Geschichten rund um Liebe, Familie oder Freundschaft

Quasi am Leben

Beitragvon tagedieb » Sa 20 Sep, 2008 18:11


Sechsundfünfzig, er. Und die Frau, die er liebt, knapp fünfzehn Jahre jünger. Und ich und kann mir ein "Aha?", hinter dem sich meine Bewunderung verbirgt, nicht verkneifen. Aber was er von mir will, weiß ich nicht. Wir sind ja nie Freunde gewesen und trotzdem bekomme ich jetzt den ganzen Scheiß auf den Tisch gepackt als würden wir kumpelig in irgendeiner Selbstbauschwitzhütte sitzen und nicht im Dienstzimmer. Ehefrau krank. Beziehung irgendwie notdürftig geflickt. Kein Sex mehr, kein Begehren aber Wünsche. Pilze sammeln mit dem Enkel und der Gedanke, dass die Geliebte nun bald keine Kinder mehr bekommen kann und sowieso keine Nähe zulässt. Sie ist ja katholisch. Und der andere Kollege: Freundin, Kinder, stets fröhlich und trotzdem eheähnliche Frauen bejammernd, weil er gerne ungebunden wäre, fragt mich zwei Stunden später, ob ich eins habe und wo denn mein Glück wohne und ich stammel mir Orte zurecht, hier und Leipzig und Wien und noch ganz woanders, weil es ja verschiedene Arten von Glück gibt und ich das nicht so schnell auseinander bekomme. Da sagt er nur "Aha?". Mr. Sunshine geht schweigend. Und dann in dem Brief an die Frau, die immer nur "Nein." sagt, fange ich an zu rechnen. Wir bezahlen für die Umsetzung unserer Träume mit der Aufgabe anderer Träume. Ich erzähle ihr was von Glück und so, einfach nur weil ich ihr irgendwas erzählen möchte - man sieht sich so selten -, und denke nebenbei nach und weiß nur nicht, nach welchen Gesetzen wir entscheiden. Folgst Du Deinem Herzen? Bist Du bereit Deine Heimat zu verlassen? Beugst Du Dich der Verpflichtung anderen Menschen gegenüber? Willst Du denn ewig voller Sehnsucht bleiben? Gilt es mehr zu geben - Du bist Vater, Sohn, Mann - als zu erhalten? Müssen wir ganz sein? Oder können wir zur Hälfte leben? Nun, die Frau, die immer "Nein." sagt, wird wieder nicht antworten. Da muss ich ihr Recht geben.
tagedieb
Neu
Neu
 
Beiträge: 7
Registriert: Mo 15 Sep, 2008 08:25
Eigene Werke
 

Re: Quasi am Leben

Beitragvon Smilodon » So 21 Sep, 2008 11:45


Hallo tagedieb,
ich finde deine Geschichte interessant. Ja, ich glaube, interessant ist das beste Wort. Irgendwie schaffst du es, in ein paar Zeilen sämtliche Klischees rund ums Glücklich- bzw. Unglücklichsein anzusprechen, ohne dass es langweilig wirkt. Das gefällt mir irgendwie. Und ich glaube, das liegt an diesem wunderschön nüchtern-lakonischen Sprachstil, mit dem du das alles so hinplätschern lässt, was für deine Figuren die Welt bedeutet. Das fängt schon mit
Sechsundfünfzig, er. Und die Frau, die er liebst, knapp fünfzehn Jahre jünger.
an. Das reicht vollkommen. Ich bin sofort im Bilde und trotzdem wahrst du die Distanz und das tut deinem Text hier verdammt gut. Und du schaffst es, das den ganzen Text durchzuziehen, was glaube ich ziemlich schwer ist.

Ein paar Kleinigkeiten:
die er liebst

liebt

Und der andere Kollege, Freundin, Kinder,

Ich würde nach Kollege ein Doppelpunkt oder Fragezeichen setzen. Dann wäre klarer, dass das keine Aufzählung ist, sondern der andere Kollege Freundin und Kinder hat.

fragt mich zwei Stunden später, ob ich eins habe und wo denn mein Glück wohnte

Hier würde ich einen neuen Satz bzw. Satzbrocken beginnen. Also entweder "Er fragt mich.." oder "Fragt mich..." - letzteres gefällt mir besser, aber ist auch ne stilistische Eigenheit von mir und mag durchaus nicht jeder.

wohnte

Konjunktiv I: wohne


Liebe Grüße,
Smilodon
Menneskets hjertes tanke er ond fra barndommen av.
Benutzeravatar
Smilodon
Stammuser
Stammuser
 
Beiträge: 723
{ IMAGES }: 0
Registriert: Mo 01 Sep, 2008 19:32
Eigene Werke
 

Re: Quasi am Leben

Beitragvon tagedieb » So 21 Sep, 2008 20:50


Vielen Dank Euch beiden für die Kritiken.
@ Smilodon: Deine Anmerkungen habe ich zum großen Teil umgesetzt. Sie bewirken auch, dass ich mich an manchen Stellen mit dem Text besser fühle.

@ evil: Klischees oder Plattheiten. Wo vermagst Du denn die zu erkennen? Das interresiert mich. Ich selbst kann es nicht sehen, weil die angesprochenen Dinge die Parameter meiner Welt sind.

Und wo wird etwas auf Stereotype herunter gedampft, wenn die Sicht eines einzelnen Menschen auf seine Beziehung in ein Sprachvehikel wie "eheähnliche Frau" gepresst wird. Damit verlasse ich doch die Spielregeln der sprachlichen Gestaltung nicht - noch nicht einmal die des höflichen Umganges, weil ich ja nur einen Begriff für ein bestehendes Phänomen finde.

Zum Nicht-Erklären: Ich habe darüber nachgedacht. Ich meine, dass wir mit vielen Fragen letztlich allein gelassen werden und dass unser Verstand uns manchmal böswillig anschweigt, sosehr wir ihn auch bemühen. Das spiegelt sich letztlich auch im Schweigen der Angeschriebenen wieder.

Und dass Du nichts von verschiedenen Arten des Glücks weißt, kann ich nicht glauben.

Und warum ist meine Einsicht, dass wir die Erfüllung von Träumen damit bezahlen, dass wir andere Träume aufgeben müssen, peinlich. Das mag ich gar nicht einsehen. Es ist dies nämlich genau so. Verlässt Du Deine Heimat und gehst zu der Geliebten? Bleibst Du und verzichtest auf sie? Das wird wohl der erste Kollege wälzen. Entscheiden wir nun danach, welche Sehnsucht schwerer wiegt? Oder verstecken wir uns hinter Verpflichtungen um die Verantwortung für das eigene Leid oder Glück abzugeben?

Ja, ein bisschen was, muss Du als Leser schon mitbringen. Aber ich denke, das fällt Dir nicht schwer.

Ich freue mich, dass Du etwas zu dem Text gesagt hast.
tagedieb
Neu
Neu
 
Beiträge: 7
Registriert: Mo 15 Sep, 2008 08:25
Eigene Werke
 

Zurück zu Beziehungskiste

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 7 Gäste

cron