Neben dem Kartoffelkeller
Ich sehe, wie meine Mutter am Gasherd schwitzt und weiß, dass wir wieder Bregen essen müssen. Bregen mit Bratkartoffeln. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und in die Haare, und manchmal, wenn sie schmutzige Hände hat vom Kartoffelschälen oder davon, dass sie Leber in Mehl gewendet hat, putzt sie ihre Hände am Kittel oder an der Schürze ab. Ich finde das alles eklig. Ich weiß nicht, ob mein Vater das auch eklig findet, ich weiß bloß, dass sie ohne einander glücklicher wären - weil er nur zu den Essenszeiten und zum Schlafen nach oben in unsere Wohnung kommt. 'Na los doch, hol' deinen Vater', herrscht sie mich an. Ob sie mir wohl ansieht, wie ich übers Hausfrau-Sein denke?
Ich antworte nicht, weil ich in diesem Zustand nicht sprechen kann. Ich sage auch nicht, dass ich immer Angst habe im Keller. Ich gehe einfach, denn ich weiß, dass ich keine Wahl habe. Keine Wahl, auch nicht zwischen Vater und Mutter, auch nicht, was das Verbleiben hier betrifft. Ich kann eh nicht fort. Draußen lauert allerlei Gefahr, das hat sie mir gesagt. Ich weiß nicht, was sie darunter versteht, denn hier lebe ich auch in Gefahr. Ich verachte sie. Sie sucht so lange nach meinen Tagebüchern, dass ich nicht mehr weiß, wohin damit. Bis ich nicht mehr weiß, wie ich existieren soll ohne meine geheimen Gedanken. Weil meine eigene Mutter mich doch nie versteht und aus lauter Verhärmtheit, wie mein Vater sagt, sich über meine Gedanken aufregt oder auch einfach nur lacht - ich habe das Wort 'Verhärmtheit' von ihm. Von ihm habe ich auch die Uhr zu lesen gelernt und das Einmaleins – bis auf sieben mal acht, damit habe ich manchmal noch Probleme, und dann rastet selbst er aus. Nicht, dass er schreit wie sie, aber er wird sofort ungeduldig, und ich merke dann, dass ich ganz besonders aufpassen und mich besser konzentrieren muss.
All das denke ich, während ich die Treppen runtergehe, ich muss laufen jetzt, weil im Treppenhaus nach eineinhalb Minuten das Licht ausgeht ...
Erdgeschoss. Das habe ich geschafft.
Die Treppe zum Keller ist schon dunkel genug. Hier schlägt mein Herz wieder schneller, hier empfinde ich auch diese Fremdheit zwischen meinen Eltern ganz deutlich. Vielleicht ist es auch noch schlimmer geworden, seit wir wissen, dass ich einen Halbbruder habe?
Die Tür zum Keller ist aus Holzlatten und hat rostige Scharniere, quietscht aber nur leise.
Dunkel. Stockdunkel. Kein Glimmen fernen Lichts. Ich taste, taste wie wild, haue mit flacher Hand immer wieder an die Wand, bis ich endlich diesen Schalter treffe. Nein, es bringt nichts, ich muss da durch. Ich taste mich an der Wand entlang. Das habe ich schon oft gemacht. Bis zum Ende des Ganges. Vorsicht vor Mäusen oder Kartoffelkäfern ... damit mein Herz nicht stehenbleibt, wenn etwas flitzt oder quiekt. Ich atme tief und doch pocht mir das Herz, immer an der Wand entlang, bis ich einen ganz schwachen Schein wahrnehme und ahne, dass ich es gleich geschafft habe. Jetzt. Nur noch die Steinstufe vor der Tür, die mein Vater gemeinsam mit einem Nachbarn gegen das Hochwasser gemauert hat – und nicht vor dem Herzsprung rufen, er will nicht erschreckt werden. 'Papa?' - flüstere ich. Wie immer sitzt er da, gleich neben dem Holz- und Kohlenkeller, in dem auch der Kartoffelverschlag steht, in unserem zweiten Kellerraum, bei Kerzenlicht an seinem Schreibtisch. Hier steht auch das Eingemachte. Hier hat er tapeziert und hierher zieht er sich zurück zum Schreiben. Ein heiliger Ort. Sein Zuhause. 'Papa? - Das Essen ist fertig, du sollst hochkommen'. Er sitzt dort, hat die Hornbrille auf und schreibt konzentriert. Hier höre ich keine bösen Worte. Er lächelt. Er kommt dann.. sagt er, und das bedeutet, ich muss allein den dunklen Weg zurück.
Mein Vater und meine Mutter sollen sich mal beim Tanzen kennengelernt haben - ob das stimmt? Nach oben fällt mir der Weg etwas leichter ...