Geschichten rund um Liebe, Familie oder Freundschaft

Der Azimut der Sterne

Beitragvon Zarmaz » Sa 27 Okt, 2012 17:27


Zwölf lange Male schlug seine alte, verstaubte Standuhr. Es war Zeit für seine Mitternachtszigarette.

Das Schwefelholz über die Schachtel ziehend und den Rauch des ersten Zuges in die Luft pustend, starrte er weiter beharrlich auf die spärlich beleuchtete Windsor Street vor seinem Fenster. Den Vorhang gerade so weit geöffnet, dass er die Tür des kleinen Pubs gegenüber beobachten, eventuell heraustretende Gäste ihn jedoch nicht sehen konnten, wartete er. Sein Plattenspieler sang leise Melodien in die ansonsten vollkommene Stille seiner kleinen, engen Wohnung, in der sich Bücher stapelten und Schwarz-Weiß Fotografien an den Wänden von längst vergangenen, glücklicheren Momenten erzählten. Manuskripte seiner Werke lagen quer über den Schreibtisch verteilt, auf welchem, glänzend und gepflegt, seine Schreibmaschine stand. Sie war ihm das einzig wirklich Wertvolle, sie schenkte ihm Leben und Glück, machte seine Ideen haltbar und ließ ihm einen Sinn für seine Monotonie zurück. Normalerweise verbrachte er Tage an ihr, versank in die Traumwelten seiner Gedanken, erzeugte Helden und Antihelden, ließ die Liebe von Menschen zerbrechen und die Unglücklichen meistens im Anschluss sterben. Seine Themen waren der Alkohol und die Frauen, die Depression und das Versagen, die Prostitution des Menschen für das Materielle, kurz gesagt all das, woran seine Welt litt. Woran er litt. Und wovon er sich nicht lösen konnte, egal wie viele Wörter er aneinander fügen würde, egal wie viele Seiten er noch zu den Stapeln in seiner Wohnung hinzulegen sollte. Er war all dieser Dinge müde geworden.

Doch heute Abend schrieb er nicht. Heute Abend wartete er darauf, dass er ein weiteres Mal zerbrechen würde. Er wartete auf den Rausch des Alkohols, auf die Depression und auf den Moment des Versagens. Er wartete auf sie. Darauf, dass sie durch die Tür des Pubs heraustreten würde, ihn nicht sehen - und gehen würde. Die Standuhr schlug ein weiteres Mal, er war im Stehen eingeschlafen, mit dem Kopf an die Fensterscheibe gekippt, die Ein-Uhr-Zigarette lag glimmend auf dem Boden.

