Das ist Weihnachten
Weihnachten stand vor der Tür. Man merkte es an flirrenden Lichtern, Buden, wo allerhand Schnickschnack verkauft wurde, Menschen, die hetzten um noch ein Geschenk zu finden.
Anna fühlte sich nicht weihnachtlich. Seit Wochen hatte sie Sorgen, die immer drängender zu werden schienen und sich als Berg vor ihr aufbauten. Der sonst so sanfte Boxerrüde machte Radau, wenn er großen Rüden begegnete., sodass man ihn kaum halten konnte. Seitdem er gebissen worden war, hatten sie einen Trainer, der mit ihnen das Passieren übte. Der war aber länger nicht gekommen, sodass anfängliche Erfolge wie Rauch in der Luft verflogen waren.
Anna konnte nicht gut stehen, deshalb machte ihr das Angst. Ihr Mann war gesundheitlich im Moment auch angeschlagen, sie merkte, dass auch er sich der Situation nicht gewachsen fühlte, wenn der fast vierzig Kilo schwere Hund anzog wie eine Dampflok und wütend tobte. In Anna kroch die Angst hoch, dass sie den geliebten Hund würde abgeben müssen. Die Angst kroch in ihr hoch, wenn sie einschlafen wollte, wenn sie nachts schweißgebadet aufwachte und im Alptraum ihren Hund mit jemand Fremdem fortfahren sah. Wenn sie morgens in die Küche kam und ihr Liebling ihr zärtlich die Hand leckte.
Sie kroch so hoch, dass sie eines Morgens meinte, fast daran ersticken zu müssen. Es war einen Tag vor Heilig Abend. „Da haben doch alle Menschen anderes in Kopf als sich um meine Probleme zu kümmern“, dachte Anna „Weihnachten ist doch längst nicht mehr das Fest des Gebens, des verständnisvollen Hinschauens.“ <
Dennoch! Sie konnte nicht anders, nahm das Telefon und wählte die Nummer des Trainers. Die würden wahrscheinlich gar nicht Zuhause sein. Es dauerte so lange, dass Anna schon auflegen wollte, bis sie die vertraute Stimme von Gitta hörte, der Frau des Trainers.
Sie waren bekannt, aber nicht befreundet. Dennoch sprudelte alles aus Anna heraus und als sie sagte“ Ich glaube wir müssen den Caspar abgeben“ zitterte ihre Stimme und erstarb dann.
Geduldig hatte Gitta zugehört und sagte jetzt beruhigend in typisch kölschem Dialekt: „Ach komm: Mädscha. Dat krieje mer schon hin. Der Matthes schläft noch und isch hatte enne Herzinfarkt. Darum is er nit jekomme. Isch sache et em , wenn er aufwache tut, dann röft er dich jet aan. Jut. Un maach disch nit verrückt, dat weed schon! “.
Am späten Nachmittag rief Matthes tatsächlich an, ein Mann wie ein Baum ,Wachmann und bei nicht wenigen Leuten unbeliebt wegen seiner direkten und harten Art. „ Pass opp, Liebschen,“ sagte er ins Telefon und seine Stimme klang sanft, so wie wenn man zu einem weinenden Kind spricht. „Isch komme morje namiddaach vorbei und nemme den Caspar mit op Streife, Checke ihn mal aus und dann maachen mir enne Plan.“ Dünnstimmig flüsterte Anna: “Aber wir haben doch Weihnachten.. „ Quatsch“, meinte er „Dat is jetz nit wischtisch. Wir müssen lueje, dat mer dat hinkreje. Ihr könnt doch der Hung nit awjewwe - ihr doch nit!. Da jeht ihr doch all kapott draan. Tschö dann.“.
Bevor Anna sich noch bedanken konnte hatte er schon aufgelegt. In Anna stieg Hoffnung auf, auch ihr Mann lächelte erleichtert. „Das der das tut“, murmelte er leise.
Am nächsten Tag um vier kam Matthes. Caspar freute sich und Anna umarmte ihn . Schmunzelnd, aber ohne viele Worte leinte er den großen Hund an, schnappte sich seine Schlafdecke und sagte: „Komm, Jung. Hück jonn mer op Wachdienst. Fünfezwanzisch Kilometer häste vor dir. “ Er lud ihn in den Gitterkäfig, in dem sonst sein belgischer Schäferhund saß und fuhr los. „ Morje öm sechse früh bring isch ihn wigger. Dann rede mer och. Ok?“.
