Geschichten rund um Liebe, Familie oder Freundschaft

Ich / Sie

Beitragvon cube » Do 14 Mär, 2013 08:12


Er wäre gern ein Ent, sagte Marius einmal beim Rollenspiel. Alt und weise, mit Siebenmeilenstiefeln durch die Welt laufen und das Gute und Richtige tun. In dieser Welt der Wünsche wäre ich ein schlauer Halbork, der beim Schatzteilen die Kumpanen bescheißt, der noch der abnormsten Orkin die Röcke hochschiebt, der alle Wege kennt und nirgendwo zu Hause ist. Stark und hässlich, listig und leise, und mit einer großen Axt.
"Kill Acta, kill Acta!" Marius drehte sich beifallheischend zu den anderen am Tisch und hielt seine flache Hand in die Luft, sagte 'High Five!' und bekam seine Abschläge. Von mir nicht, ich versuchte, meine Verachtung zu verbergen. Die Plattitüdendichte des Abends erschwerte das Atmen und verdüsterte mein Schweigen.
Diese Maulhelden waren durch nichts verbunden als heißer Luft und gemeinsamer Ablehnung. So stehen die Dinge, und wer stört sich schon dran? Aber an diesem Abend spürte ich den Drang schnell wachsen: Anzugreifen, um Luft zu schaffen. Marius' Worte steckten in meinem Hals fest, und ich musste ausrotzen, um sie loszuwerden. Es gab diese Zeiten, und ich tat gut daran, nach Hause zu gehen, wenn ich so drauf war, wenn ich es mir nicht mit allen verderben wollte.
Doch ich stellte eine Frage. "Was genau stört dich denn daran?" Das war eben noch ein Gedanke gewesen, privat und ungehört. Und schon war es gesagt. Und wer A sagt, muss auch B sagen. Also hieß es prüfen, was Natur sein sollte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein Holzkopf beim Abklopfen als Hohlkopf erweist. Ich hätte mich gerne geirrt, aber Marius Antwort verriet den Schaumschläger.
"Und worauf zum Henker stützt du deine Ansage dann?", fragte ich. Wenigstens bin ich bisher nicht persönlich geworden, habe meinen Bierhumpen nicht in die Fresse dieses Großmauls geschlagen. Ein Nachteil ständig wechselnder Freundeskreise: Man findet sich mit welchen am selben Tisch sitzend wieder, die einem nach der sechsten Runde fremder als Fremde sind. Je besser man die meisten Menschen kennenlernt, desto mehr bereut man, sie kennengelernt zu haben. Marius machte einen schwachen Witz, um aus der Sache herauszukommen. Es wäre leicht gewesen, es dabei zu belassen.
Ein Blick in die Runde. Die Gesichter verhießen nichts Gutes, sie besagten, dass ich mir alle zum Feind machen werde, wenn ich weitermachte. Doch was für Gefährten waren sie, gäbe es hier überhaupt einen Platz, auf dem ich sein wollte? "Was für eine Kreatur versucht sich mithilfe eines Themas zu produzieren, von dem sie keinen Plan hat? Wer kennt ihren Namen?" Wieder der Rundumblick, diesmal lächelnd. Paralysiertes Schweigen, erstarrte Gesichter.
Dann versuchte die Frau des Abends Empathie: "Angepisst?"
"Ihr alle, wie ihr hier sitzt ..." Erhitzte Gesichter, rotwangig, eine Unterlippe zitterte. Die Hände hatten sie fest ums Glas gekrallt. Aber warum viele Worte drum machen? Ich bin kein großer Redner. Und auch nicht der überhebliche Sack, als den mich manche darstellen. Ich bin schlicht ein guter Mann.
Dessen gütiger Blick auf Marius fiel. "Du Pfeife", lachte ich, "das ist es nicht wert, oder?" Das war so was wie ein Anfang. Als hätte man ein Ablassventil geöffnet.
Jetzt erwartete man, dass der zerlegte Abend mitsamt Hohlkörper wieder zusammengesetzt wurde. Wie es der Magier tut, am Ende seiner Show. Und mir lag einer der Zauber auf der Zunge, aber ich schluckte ihn herunter. Jetzt war der Hals wieder frei.
Die interessante Frau des Abends, mit seltsam langem Hals und kompaktem Körperbau. Wir hatten ein paar wirklich starke Sätze gewechselt. Sie fragte, was in mich gefahren wäre.
"Ich muss pissen", sagte ich, und im Aufstehen warf ich den Stuhl um, der laut auf den Boden knallte. Ich lachte. Funken sprühten unter meinen Hufen, als ich die Treppe zum Klo hinunterging. Was war nur in mich gefahren? Spielte es eine Rolle, dass man mich gefeuert hatte, weil ich Faak vor versammelter Mannschaft widersprochen hatte und ich jetzt mit dem Hut in der Hand einen guten Eindruck machen musste, um die nächsten Rechnungen zahlen zu können? Nein. Es lag auch nicht daran, dass ich Ana tausendmal angerufen hatte und sie nicht abnahm, weil sie Schulden bei mir hatte. Was zu meiner wahnsinnigen Sorge den Ärger über die Dummheit gesellte, ihr Geld geliehen zu haben.
Bitte!, hatte sie gesagt und mich mit diesem Blick angesehen und ich dachte, man muss auch vertrauen können, und jetzt war nichts weiter, als dass ich auf einen der ältesten Tricks reingefallen war, den sie auch noch von mir hatte. Fuck nein, 'nichts davon spielt eine Rolle', dachte ich, öffnete die Hose, hielt meinen großen Schwanz zwischen zwei Finger und - pisste.
Das Herz bumperte, ich atmete tief durch, ging nach oben, versuchte kein Lächeln und Geradebiegen, sondern die Zeche zu prellen. Doch die Hohlköpfe verrieten mich. Und ich musste laufen, mit den Sachen über dem Arm. Dabei rammte ich mit dem Knie einen Barhocker, verfluchte das Möbel und den Kellner, der mir hinterherkam, bevor ich mich darauf konzentrierte, Humpelhöchstgeschwindigkeit zu erreichen.