Er flog durch die Schwärze des Alls, grüßte den Mond und genoss die Geschwindigkeit des Lichts. Er fuhr auf den Ringen des Saturns Karussell, schwamm in den Strömen der Asteroide zum Jupiter und aß mit ihm zu Abend. Doch nirgendwo konnte er lange verweilen, nirgendwo verließen ihn seine Unruhe und Gehetztheit und niemals konnte er vergessen, dass er eigentlich auf der Suche war. Wie konnte er nur so viel kostbare Zeit mit Geschwätz und Essen verschwenden? Er merkte wie er zu schwitzen begann. Schnell verabschiedete er sich von Jupiter und raste durch dass All, schneller als es nach Einstein möglich war. Zeit und Raum verbogen sich für ihn, und er wusste dass er endlich vorwärts kam. Er flog zum Unbekannten hin und von der Sonne weg. Es reizte ihn. Er folgte den Linien der Sternschnuppen, kam vorbei an verglühten Sternen und entfernte sich dabei immer weiter von der Sonne.
Vor ihm lag eine lange Straße des Universums, leer, ohne jegliches Leben, ohne jegliche Freude oder Wärme. Er
spürte wie es ihm kälter wurde. Sein Magen zog sich zusammen, seine Hände wurden klamm und ein zarter Frost überzog sein Haar.
Er steuerte auf den Neptun zu, den kältesten aller Planeten. Und wie er sich ihm näherte, umso langsamer wurde er. Und wie er nur noch wenige Lichtsekunden von ihm weg war, konnte er sie erkennen. Wie sie in einem silbernen Kleid und ihrem wallenden blonden Haar über die Oberfläche des Planeten tanzte. Sie war eine eindrucksvolle Erscheinung. Das Orchester der Sterne spielte ihren liebsten Walzer, die Abendgesellschaft des Universums sah ihr gebannt zu und selbst Pluto, schlecht gelaunt wegen seiner Verbannung aus dem Sonnensystem, wiegte sich verträumt im Takte der Musik. Er wollte zu ihr, sich von ihr an die Hand nehmen und sich führen lassen. Er wollte in ihre Arme, ihr Haar zurückstreichen und sie auf die Wange küssen. Doch so wie er auf sie zuschritt auf den unsichtbaren Wegen merkte er, dass er, mit jedem Schritt den er tat sich genau einen weiter von ihr entfernte. Dass, wenn er schneller ging, ihre Gestalt noch kleiner wurde, dass er, wenn er die Richtung ändern wollte, sich nicht drehen konnte. Er verstand, dass er machtlos war. Verzweifelt warf er einen letzten Blick zurück - und sah just in diesem Moment wie eine große, herkulische Gestalt seine Dame an die Hand nahm, während in der anderen ein großer, furchteinflößender Dreizack ragte. Die muskulösen Arme der Kreatur, über die sich blaue, kalte Haut spannte, endeten in einem Oberkörper, welcher tausendmal härter anmutete als jede Form gegossenen Stahles. Auf diesem gewaltigen Rumpf saß ein Kopf, so groß wie ein Eisblock der Arktis, geschmückt durch lange Algen als Haare. Die Nüstern des Ungetüms blähten sich weit, und Dampf entwich seinem Mund. Doch als das ungleiche Paar zu tanzen begann, bemerkte unser Reisender die meerblauen Augen und den Blick des Riesen. Stolz, unnachgiebig und stark. Und in diesem Moment wusste er, dass er kein Ungeheuer, kein Ungetüm - sondern einen Gott gesehen hatte.
Neptun tanzte mit seiner Dame. Danach wurde alles schwarz, und er merkte wie er zurück gezogen wurde.
Er wachte schweißgebadet auf. Die Zigarette hatte einen Brandfleck in seinem Teppich hinterlassen, nach dem sie sich zuvor durch einen paar Seiten durchgebrannt hatte. Die Standuhr schlug vier Uhr. Er stand auf, sah durch das Fenster zum Pub und wusste, dass er sie ein weiteres Mal verpasst hatte.
Es war Zeit für Mr. Burke, endlich aufzugeben.
Zuletzt geändert von Zarmaz am Sa 27 Okt, 2012 17:28, insgesamt 3-mal geändert.
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Re: Der Azimut der Sterne

Beitragvon rivus » Di 30 Okt, 2012 09:20


hi zarmaz,

eine phantasie der verpassten gelegenheit. der um sich drehende mensch erweitert das eigene azimut zum azimut der sterne, bewegt sich weg vom irdischen, um sich einer schöne phantasie zu nähern, einer liebsal, die er nicht erreichen kann, weil mächtigere gewalten sie abschirmen. ausgerechnet neptun, fern vom marsfeld roms, schafft die erweiterung seines antinomischen feldes auf das planetarische meer, um sich eine phantasie zu erlauben, die unsrem träumer auch im wachen nicht gelingt.

gern drüber gelesen
fg
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Re: Der Azimut der Sterne

Beitragvon Garfield » Di 30 Okt, 2012 20:58


Moin Zarmaz

Eigentlich ist das Thema deiner Geschichte, zumindestens so wie sie bei mir ankommt nicht sonderlich originell (einsamer, sich selbst einigelnder Mensch sehnt sich nach einer schönen Unbekannten, spricht sie aber nicht an) und birgt definitiv Kitsch-Potential. Deine Beschreibungen aber sind echt gelungen, sodass sie mir gut gefallenen hat. Immer wenn ich dachte, jetzt wirds zu viel, bekommst du den Bogen (z. B. als sie tanzt, doch die Szene mit Poseidon ist dann eine schöne, überraschende Wendung). Überhaupt mag ich die ruhige Sprache, die Bilder und den angedeuten Witz, wie das mit dem gekränkten Pluto. Obschon sie am Ende doch den zu erwartetenden Verlauf nimmt.