Anna wusste , Caspar ist in guten Händen , doch in ihrem Hals würgte es, als sie ihn fortfahren sah.
Die Nacht über schlief Anna kaum. Den Abend verbrachte sie in einem Forum für Boxerbesitzer, wo sie zu ihrer Überraschung erfuhr, dass einige andere dasselbe Problem hatten wie sie. Alle die, die dazu neigten, den Hund nicht mit der nötigen Strenge zu erziehen.
Genau dies sagte Matthes auch, als er um sechs in der Früh seinen Kaffe in Annas Küche schlürfte. „Der Caspar is eben enne Schutzhung. Er merkt, dass ihr nit so jut laufe könnt und meint dann he möht üsch beschütze. Ansonsten is dat en Superjunge. Mir trainiere dat jez jeden zweiten Daach un dann wird dat schon.“.
Die Flasche Champagner mit dem Dankeschildchen musste Anna ihm aufdrängen und Anna sagte zu ihrem Mann: „Das ist Weihnachten, oder? “ Ihr Mann nickte wortlos.
Sie gingen alle noch drei Stündchen schlafen, bis um fast Mittag die Nachbarn von gegenüber anriefen und fragten: „Sagt mal, ist bei euch alles in Ordnung? Wir dachten, weil die Rolläden noch zu sind.“. „ Ja, sagte Anna. „ Wir haben nur etwas länger geschlafen. Frohes Fest euch noch.“. „ „Ja, euch auch,“ sagte die Nachbarin und stand am Fenster und winkte, als Anna die Rolläden hochzog. Wieder dachte sie: „ Das ist Weihnachten.“
Trotz der Schlafes fühlte Anna sich erschöpft, ihr Mann noch mehr. Er hatte nicht wieder einschlafen können. Also nahm Anna den Dackel und leinte ihn zum Spaziergang an.
Fast niemand war unterwegs, nur im nahen Feld nahm Anna eine alte Frau wahr, die einen Kinderwagen schob. Anna genoss die Stille und die menschenleere Weite, atmete tief ein.
Der Dackel trödelte, schnupperte hier und da, als habe er alle Zeit der Welt.
Plötzlich hörte Anna hinter sich eine dünne Stimme: „ Können Sie mir helfen?“.
Die alte Frau kam auf sie zu, Verzweiflung im Gesicht. „ Ich habe mich verlaufen, ich weiß gar nicht mehr wo ich bin.“. Anna schaute nachdenklich auf den Kinderwagen mit dem vielleicht halbem Jahr alten Baby. Immer wieder steckte die Frau dem Kind die Flasche zum trinken hin, drehte den Deckel ab und setzte ihn wieder auf.. Beruhigend sprach Anna auf sie ein: „ Welche Straße suchen Sie denn?“. „ Ich glaube, Gymnicher Strasse,“ flüsterte die Frau.
Anna überlegte. Die Gymnicher Straße war gut 3 km weit weg und die Oma sah schon recht müde aus.
„Wie heißen denn die Eltern von dem Kind, ihre Tochter?“. „ Maria“, sagte die Frau. „Und weiter?“. Die Frau druckste und sah Anna hilflos an. „Günther?“ Anna kannte diesen Blick und der rührte sie unendlich. Diesen leeren, angstvollen Blick kannte sie von ihrer dementen Mutter. Rasch entschied sie, dass sie diese Frau unmöglich alleine mit dem Baby lassen konnte und schlug vor, mit zu ihr nach Hause zu gehen und dann zu schauen, was man macht. Die alte Frau stimmte erleichtert zu.
Vor dem Haus angekommen, bat sie die Frau, nicht wegzulaufen und einen Moment zu warten. Sie müsse erst den großen Hund, der keine Babys kennt, einsperren.
Annas Mann stand in der Küche und kochte. Anna befahl dem Boxer ins Schlafzimmer zu gehen und erzählte kurz. Schockiert sah ihr Mann sie an. „ Ja und was willst du jetzt machen?? Musst du die Polizei holen.“. „Ach was,“ widersprach Anna, die unter der angegebenen Adresse keinen Eintrag unter Maria Günther im Telefonbuch fand.
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„ Ich pack mir die Oma jetzt ins Auto und das Kind bleibt hier. Ohne Kindersitz fahre ich kein Kind durch die Gegend.“ Annas Mann trocknete sich die Hände ab und lächelte. „ Na dann mal her mit dem kleinen Möpschen.“.
