Geschichten rund um Liebe, Familie oder Freundschaft

Ohne Worte

Beitragvon Neologasmus » Sa 25 Feb, 2012 13:42


Hallo ihr!

Das ist mein erster Beitrag in diesem Forum, und nachdem ich zuvor immer im kleinen Literaturteich eines städteinternen Forums herumgedümpelt bin, bin ich gespannt, wie es hier zugeht. Dieser Text stammt noch aus dieser Zeit, allerdings habe ich ihn überarbeitet und stark gekürzt, trotzdem finde ich die Einleitung noch ein wenig zu lang, vielleicht hat jemand ja Ideen, wie das ein wenig knackiger geht.





1.

Jetzt, einen Tag später, war es nicht einfach, eine Erklärung für das Schweigen zwischen ihnen zu finden. zu finden. Somit fand sie sich letztendlich damit ab, dass sie einfach zu lange damit gewartet hatten, zu sprechen und es damit festgemauert hatten. Sie waren sich im Museum begegnet, hatten sich oft und lange angesehen, und dann in irgendeiner dunklen Ecke hatte sie seine Hand gestreift und er hatte sie festgehalten. Im Dunkeln wäre es ein besonders frecher Spielzug gewesen, aber im Licht war es ein Bekenntnis.
Als sie dann draußen standen, waren sie ratlos. Keiner wollte der erste sein, der das Schweigen brach. Sie sahen sich minutenlang schweigend an und sie versuchte, in seinen Blicken etwas zu lesen, das wie Zustimmung aussah. Weil sie aber nichts Eindeutiges finden konnte, musste sie lächeln. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Dann zog sie rasch ihre Hand aus der Umklammerung und ging eilig davon, ohne sich umzusehen. Das Schweigen war geblieben.

Eigentlich war ihr das ganz recht. Wenn sie sprach, dann langsam und abgehackt, weil sie die Worte erst sorgsam zusammensuchen musste. Dass sie nicht wusste, wie es klang, wenn er sprach, störte sie nicht.
Aber sehen wollte sie ihn gerne wieder. Doch da sie kein Wort gesprochen hatten, wusste sie weder, wie er hieß noch wo er wohnte. Der einzige Ort, an dem sie ihn vielleicht wiederfinden konnte, war das Museum. Wenn er sie wirklich sehen wollte, würde er sie finden. Sie hoffte es.

Es würde eine kalte Nacht werden.
Bereits jetzt kühlte sich die Luft stark ab und dabei dämmerte es erst. Sie bereute es, keinen wärmeren Mantel angezogen zu haben.
Sie ging ein wenig auf und ab und versuchte, nicht zu warten. Wenn er käme, dann wäre sie einfach zufällig auch da. Es sollte ein Zufall sein, wenn sie ihm begegnete, nicht Ergebnis ihrer Berechnungen.
Erst wurde viertel nach sieben.

Das Warten fühlte sich an, wie eine Schwäche. Wer wartet, wird verletzlich, weil er seine Lebenszeit für ein ungewisses Eintreffen einer Situation oder Person opfert. Somit ist das Warten immer ein Verlustgeschäft.
Gegen halb acht konnte sie die Verzweiflung nicht mehr unterdrücken, gegen acht auch die Wut nicht mehr. Aber sie hatte zu viel investiert, um schon gehen zu können. In ihrem Mantel fror sie entsetzlich.

Sie beobachtete jeden Menschen, der vorbeiging genau. Sie alle sahen ihm von weitem so ähnlich, dass sie die Augen schloss.

Als sie sie öffnete, sah sie eine Gestalt eilig in Richtung Museum eilen, aber sie wagte es nicht, sie für ihn zu halten.

Erst als sie direkt auf sie zu kam, wusste sie, dass es niemand anderes sein konnte. Sie wunderte sich, dass sie sich darüber nicht freuen konnte. Sie war sogar regelrecht wütend auf ihn. Bestimmt, dachte sie, würde er anfangen zu sprechen. Er würde sie fragen, wie lange sie wartete und ihr erklären, warum er so lange gebraucht habe.
Sie war sich sicher, dass er es tun würde, aber wenn, dann würde er damit die ganze, gläserne Stille zerstören, die sich in den letzten zwei Stunden um sie gelegt hatte. Sie würde ihn ohrfeigen und gehen.