Zwei Straßen weiter las ich ein Plakat, das sich direkt an mich zu richten schien: 'Think Before You Act'. Das stand unter einem übertrieben großen Kondom auf zwei mal zwei Meter. Mein trunkenes und aufgepeitschtes Hirn musste erst mal ne Weile rätseln, bevor es kapierte, was es da betrachtete.
Das Begreifen klärte alle Nebel und schob die bisherigen Ereignisse des Abends beiseite. Der zweite Akt des Abends begann mit der Erkenntnis, und die hatte im Gepäck den nächsten Gedanken: Junge, du lebst im Zeitalter der Immunschwäche.
Wie war das mit dem Punkmädchen? Maximales Interesse und die Hormone auf hundertachtzig - da hatte keiner Bock gehabt auf Abrollen üben. Und bei dem Kaufmädchen im Rotlichtviertel, vor einem dreiviertel Jahr, das geplatzte Kondom? Amsterdamned.
So was ging mir durch den Kopf, und ich hinterher, mein unerbittliches Gedächtnis brachte die Phantome auf Trab, und ich hinterher. Eine Geisterchoreografie, die mich durch die Straßen trieb. Und obwohl ich ein Ziel hatte, fehlte das Wohin. Zuhause, in meinem Bett, wuchs ein Strudel aus der Matratze, und als ich die Augen schloss, zog der mich hinab, und hinab, und tiefer, und irgendwann war das Aufgewühlte still, so tief unten, und nur "Kill Acta / Think Before You Act" sauste blinkend durch die Stille.
Mitten am Tag fuhr ich aus dem Schlaf und ging noch mal die Mädchen der letzten Jahre durch. Es waren nicht so viele, ohne Gummi. Trotzdem, ich brauchte Gewissheit. Auf dem Weg zum Arzt machte ich Pläne, was man tun könnte, falls rauskommt, dass es lebenslänglich gibt.
Mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen sah ich zu, wie Doktor Koch die Kanüle in meine Vene stach. 'Das ist wie Sex', dachte ich. Und erwartete, dass mir gleich flau würde, aber es geschah nichts, außer dass sich die vier Vakuumphiolen mit dem Lebenssaft vollsaugten.
Jetzt hieß es warten. Eine Woche, dann werden die Ergebnisse besprochen. Ich forschte in den Augen des Arztes, ob er in meinen Augen nach Anzeichen von Angst forschte. Und spannte die Kinnmuskulatur und hob die Mundwinkel um wenige Millimeter. Auf dem Nachhauseweg kratzte der Zweifel von innen an der Schädeldecke.
Eine Woche vergeht schnell, wenn sie voller Vorbereitungen steckt. Und dass sie schnell vergeht, dafür kann man sorgen, indem man viele Vorbereitungen zu treffen hat. Wenn man nicht nachdenken will, muss man handeln, und ich handelte im Namen der Wilden Jagd, um eine unserer Zusammenkünfte für die Nacht nach dem Test zu organisieren. Ich lud Leute ein, organisierte eine Location und Mitfahrgelegenheiten, dachte mir ein Motto aus, das halbwegs interessant und frisch war, ohne den Gästen das Hirn schon bei der Vorbereitung auszuhebeln.
Und dann war die Woche schon wieder vergangen und ich ging zu Doktor Koch.
"Die Ergebnisse ...", begann er. "Setzen Sie sich erst mal." Und ich setzte mich, machte mich hart und kalt, befreite meinen Geist von meinem Schicksal und beobachtete mich von oben, wie ich zuhörte und nickte, lauschte den Sprüchen und Ermahnungen des Arztes und ermahnte mich, meine Signale so zu senden, dass die ordentlich am anderen Ende empfangen werden konnten.
Unter dem Nagel seines rechten Zeigefingers war ein schlimmer Schmutzrand. Seine Augen glänzten ein wenig, als er sich von mir verabschiedete. Fester Händedruck, wie immer, und ein kaum wahrnehmbares Kopfnicken. Der forschende Blick. Ich achtete darauf, dass weder mein Gesicht noch meine Augen irgend etwas preisgaben.

