ihr erzählen wollte. Aber alles was ich mit bebender Stimme und Tränen in den Augen herausbrachte war einfach nur: „Elise…“. Und ihre liebliche Stimme antwortete. „Schatz… Was ist los? Du siehst müde aus. Hattest du wieder einen Albtraum? Komm, ich will dir etwas zeigen, das dich aufmuntern wird. Komm!“. Und das wollte ich. Ich wollte mich in ihre Arme werfen, sie küssen und ihr sagen, dass alles in Ordnung ist. Ich wollte mit ihr wieder den Rest meines Lebens verbringen. Aber ich konnte nicht. Denn nichts war in Ordnung und den Rest meines Lebens sollte ich anders verbringen. „Ich… Ich kann nicht“, brachte ich hervor. „Was heißt du kannst nicht? Schatz, ich bin’s. Deine Frau, die du so sehr liebst, der einzige Mensch in deinem Leben, der dir so viel bedeutet. Ich bitte dich, komm mit. Komm mit mir und werde endlich wieder glücklich. Ich weiß, du willst es. Komm zu mir, Schatz. Komm zu mir“, flehte sie eindringlich mit ausgestreckter Hand. „Nein. Elise du… Du verstehst nicht. Wir sind vor zehn Jahren in der Stadt gewesen, nach der Feier unseres Hochzeitstags, weißt du noch? Es war Nacht und wir haben auf ein Taxi verzichtet. Wir sind zu Fuß durch diese verfluchten Gassen gegangen. Und… Da kam dieser Kerl. Wollte uns ausrauben. Ließ ich nicht zu. Er geriet in Panik. Schoss wild um sich. Und er traf dich… Ich war in dem Krankenhaus, ich war bei dir, aber ich konnte dich nicht retten. Elise… du bist tot. Du bist tot Elise, hörst du? Dich gibt es nicht! Ich habe dich sterben sehen! Du bist tot!“, schrie ich mit Tränen im Gesicht. All die Albträume und Halluzinationen, all dieser Wahnsinn und Schmerz war nichts, verglichen mit dem folgenden Anblick. Elise, die wunderschöne Frau, die ich so sehr liebte, offenbarte sich als das Grauen der Nacht, der abscheulichen Kreatur, die ich so sehr hasste. Ihre hübschen Züge wurden zur verzerrten Fratze des Scheusals, ihre zarten Finger verwandelten sich in vier einmeterlange Krallen, ihre blasse Haut verbrannte zu einem hässlichen grau, ihre blauen Augen wurden von einem teuflischen Schwarz gefüllt und aus ihrem mitfühlenden Lächeln wurde ein riesiges spottendes Grinsen, das sich über den ganzen Kopf zog.
Der Horror stand direkt vor mir, gaffend, grinsend und lechzend. Mein einziger Gedanke in diesem Moment war der Glaube an das Ende. Ich dachte, es wäre nun alles vorbei. Das Wesen hatte seinen Spaß mit meinem Wahnsinn, meiner Furcht und meinem Verstand und jetzt wolle es sich noch meinen Körper holen. Vermutlich wäre das auch das Beste gewesen. Aber stattdessen brannte es mir diese Erinnerungen in den Kopf und ließ mich in unendlich elendigem Leid weiterleben. Nie wieder konnte ich an etwas anderes denken, als dieses Grinsen und jedes Mal wenn ich ich ein Kratzen höre, bekomme ich Panikattacken. Ich habe seitdem keine Nacht ohne Albträume verbracht, falls ich denn überhaupt einschlafen konnte und eine starke Paranoia nistet in mir. Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin, sagten die Ärzte, man habe mich bewusstlos neben dem Autowrack gefunden. Natürlich haben sie mir meine Geschichte nicht geglaubt und manchmal zweifle ich selbst daran, ob meine Angst begründet ist. Aber tief im Inneren weiß ich ganz genau, dass das Grauen der Nacht seine Arbeit beenden wird…
Anmerkung
Fast alle Namen sind Anagramme:
Ford = Dorf
Pension Natterrick = Ein spontaner Trick
Eugen Drachtarn = Grauen der Nacht
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