Geschichten rund um Liebe, Familie oder Freundschaft

Keine Antwort von dir

Beitragvon Orange » Sa 25 Okt, 2008 11:20


Keine Antwort von dir

Mein Kopf lehnt gegen die kalte Fensterscheibe und ich starre hinunter in die Straßenschlucht. Wie klein die Autos von hier oben gesehen scheinen! Und die Fußgänger, wie unwichtig gewordenes Spielzeug. Zinnsoldaten, die tapfer gegen einen eingebildeten Feind marschieren. In diesem Augenblick würde es wenig Überwindung kosten, etwas zu werfen und einen der Zinnsoldaten zu Fall zu bringen. Von hier kann man sich gar nicht vorstellen, dass diese Punkte Menschen sein sollen, mit Zielen, Ängsten und Träumen. Noch leichter wäre es, das Fenster zu öffnen und selbst zu springen, sich einfach fallen zu lassen.
„Emma! Wo bist du eigentlich?“ „Hier, in der Küche“, beantworte ich mechanisch die völlig überflüssige Frage – wo soll ich schon sein in einer Zweizimmerwohnung? „Was tust du auf dem Küchentisch?“ Ich drehe mich um. „Ich sitze hier und schaue raus. Und, Paul, du behauptest seit mindestens zehn Minuten, dass du unbedingt los musst, bist aber immer noch da“, erwidere ich lächelnd. Er zuckt schuldbewusst mit den Schultern. Er hat schon den Mantel an, den Aktenkoffer in der Hand. „Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragt Paul etwas unsicher. „Ja, warum nicht?“ Ich bemühe mich, meiner Stimme einen möglichst fröhlichen Tonfall zu geben. Ich springe vom Tisch und lege beide Arme um ihn. „Viel Spaß in der Arbeit. Und lass dich nicht ärgern“, flüstere ich. „Es tut mir so Leid, dass ich dich den ganzen Tag alleine lasse“, murmelt er und erwidert meine Umarmung. „Das macht doch nichts! Nächste Woche fängt das Semester an, dann bin ich auch den ganzen Tag beschäftigt und muss abends lernen. Und so lange gibt es hier ohnehin noch genug zu tun. Zeug einkaufen, der Klempner muss sich noch mal diesen Wasserhahn ansehen. Ich sollte ihn vielleicht gleich heute anrufen, bevor ich es wieder vergesse. Außerdem muss ich doch deine herrlich aufgeräumte Wohnung etwas durcheinander bringen, sonst fühle ich mich nicht wohl.“ Paul lacht, küsst mich und schiebt mich sanft von sich. „So, ich muss jetzt los.“ Lächelnd begleite ich ihn zur Tür und sehe ihm nach, bis er im Aufzug verschwindet. Dann gehe ich zurück zum Küchenfenster. Einer dieser bunten, bedeutungslosen Flecken dort unten ist jetzt Paul. Mit Mühe reiße ich mich von dem Anblick der belebten Straße wieder los und hole mir das Telefon. Mit ihm in der Hand setzte ich mich an den Küchentisch und mache mich daran, aus dem Telefonbuch die Nummer eines Klempners zu suchen. Schnell stelle ich fest, dass amerikanische Telefonbücher hoffnungslos unübersichtlich sind. Ich schlage das Buch zu. Am besten frage ich einen meiner Nachbarn, ob sie mir einen Klempner empfehlen können.
Mein Blick wandert wieder zum Küchenfenster. Meine nervösen Finger wählen unwillkürlich eine Nummer. Lange kann ich meine Augen nicht von den vertrauten Zahlen auf dem Display wenden. Nichts würde ich in diesem Moment lieber tun, als bei dieser Nummer anzurufen, unbeschwert zu erzählen, wie es mir hier ergeht, zu fragen, ob ich mir wegen eines tropfenden Wasserhahns schon Sorgen machen muss. Aber ich weiß genau, dass ich deine Nummer nie wieder wählen werde, dass du mir nie wieder am anderen Ende der Leitung antworten wirst.