Vor der Ambulanz setzte ich mich auf eine Bank und wartete darauf, dass mich mein Bruder abholte, bis mir einfiel, dass ich keinen Bruder habe und mein Zettel mit den Verbindungen in der Arschtasche steckte. Straßenbahn. Da musste ich hin.
Wieder schoss mir das Blut in den Kopf. Ich musste mich beeilen, wenn ich rechtzeitig dort sein wollte. Und ich beeilte mich, und alles funktionierte, und ich stand am richtigen Ort zur vereinbarten Zeit, und ich stieg in das bekannte Automobil, das an der Haltestelle hielt, und das Automobil fuhr los, und die Haltestelle wurde im Rückspiegel immer kleiner, bis wir um eine Kurve fuhren und sie ganz verschwand.

Röhren röhren


Dieses Mal feierten wir auf dem Land, in dem Haus der verreisten Eltern eines Freundes. Das Jugendzimmer seines kleinen Bruders, der mittlerweile Mitte zwanzig war und mich in vielem überragte, war so präpariert worden, dass man ein bisschen tanzen konnte. Dort hielten sich erfahrungsgemäß Musikanten auf, die durch lange Rohre röhrten, auf allem Möglichen trommelten und verschiedene Saiteninstrumenten beschrammelten oder zupften. In verwegenen Momenten würde der ein oder andere Obertongesang versucht werden.
Wahrnehmungsverändernde Substanzen werden da üblicherweise nur begleitend und in kleinsten Dosen genossen. Für die mit ernsteren Berauschungsabsichten hatte man das Zimmer des großen Bruders hergerichtet: Eine Kissenlandschaft, die von vielfarbigen, von der Decke hängenden Tüchern, separiert wurde. Räucherstäbchen glimmten und qualmten; Sixties-Mucke; auf Bildschirmen liefen Endlosschleifen Marke Koyanisquatsi; zwei Mädels daddelten auf einer NES-Konsole Super Mario, neben ihnen stand ein Wasserpfeifchen.
In den Raum hatte man auch zu gehen, wenn man einen Lebensabschnittspartner für die Nacht gefunden hatte. Nicht ins Schlafzimmer der Eltern! Kein Sex in der Sauna! Finger weg vom väterlichen Weinkeller! Die Nicht-Worte wurden so lange durch die Räume gereicht, bis auch der letzte verplante Weedraucher keine Chance mehr hatte, diese Infos nicht gekriegt zu haben.

Als ich ankam, presste man mir fast das Leben aus dem Leib und nahm mir den Atem vor Wiedersehensfreude - die radikale Literaturfraktion war da und Kaal Blumenthal! -, es gab so viel zu erzählen. Während des Erzählens und Erinnerns stellten wir fest, dass man sich länger als das halbe Leben kannte. Und weißt du noch, wie ich damals deine Freundin gebumst habe? Und wie du mir dann auf die Fresse gehauen hast, ohne dass ich mich wehrte? Und letztens, dieses eine Gespräch, da waren wir ganz nah dran, am großen Geheimnis, was? - Hä?
Egal, oben starteten sie gerade eine Session, lasst uns den Weltgeist betrommeln! Ich erwartete, nach der Untersuchung gefragt zu werden und hatte mir eine Antwort zurechtgelegt, aber niemand fragte; mir fiel ein, dass keiner davon wusste.