Gruß Garf

P.S. Azumit musst ich erstmal im Duden nachschlagen :emo:
Zuletzt geändert von Garfield am Di 30 Okt, 2012 21:11, insgesamt 1-mal geändert.
Kurz, er bewies eine Geduld, vor der die hölzern-gleichmütige Geduld des Deutschen, die ja auf dessen langsamer, träger Blutzirkulation beruht, einfach gar nichts ist.
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Re: Der Azimut der Sterne

Beitragvon GlasaugeBill » Di 30 Okt, 2012 21:57


Ich find den ersten und zweiten Absatz noch ganz ordentlich geschrieben, die Sprache gefällt mir und passt. Der Rest war zu viel für mich und als das mit den Planeten los ging, hatte ich nicht mehr recht Lust weiter zu lesen. Die Geschichte kippte dann für mich auch sprachlich weg.

Grüße Glasauge
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Re: Der Azimut der Sterne

Beitragvon struktur-los » Mi 31 Okt, 2012 12:03


... och, gerade das mit den Planeten hat mir besonders gut gefallen.

Die Zeile

Es war Zeit für Mr. Burke, endlich aufzugeben.

konnte ich allerdings nicht nachvollziehen, denn für mich sieht es nicht danach aus, als ob der Protagonist überhaupt erst begonnen hätte, seinen Traum zu verwirklichen - er schwimmt in Selbstmitleid, weist ein sehr geringes Selbstwertgefühl auf und scheint eher ein stiller Beobachter zu sein, als jemand, der es wagt, wirklich zu leben.

Sein Plattenspieler sang leise Melodien in die ansonsten vollkommene Stille seiner kleinen, engen Wohnung, in der sich Bücher stapelten und Schwarz-Weiß Fotografien an den Wänden von längst vergangenen, glücklicheren Momenten erzählten.

... hier wird jedoch deutlich, dass es einmal glücklichere Momente gab, die jedoch nicht in Farbe getaucht, da sie im Heute kaum noch fassbar, allmählich verblassen.

Mir dünkt, Mr. Burk erwartet Mitleid, das er eigentlich verabscheut, denn scheinbar wünscht er sich nichts sehnlicher, als so zu sein, wie Neptun - stark, stolz und unnachgiebig.

Und in diesem Moment wusste er, dass er kein Ungeheuer, kein Ungetüm - sondern einen Gott gesehen hatte.

...in dieser Aussage entwickelt sich m. E. die Erkenntnis, dass es sich hierbei um ein Wesen handelt(e), das allmächtig in seinen Fähigkeiten nicht zu übertreffen ist. Liegt darin ev. der Schlüssel - leidet der Protagonist vielleicht an Perfektionismus und ist letztendlich an dieser Eigenschaft im "wahren" Leben gescheitert?

Mit diesem Bewusstwerden/sein könnte er das Blatt wenden und frei von zu hohen Ansprüchen an sich selbst, den Schritt aus dem Haus wagen...

Was mir ins Auge stach, sind die Wortwiederholungen, wie in diesen zwei Sätzen:
Die Nüstern des Ungetüms blähten sich weit, ...

Und in diesem Moment wusste er, dass er kein Ungeheuer(, kein Ungetüm) - sondern einen Gott gesehen hatte.

Ich persönlich würde in dem zweiten erwähnten Satz "Ungetüm" weglassen - er ist auch so aussagekräftig genug.

und auch in diesem:

Er flog zum Unbekannten hin und von der Sonne weg. Es reizte ihn. Er folgte den Linien der Sternschnuppen, kam vorbei an verglühten Sternen und entfernte sich dabei immer weiter von der Sonne.

würde ich die Worte "und von der Sonne weg" streichen, da du das Entfernen von der Sonne eh in einem der folgenden Sätze erwähnst.

Über die im wiederholten Lesen der Geschichte gefundenen individuellen Ausdrucksweisen kann man sich sicher streiten.

Hey Zarmas... ein für mich fantasievoller, durchaus gelungener Einstieg hier im Forum. Dann hoffe ich sehr, dass wir noch mehr von dir lesen werden.

Sei Herzlich willkommen!

Liebe Grüße
struktur-los
Zuletzt geändert von struktur-los am Mi 31 Okt, 2012 22:34, insgesamt 3-mal geändert.
Grund: ... vll. sollte ich Texte mehrmals lesen, bevor ich sie kommentiere?
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