Ich stehe wieder auf. Ich habe beschlossen, mir wegen eines tropfenden Wasserhahns Sorgen zu machen und jetzt sofort etwas zu unternehmen. Kann ich im Jogginganzug bei meinen Nachbarn klingeln? Noch eine von diesen Fragen, die du am besten beantworten könntest. Unentschlossen bleibe ich an der Wohnungstür stehen. Im Grunde genommen bin ich hoffnungslos überfordert. Ich, die kaum je Wäsche aufgehängt hat, soll einen Haushalt führen. Aber es ist nicht nur das: Ich soll mich in einem neue Land einfinden. Ich soll studieren.
Mutlos setzte ich mich in der Diele auf den Boden. Wie hast du immer gesagt: „Ich habe jetzt schon Angst davor, wie leer das Haus sein wird, wenn du gehst.“ Schon als ich ganz klein war, hast du das immer wiederholt. Aber soweit ist es nie gekommen: Du bist gegangen, nicht ich. Ich musste Abschied nehmen, nicht du.
Manchmal haben wir beide uns vorgestellt, wie meine erste Wohnung aussehen würde. Ich war mir immer sicher, dass du mir beim Einrichten helfen würdest, dass wir uns zusammen durch Möbelläden quälen würden.
Was würdest du sagen, wenn du mich jetzt sehen würdest? Du hast Paul immer gemocht. Ist es wirklich erst vier Monate her, dass du versucht hast, mich zu trösten, als ich heulend erzählt habe, Paul würde nach LA gehen? Hast du damals erwartet, dass er mich mitnehmen würde? Aus meiner Verzweiflung retten, wie eine Katze aus dem Tierheim? Vielleicht schon, auf so vieles schienst du vorbereitet gewesen zu sein. Ich hätte es nie voraussehen können, mich haben die Ereignisse völlig überrascht, ich kann sie immer noch nicht so ganz begreifen.
Ich rappele mich wieder auf und wische mir die Augen an dem Ärmel meines Jogginganzugs. Ja, ich kann bei meinen Nachbarn so angezogen auftauchen. Bevor ich die Tür aufziehe, stecke ich mir noch den Schlüssel in die Tasche. Soviel habe ich von dir gelernt: Du hast dich so oft ausgesperrt und immer hast du mich angerufen, wenn ich ausgegangen bin, wenn ich in der Schule war, egal.
Mit großen Schritten gehe ich zur gegenüberliegenden Tür und klingele. Oh, Gott! Darf ich um kurz nach acht morgens bei fremden Leuten läuten? Die Frau, die mir öffnet, ist noch in Schlafanzug und Bademantel. „Es tut mir so leid! I mean: I’m so sorry! I hope I’m not disturbing…“ „Never you mind. I’ve been awake awright.“ Die Frau lächelt. Sie ist in etwa so alt wie du, knapp über fünfzig. Die Art, wie sie gegen das Licht blinzelt, sagt mir, dass sie lügt; ich störe. Du wärst ehrlich gewesen, du hast den Leuten immer deutlich gemacht, wenn sie unerwünscht waren. „What is it you want, my dear?“ „I just wanted… Do you have the phone number of an – what do you call it? – plumber?â€
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Re: R.I.P.

Beitragvon Garfield » Sa 08 Nov, 2008 22:07


Moin Orange

Deine Geschichte gefällt mir gut. Sie beschreibt einfach und ohne Kitsch die schwierige Situation der Protagonistin. Sehr schön, sehr realistisch kommen die Erinnerungen an den Verstorbenen rüber, ich vermute es ist ein Elternteil.

Eigentlich sind da nur zwei Sachen die mich stören, das ist zum einen der Titel.
Sorry, aber der ist langweilig und ich glaube die Geschichte wäre noch besser, wenn man nicht gleich im Titel auf den Todesfall gestoßen wird, sondern es aus der Geschichte heraus erfährt, so wie sie jetzt da steht.

Und dann der Schluss:
Die Erinnerung an dich wird mich immer begleiten oder verfolgen. Ruhe du in Frieden, es wird noch lange dauern bis ich in Frieden leben kann

1. Die Erinnerungen würden sie doch nicht verfolgen, es sind doch schöne Erinnerungen, sie machen sie zwar traurig, aber verfolgen klingt zu hart.
2. Der letzte Satz ist einfach zu künstlich, zu abgedroschen. Ich verstehe, dass du die Geschichte abschließen wolltest, aber warum? Ihr Leben geht ja weiter, also wähle doch ein wirklich offenes Ende, ohne großen Abschlusssatz.

Ansonsten aber gern gelesen, deine Sprache passt sehr schön zur Geschichte.

Ich, die kaum je Wäsche aufgehängt hat,

kaum je klingt sehr unschön.

mein Leben ist leer, nicht dein Haus

Leider unlogisch, wenn die Person tot ist und die Protagonistin ausgezogen, ist das Haus ja unbewohnt.