Rika

Rika saß auf einem Sessel im Halbdunkel des tiefen Raumes, ich erkannte sie an ihren glitzernden Goldlöckchen und an der Art, wie sie die Zigarette hielt und rauchte, da steckte so viel forcierte Lässigkeit drin, dass mir die Augen schmerzten.
Rika beobachtete uns beim Spielen, sah dem Bassisten dabei zu, wie er völlig in der Improvisation aufging - ihm hing ein langer Speichelfaden aus dem Mund, er musste viel Süßes gegessen haben, dass der nicht riss.
Ich beobachtete sie beim Beobachten, trommelte leise mit, um das komplizierte Gebilde der Impro nicht zu stören, erfreute mich am Formenreichtum meiner Artgenossen und ignorierte die Einladung der scheidenden Literaturfraktion, die sich mit hartem Alkohol wichtigen und komplizierten Problemen poetischer Natur widmen wollte. Irgendwann trat Rika aus dem Schatten und in unsere Mitte, schloss die Lider und bewegte sich zu der Musik.
Sie ist sexy, wenn man auf diesen halbverhungerten Style á la Twiggy steht. Ihre kantigen Bewegungen passten zum Heroin-Chic. Sie war gerade einundzwanzig geworden, man kennt sich ganz gut, also oberflächlich. Die Form ihrer Schlüsselbeine zeichnete sich deutlich ab, und ihre Nippel drückten durch das enge Shirt, auf dem Gang-Bang, Yeah! in Kyrillisch stand.
Rika tanzte sich in Ekstase, bewegte sich immer schneller und schneller, bis der Schweiß in Strömen lief. Als ihre Schritte den Raum verloren, stolperte sie über einen Musiker, raffte sich auf und tanzte weiter, fiel über den Nächsten, der, aus seiner Klangwelt gerissen, verwirrt schaute und aufhörte zu spielen.
Rika stand auf und machte weiter, die Heftigkeit ihrer Bewegungen stand in zunehmend krassem Kontrast zum abnehmenden Spiel der Klänge. Die Musikanten sahen eine Weile zu, und, als Rika minutenlang weitertanzte, zu einer Musik, die nur sie zu hören schien, schüttelten sie die Köpfe, einer nach dem anderen, und verließen das Zimmer.
"Du kannst aufhören!", rief ich. "Es ist niemand mehr da!" Rika ließ sich vom Schwung der letzten Bewegung weitertragen und knallte gegen einen Schrank. Total geil, wie die eine Szene von Sid und Nancy, in der Sid seinen Kopf gegen die Wand schlägt, bis die Tapete rot ist vor Blut. Das war für uns damals der Geist des Punk. Aber Rika tat sich nichts, sie klappte zusammen, und rollte sogleich in den Schneidersitz, sagte etwas Listiges und lächelte nett.
"Ich finde es gut, wenn Leute sich kaputtmachen", sagte ich ins Blaue hinein. Was man so sagt, wenn man ein Gespräch beginnen will. Sie so: "Hatte keinen Bock auf dieses langweilige Gejamme." Ich schlug vor, in die Opiumhöhle zu gehen, dort ließe sich sogar meine Langweiligkeit besprechen, ohne dass wir uns langweilen müssten.