Während sie gewartet hatte, hatten sich ihre Sinne verfeinert. Sie konnte jedes Geräusch von Ferne ausmachen, das nach Schritten klang. Sie hatte jedes Licht im Museum genau im Auge.
Wenn er spräche, löste sich all das in der Banalität auf. Was nützte es, aus jeder Muskelbewegung etwas lesen zu können, wenn man einfach darüber reden konnte?

Aber er nahm sie nur wortlos in den Arm und sie legte den Kopf auf seine Schulter. Als sie ihn wieder hob war es, als hätte sie die letzten zwei Stunden nur geträumt.

Sie gingen Arm in Arm in den Park.

2.
In der Funktion, Gedanken auszudrücken ließ sich Sprache nicht ersetzen.
In der Funktion, Gefühle auszudrücken, gab es ein Äquivalent, das sogar Ambivalenzen angemessen wiedergeben konnte.

Wenn sie sich am Ende eines Tages durch Supermarktschlangen gekämpft hatte und ihre Beute vor der Tür abstellte um zu klingeln; wenn er die Türe öffnete und ihren grimmigen Blick sah, dann hatte er eine Art entwickelt, sie nach ihrem Befinden zu fragen und sie gleichzeitig zu erheitern.
Es war immer die gleiche, kurze Melodie in Dur, die den Anfang bildete. Es waren höchstens vier Töne, sie bildeten in der Übersetzung der Fragepartikel „Warum“.

Was danach folgte, war von Mal zu mal verschieden, aber stellte immer eine Mischung aus Frage und Auskunft dar.

Wenn es ihr schlecht ging, antwortete sie in Moll, wenn es ihr gut ging, in Dur.
Hatte sie einen merkwürdigen Tag, antwortete sie in nicht mehr gängigen Kirchentonarten.

Wenn sie wütend auf ihn war, antwortete sie gar nicht, aber sie versalzte das Essen, damit er wusste, dass sie noch in ihn verliebt war.

Sie waren glücklich und hatten immer viel Tiefkühlpizza im Haus, für den Fall, dass das Essen unter den zu starken Gefühlsausdrücken ungenießbar geworden war.

Essig bedeutete Angst.

Wenn sie keine Bilder verkaufte und sich Geldsorgen machte, gab es saure Linsen.

Er war die meiste Zeit zu Hause und spielte Gitarre. Wenn er abends fehlte, gab er Konzerte.

Am Wochenende war er nicht da und wenn sie eifersüchtig war, verteilte sie in der ganzen Wohnung dezent blonde Haare aus dem Friseurladen, um ihn darauf hinzuweisen, dass er etwas verpasste, wenn er nicht zuhause war.

Im Gegenzug hängte er Bilder von nackten Frauen ins Bad, die sie beim Duschen immer umdrehte, weil sie ihre lasziven Blicke ärgerten.

Sie hatten in der ganzen Zeit noch kein einzigen Mal miteinander geschlafen und somit wusste sie nicht so sicher, ob er die Bilder wirklich nur aufgehängt hatte, um sie zu ärgern. Eines Tages warf sie die lasziven Bestien einfach in der Mülleimer und beschloss das Problem in Angriff zu nehmen.


In ihrer Vorstellung kamen nur das Klavier und das Bett infrage, der Küchentisch war in ihrer Vorstellung ein Widerspruch zu ihrer emanzipierten Erziehung.

Sie entschied sich für das Bett, weil sie nicht so wirklich wusste, was sie beim ersten Mal erwarten würde.

Natürlich war er überrascht als er nach Hause kam und sie nackt im Bett auf ihn wartete und natürlich schämte sie sich für ihre Schamlosigkeit. Aber irgendwer musste ja damit anfangen, redete sie sich ein, während sie gegen seinen neugierigen Blick ankämpfte.

Er kam erstaunlich schnell mit der veränderten Situation klar. Vielleicht ein wenig zu schnell, wie sie irritiert feststellte, aber womöglich hatte ihre Nacktheit auch die falschen Signale gesetzt. Sie waren, stellte sie verwundert und gleichzeitig beschämt fest, viel zu schnell bei der Sache.