Bereitwillig ging die Oma auch auf dieses Angebot von Anna ein und kletterte unbeholfen in den großen Mercedes. Sie lächelte Anna verwundert an, ohne Unterbrechung lächelte sie. Anna schnallte sie an, weil sie es selbst nicht konnte und wieder musste Anna an ihre Mutter denken. Wie oft hatte sie das getan.
Liebevoll tätschelte sie den Arm der alten Frau. „ Wir kriegen das hin,“ sagte sie. Wir finden das Haus schon.“ „ Wie sieht es denn aus? Groß, klein, bunt, rote Klinker?“. „Es hat Flecken!“ sagte die Oma bestimmt und stolz, dass sie etwas beitragen konnte.
„ Ok,“ schmunzelte Anna, „Dann suchen wir mal das Haus mit Flecken. Irgendwo muss es ja sein.“. Mehrere Straßenzüge fuhr Anna ab, wo die alte Frau etwas wieder zu erkennen glaubte, in der Gymnicher Straße fand sich das Haus nicht - wie Anna schon vermutet hatte. Wohl aber deutete die alte Frau dort auf ein Haus, über das sie erzählte: „Da bin ich geboren!“.
Anna fuhr nun schon eine halbe Stunde und befand sich bereits am Ortseingang zum übernächsten Dorf. Sie erinnerte sich, dass sie dort mal eine graue Häuserreihe wahrgenommen hatte, die renovierungsbedürftig war und zum Verkauf stand. Diese Häuser hatten bestimmt auch Flecken - irgendwie. Sie fuhr dorthin und die Oma rief ganz entzückt bei einem der Reihenhäuser, an dem ein paar Stellen mit neuem Putz bekleckst waren. „Da, das ist es!“
Anna parkte vor dem Haus und ließ die Oma im Wagen. Erst mal schauen. Auf der Klingel stand „Günther“. Sie schellte. Ein unfreundlicher Mann im Unterhemd öffnete und wurde noch unfreundlicher als Anna ihm sagte, dass sie seine Mutter aufgelesen habe. Eine Mittdreißigerin in fleckiger Bluse, offenbar waren beide am Tapezieren, preschte an die Tür und brüllte Anna an: „Und wo haben Sie mein Kind?“.
Anna antwortete in scharfem Ton: „ Vielleicht sollten Sie sich Sorgen um ihr Kind machen, BEVOR Sie es ihrer dementen Mutter zum Spaziergang mitgeben! Das Kind ist wohlbehalten bei mir Zuhause.“ „ Und warum haben Sie es nicht mitgebracht?“. Anna zwang sich zur Ruhe, obwohl sie Wut in sich aufsteigen spürte. „ Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn ich Ihr Kind ohne Kindersitz durch die Gegend gefahren hätte? Fahren Sie einfach hinter mir her.“
Hektisch zog sich die Frau an und raffte ihren Kindersitz. Ihr Mann ging mit böser Miene zum Auto, aber es war ja abgeschlossen. Anna herrschte ihn an: „ Schauen Sie nicht so böse und machen Sie ihrer Mutter keinen Vorwurf. Die Frau ist krank, dement.“. Anna öffnete die Autotür, schnallte die Oma ab und half ihr aus dem Auto. „ Ach, dass die Alte immer alles vergisst,“ sagte der Mann.“ Guter Mann, es ist Ihre Verantwortung, sich um ihre Mutter zu kümmern. Vielleicht gehen sie mal zum Arzt mit ihr, anstatt rumzubrüllen.“.
Anna stand zwischen dem Mann und der Oma, die Anna verzweifelt ansah. Da nahm Anna sie in den Arm und sagte:“ Sie haben alles richtig gemacht. Sie haben mich um Hilfe gefragt. Das war gut, denn irgendwann braucht jeder mal einen Menschen.“
Dann fuhr Anna ab. Selten hatte sie so Vollgas gegeben.
Als sie nach Hause kam, stand ihr Mann in der Tür. Der große Mann hatte das weinende Baby an seine Wange gedrückt und der im rosa Jäckchen wattierte Windelpopo saß auf seinem Bauch. Der Dackel rannte Anna freudig entgegen, als wollte er sagen „Du, wir haben jetzt ein Baby.“ Anna fühlte Tränen der Rührung in sich aufsteigen.
Und wieder dachte sie: „ Ja ! Das ist es, das ist Weihnachten.“