Ich / Sie

Rika schreit und heult und tobt. Von außen wirkts wie. Das wirkt erst mal. Was hat sie nur, was heult die jetzt? Rika spricht und spricht und wasserfallt Worte. Von ihrer inneren Schönheit, von all dem Nichtgezeigten. Ihr Schweigen, diese kleine Pose von Unnahbarkeit, die sie pflegt, fällt nun auf sie zurück. Rika begreift nichts. Aber sie vielt! So viel, so schön, so ungesehen. "Du bist doch anders", sagt sie. Und ihr Blick: blauäugige Lolita.
Ich so: "Ja, ich seh dich. Du bist schön, du bist viel."
Niemand versteht sie. Kunststück, Schweigerin. "Ich will dir zuhören. Du hast mein Ohr." Etwas Besonderes ist sie. Rika hat unglaubliche Dinge gesehen und getan. Glaub ich, glaub ja eh keinem ein Wort. Das Glaubensbekenntnis der Ungläubigen. "Du kannst davon reden, wenn du willst." Tut sie. Und ich so ganz nah dran mit Lupe und Antennenohren und Analysemaschine.
Sie hat da etwas völlig Verrücktes. Aber schön ist es. Bis jetzt weiß das niemand außer ihr. Aber mir will sies zeigen, wenn ich etwas Bestimmtes tue. Als Opfer?
Zeig ich mich würdig, könnt ich auch ihre Besonderheit würdigen. Ich find sie nicht besonders. Nicht mal besonders daneben. Ich find Rika gerade so zwei bis drei. Sage aber zu – Lolitaaugen und Lolitamund, das Schenkelspreizen in den Augen, das zieht dann doch. Lebenspartnerschaft für eine Nacht? "Komm", sagt sie. "Es muss jetzt gleich sein."
Auf dem Weg denk ich, das wird jetzt ne ausgemachte Kinderei. Wahrscheinlich soll ich mich schneiden oder so. Den Gedanken einmal auf Substanz geprüft, scheint er lächerlich leichtgewichtig, aber ausgesprochen verdichtet ihn Bejahung.
Das Leben ist schon lange keine Sitcom mehr, das Leben ist eine Telenovela auf dem Weg zur Scripted Reality. Die anfassbare Welt hinkt den falschen Bildern noch hinterher, aber wir holen auf.
Sie will Gemeinsamkeit im Schmerz. Nicht mehr nur Lippenbekenntnisse. Kinderei, allerdings. Aber der Schmerz ist echt. Suggestivkraft. Wer leiden will, wird leiden.
Wir gehen in die Küche, sie schließt die Tür und nimmt ein Messer aus dem Block. Zieht sich ihr Oberteil aus. Angezogen ist ihr Dünnsein schick, ich mag auch das Asketische, was sich auf diese Hülle projezieren lässt. Doch trotzdem: Fast nackt ist es fast erschreckend. Rika wirkt so zerbrechlich, es ist seltsam: Ein Mädchen zieht sich aus und ich will ihr etwas zu essen besorgen.
Sie gibt mir das Messer.
In dieser Situation hätte kaltes Feuer in ihren Augen glimmen sollen, aber der Blick hat eher etwas reptilisches.
Wir setzen uns an den runden Tisch, es gibt etwas zu verhandeln. Mein Opfer und ihr Geheimnis. "Du oder ich", sagt sie.
Rika legt ihren Arm auf den Tisch. Ich stelle mir vor, mit dieser Schneide Mädchenfleisch zu teilen oder mein eigenes. Das ist jetzt gar nicht so einfach, wie es klingt. Bei ihr muss man extra aufpassen, dass man nicht aus Versehen eine Scharte in den Knochen ritzt. Wenn ich sie schneide, sehe ich bestimmt ganz helle feinfette Hautschichten, wie sie ein Krokodil unter dem Panzer trägt. Die riechen bestimmt blau, nach der Farbe ihres Blutes.
"Los jetzt!", fordert sie.
Ich kann das nicht entscheiden, lege das Messer zwischen uns und drehe es, die Spitze zeigt fast genau in die Mitte zwischen uns beiden, aber eher zu ihr. Schnell packe ich ihren Arm und schneide einmal quer. Rika verzieht den Mund wie verärgert, als hätte ich eine erwartete Dummheit begangen. Doch kein blaues Blut. Sie seufzt, holt Küchenrolle, tupft damit auf dem Arm herum und beginnt, von ihrem besonderen Interesse zu sprechen.
Das ist obskur und abseitig, eine mystische Innenwelt, die mir verschlossen bleibt. Sie redet und redet, in Rikas Wasserfall verliere ich den Rotfaden und bekomme dafür das Gefühl, in einem spiegelglatten Meer aus Worten zu versinken, die nirgendwohin zeigen, die auf nichts verweisen. Eine komisch anmutende Zusammenstellung bestimmter Begriffe, die für sich genommen allesamt Bedeutung glühen, zusammengenommen indes stehen sie nebeneinander wie eine Installation aus Toren, durch die der Wüstenwind heiße Luft ins Irgendwo bläst. Mitten in dieser Nichterzählung lege ich den Kopf auf den Arm, kämpfe noch gegen die zunehmende Schwere der Lider, und sehe, kurz bevor ich in oberflächlichen Schlaf falle, die Andeutung eines Lächelns um ihre Mundwinkel spielen – dann Schlaf.
Der durch jähen Schmerz unterbrochen wird. Unwillkürlich stoße ich einen Laut aus – irgend etwas zwischen Schreien und Grunzen – und sehe, wie sie ihren Arm auf meinen Arm legen will, Wunde auf Wunde. Ich reiße den Arm weg und schlage ihr mit der Rückhand hart ins Gesicht. Rika fällt wie gefällt zu Boden. Ich spüre dem Gefühl für ihren Körper nach, wie leicht der ist! "Tut mir leid", sage ich. "Ich war überrascht, da war ich - ich selbst."
Sie lächelt, diesmal wirkt es echt, und lässt sich von mir auf die Beine helfen. Sie schwankt und dreht sich in meinem Arm. Wieder will sie ihre Wunde auf meine Wunde legen, unser Blut vermischen. Jetzt lasse ich es zu. "Blutsgeschwister", sagt sie. Ich halte ihre Arme fest, zwinge meinen Blick in ihren und suche in Rikas Augen nach dem Lebensgefühl Angst einer Einsiedlerin, die gezwungen ist, unter Menschen zu leben - sehe aber nur mich gespiegelt in ihren Pupillen. Ihre Nippel drücken hart gegen den seidigen Stoff des BH's.