Zunächst war da nur die Leere gewesen, das vage Gefühl, dass alles perfekt war, aber der Körper nicht mitkam.

Wie in einem Theaterstück, bei dem sich alles unvermeidlich zum Wendepunkt aufschaukelte, aber aus irgendeinem Grund der Hauptdarsteller fehlte. Es war zu schnell gegangen, wie eine Revolution, die außer Kontrolle geraten war und obgleich alle Beteiligten es wollten, war es unmöglich, das Gefühl von Zweifel zu bekämpfen, dass sich ebenfalls breit machte.

Vielleicht war es auch eine Welle, die sie überkam und mit der sie nie gerechnet hätte, obgleich sie selbst die Staudämme aufgerissen hatte. Es erstaunte sie, dass sie bei einer so intimen, aber dennoch einfachen Sache nur in Metaphern denken konnte. Natürlich, und sie zwang sich den Gedanken auszudenken, ging es um Sex. Jetzt und hier in einer fremden Wohnung, in einem Bett, das fremd roch und mit Möbeln ringsum, die im Dunkeln wie aufmerksame, gespenstische Beobachter wirkten.

Wenn Sex wirklich so eine natürliche, selbstverständliche Sache war, wie es die Aufklärungsbücher vermittelten, dann hätte im Grunde ein einziges dieser Sorte gereicht, überlegte sie.
Im Ernstfall versagten sie alle.
Welches Aufklärungsbuch hatte sie je vor der Angst gewarnt, der Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit, die damit einherging, nackt unter einer fremden Person zu liegen? Gefühle, die stärker als Lust sein konnten?
Eben. Worte hätten sie weder darauf vorbereiten, noch ihre Gefühle ordnen können.

Erst als er neben ihr liegen blieb, hatte sie das Gefühl, ihn richtig zu sehen.
Im Dunkeln sah er sehr viel jünger und blasser aus.
Die Haare, die ihm jetzt nicht mehr wild ins Gesicht hingen, breiteten sich wie ein Fächer auf dem Kissen aus.
Im Dunkeln hatte er sehr viel schwärzere und schmalere Augen als bei Licht und etwas Melancholisches im Blick, das sie an Kafka erinnerte.

Weil er ruhig lag, konnte sie ihn in Gedanken abzeichnen.
Und weil Nacktheit eine Metapher für Ehrlichkeit war, wusste sie, dass sie bei ihm bleiben würde.

3.
Am Morgen danach schaute sie aus dem Fenster, denn sie wollte ihn nicht ansehen, weil ihr Blick ihn vermutlich geweckt hätte.

Es war ein heller, grauer Morgen, im Laufe das Tages würde der Himmel weiß werden, ohne dass sich je die Sonne zeigen würde.

Sie fror, weil sie ihm beim Aufstehen die Decke überlassen hatte, und wollte sich dennoch nicht anziehen, weil das Frieren zu einem solchen Morgen passte.

Es war nicht irgendein ein neuer Morgen, sondern es war einer DIESER Morgen.
Er gehörte einer bestimmten Kategorie von Tagen an, hatte also aufgehört, für sich alleine und unverwechselbar zu sein.
Sie hatte Morgen wie diesen schon erlebt und sie gehörten alle zu Tagen, die an irgendeiner Stelle einen Bruch im Bewusstsein zur Folge hatten.

Diesmal kam dieser Bruch unmittelbar mit der Feststellung, dass sie Morgen wie diese schon erlebt hatte.
Sie war schon früher lange vor ihm aufgewacht und hatte im aufkeimenden Licht des Himmels gesessen, in Gedanken versunken.
Es war eine Wiederholung dieser Situation, eine leichte Variation, aber sie genügte um festzustellen, dass ihre Liebe plötzlich, von einem Tag auf den anderen, eine Vergangenheit bekommen hatte.

Am Anfang ist jeder Tag einer Liebe unverwechselbar.

Sie waren wie zwei Wanderer gewesen, die sich in einem unberührten Wald Wege durch das Dickicht schlugen.
Es war gefährlich und aufregend.
Aber mit jedem Mal, das sie durch den immer gleichen Wald liefen, wurde der Boden unter ihren Tritten härter. Sie wichen den Orten aus, von denen sie wussten, dass wilde Tiere sie bewohnten.