Gruß Garfield
Kurz, er bewies eine Geduld, vor der die hölzern-gleichmütige Geduld des Deutschen, die ja auf dessen langsamer, träger Blutzirkulation beruht, einfach gar nichts ist.
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Re: R.I.P.

Beitragvon Orange » Mo 10 Nov, 2008 10:58


Hi Garfield!
Vielen Dank für deine Kritik! Freut mich dass es dir gefällt.
Der Titel ist nicht so sonderlich, stimmt! Vorher hatte ich "Ein Tag ohne dich". Klingt zwar kitschig und mehr nach Liebesgeschichte, aber ich fand irgendwie es hat besser gepasst, allerdings hat man mir dann von mehreren Seiten gesagt es wäre nicht so gut. Ich bin noch am überlegen. Es fällt mir immer schwer einen Titel zu finden.
Stimmt der letzte Satz klingt künstlich, musste aber rein, damit der neue Titel passt, oder? Ist nämlich auch eine spätere Korrektur.
Mit den beiden sprachlichen Sachen hast du Recht, ich werde es ändern.
Sonnige Grüße
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Re: R.I.P.

Beitragvon Orange » Mo 17 Nov, 2008 11:52


Hi!
Danke für das Lob.
Du hast Recht in diesem Satz mit dem Mond und den Grabsteinen wollte ich dem Leser nochmal einen Wink mit dem Zaunpfahl geben vielleicht auch eher mit dem Zaun.
Deine Titelideen werde ich nochmal gründlich überdenken, klingt gut. "Kein Tag ohne dich" hatte ich schon eine Weile, aber irgendwie hat es mir dann doch nicht so gut gefallen.
Sonnige Grüße
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Re: R.I.P.

Beitragvon Antibegone » Mo 17 Nov, 2008 21:31


Huhu Orange :-)


Huu, mal wieder eine Prosa von dir? Das freut mich, weiß auch nicht, warum.
Hm, ich lese einfach gerne Geschichten von dir ;-) Jetzt zu RIP.

Der Titel bereitet mir wirklich Kopfschmerzen; hätte ich doch fast die Geschichte gar nicht gelesen, weil er mir nicht zusagte!
Das Problem ist: „R.I.P. Requiescat in Pacemâ€
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Re: Keine Antwort von dir

Beitragvon Orange » Di 18 Nov, 2008 20:00


Hi Traumwächterin!
Schön, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Zu deiner Kritik: wie du siehst habe ich den Titel jetzt nochmal geändert. Vielleicht ist es ja jetzt besser. Du hast Recht RIP ist einfach nicht so wirklich passend. Auch mit meiner Sprache hast du Recht, ich schreibe zu nüchtern und tue mir schwer mit Vergleichen und Metaphern. Ich arbeite wirklich dran. Das ich zuviele Adjektive gebrauche ist mir noch nicht so aufgefallen. Ich werde mir die Geschichte nochmal sehr gründlich mit deiner Kritik im Hinterkopf durchlesen.
Beim englischen Dialog, soll es eigentlich Akzent sein. Awright statt Allright.
Vielen Dank für deine ausführliche Kritik!
Sonnige Grüße
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Re: Keine Antwort von dir

Beitragvon Antibegone » Do 20 Nov, 2008 16:13


Huhu Orange :-)

Freut mich sehr, wenn du etwas mit meinem Kommentar anfangen kannst.

Das mit dem englischen Akzent leuchtet mir ein, habe mich schon gewundert, warum dort plötzlich dieses seltsame Wort auftaucht, wenn du sonst fehlerfreies Englisch schreibst. Aber so ist mir alles klar ;-)

„Keine Antwort von dir“ – hmm, auf jeden Fall ist der Titel besser als der andere, insofern als dass er nicht auf dieses unpassende Akronym zurückgreift. So richtig gefallen will er mir aber auch nicht. Irgendwie ist er … nichts sagend, ein wenig zu schlicht, langweilig. Er kann den Leser nicht gerade begeistern, deine Geschichte zu lesen.
Aber als „Arbeitstitel“ ist er okay.

Das mit den Adjektiven – wie gesagt ich würde nicht pauschal sagen, dass du „zu viele“ verwendest, du benutzt sie oft und, ob man das macht oder nicht, ist Geschmackssache. Was mich stört ist, dass ihre Verwendung manchmal nicht sehr kreativ ist.

Herzliche Grüße an dich,
von der Traumi
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