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Garfield (So 05 Mai, 2013 23:13), struktur-los (Di 07 Mai, 2013 13:41)
cube
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Re: Ich / Sie

Beitragvon Garfield » So 05 Mai, 2013 23:13


Hey Cube,

nette Geschichte. Inhaltlich mitunter etwas wirr, vllt mit den Partybeschreibungen auch etwas sehr typisch für moderne deutsche Literatur, aber großartig vom Schreibstil!
Hat mir gefallen,

Gruß Garf
Kurz, er bewies eine Geduld, vor der die hölzern-gleichmütige Geduld des Deutschen, die ja auf dessen langsamer, träger Blutzirkulation beruht, einfach gar nichts ist.
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Re: Ich / Sie

Beitragvon struktur-los » Di 07 Mai, 2013 13:40


Hey Cube,

ist mir schon irgendwie unangenehm, gerade jetzt zu antworten, nachdem Garf seinen Kommentar abgegeben hat. Ich las diesen Text noch am selben Tag des Einstellens und dachte – wow, super.

Danach fühlte ich mich zeitlich nicht in der Lage, ihn angemessen zu kommentieren. Ehrlich - es ärgert mich ein wenig, dass es in diesem Forum so wenig ausgiebige Textanalysen und Interpretationen gibt – das haben die Autoren einfach nicht verdient – einer dieses Textes schon gar nicht.

Cube, du wirst auch heute keine ausgiebige Analyse von mir bekommen – habe einfach momentan weder die Zeit noch die Kraft dazu – zumal der Inhalt genau dies aber bräuchte.

Dein Text weist alle Merkmale einer Kurzgeschichte auf, hält das Interesse und die Spannung von Anfang bis Ende und zeigt eine Authentizität, die mich berührt.

Du bist talentiert und solltest noch weitere Texte schreiben – ich lese sie sehr gern. :)

Hab' noch einen schönen Tag!

Liebe Grüße
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Re: Ich / Sie

Beitragvon cube » Do 09 Mai, 2013 13:00


hallo! danke euch sehr herzlich, mich freut das sehr, wenn der text seine leser erreicht und unterhält. und obwohl ich gerne gleichgültig gegenüber lob wäre, weil die offenheit dafür eben auch die seele korrumpiert, bin ich es natürlich nicht, und so freue ich mich ebenfalls sehr über eure positiven zuschreibungen.
und freilich sind so tiefgehende analysen und interpretationen bisweilen sehr interessant, wie strukti das so ansprach, aber ich schreibe ja vornehmlich für leser und will dass meine texte leser erreichen und spaß und hoffentlich lust auf mehr machen. und wenn eine rückmeldung das beinhaltet, in lobender oder kritischer weise, dann ist das völlig okay.
was bei so kurzen rückmeldungen verloren geht ist natürlich der charakter einer möglichen literaturwerkstatt, wo gezielt an der entwicklung des eigenen schreibens gearbeitet werden könnte. aber für so was scheinen die voraussetzungen (eine mittelgroße community die sich längerfristig richtig reinhängt und gegenseitig pusht und kritisch begleitet) zur zeit eben nicht gegeben.
also mich freut hat das sehr gefreut!
viele grüße und viel spaß beim saufen heute!
cube

ps: oh und danke für die empfehlungen, ist mir eine ehre!
Zuletzt geändert von cube am Do 09 Mai, 2013 13:31, insgesamt 1-mal geändert.
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