Der Trampelpfad durch den Wald wurde breiter und die Pflanzen wichen von ihm.
Sie verirrten sich nur noch selten in ihrem Wald und die Sackgassen und Abzweigungen wucherten zu. Als sie an diesem Morgen aufwachte, hatte irgendein Vollidiot den Trampelpfad mit Zement und Teer in einen anständigen, fast schon bürgerlichen Weg umgewandelt.

Und sie konnte schon voraussehen, wie derselbe Vollidiot zusammen mit seinen Kumpels eines Tages aus dem Weg eine Straße und dann eine Autobahn bauen würde.

Der Vollidiot war die Zeit.

Eines Tages würde die Zeit das erste Schnellrestaurant an der Straße eröffnen.
Die Straße würde so breit und so befahren werden, dass es unmöglich werden würde, von der einen Seite des Waldes auf die andere zu gelangen.
Und nach und nach würden sie den Wald mit allen seinen Heimlichkeiten, Wegen und Verstecken vergessen, weil sie nur noch auf der einen Straße entlang fuhren.

Sie würden beim Autofahren daran denken, wie sie damals hier umhergeirrt waren, und es würde ihnen einen leichten Stich geben.
Die Straße, die sie verbinden sollte, würde sie dann voneinander trennen.

Und genau das war das Problem an einer Vergangenheit. Eine Vergangenheit war eine festgefahrene Gegenwart.
Indem Moment, indem man von einer Vergangenheit sprechen konnte, war die Gegenwart nicht mehr intensiv genug, um einen kontinuierlich zu beschäftigen.
Nach und nach kämen zu der Vergangenheit die Tradition und ihre fiese Stiefschwester, die Routine.


Das war der Wurm, der an diesem Morgen fraß.

Und es war ein Problem der Zeit, ein Problem der Uhren, die nur im Kreis laufen wollten. Aber wenn sich der Ort schon nicht ändern konnte, dachte sie, wäre es dann möglich, dass sich die Personen verändern konnten?
Man kann ein Bild überkleben, übermalen, Fetzen herausschneiden oder neu malen. Warum, dachte sie, warum nicht?
Warum ein Bild nicht mehrfach malen, wenn es ein schönes Bild ist? Warum eine Geschichte nicht einfach beenden, wenn es eine schöne Geschichte ist und sie ein schönes Ende verdient?
Offene Enden schreibt das Leben.
Nur der Mensch kann sie zu geschlossenen Enden machen.

Und zum ersten Mal in all der Zeit küsste sie ihn auf die Stirn.
Er wachte nicht auf. Dabei hätte er ahnen können, dass ein Stirnkuss in der Übersetzung "Abschied" bedeutete.

Er wusste nicht, wo sie wohnte und somit war die Flucht eine leichte.

4.

Epilog

"Kennst du mich noch?

Ich bin mit dir gelaufen, als es noch ein wenig dunkler und kälter war.

Ich muss zugeben, dass ich immer noch keinen Namen habe, aber wenn du mich findest, darfst du mir einen geben und dann möchte ich hören, wie deine Stimme klingt.

Ich schreibe dir diesen Brief, damit du mich suchen kannst, wenn du magst, aber wenn du mich gefunden hast, werden wir uns nicht berühren, außer mit Blicken.

Ich möchte, dass immer ein Teil von uns brach liegt, dass es immer etwas an dir geben wird, das ich vermisse, so wie ich im Sommer den Schnee vermisse und im Winter das Wasser, das klare kühle Wasser.
Aber zunächst wirst du mich suchen müssen. Das wird nicht schwer sein.

Du wirst mich im Wald finden, wenn du willst."
Neologasmus
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Re: Ohne Worte

Beitragvon Readnbow » Fr 02 Jun, 2017 09:31


I know nothing is always right. Thoughts of people, the truth will come true.
Readnbow
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Re: Ohne Worte

Beitragvon findefuchs » Fr 02 Jun, 2017 15:50


Hi Readbow, danke, dass Du dieses Juwel ausgegraben hast.
Als ich des Suchens müde wurde, erlernte ich das Finden.
Friedrich Nietzsche
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Re: Ohne Worte

Beitragvon vincent.vega » Sa 23 Sep, 2017 22:50


Der Danksagung vom Findefuchs schließe ich mich an :)
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