Geschichten rund um Liebe, Familie oder Freundschaft

Grausame, zärtliche Stadt

Beitragvon cube » Fr 31 Okt, 2008 23:08


Und der Augenblick dunkelte. Schien die Welt zuvor noch freundlich, voller Lachen durch die Berührung zweier Menschen, die sich wie Surfer und Welle zueinander verhielten - gemeinsam und in befreiender Ziellosigkeit vorwärts stürmend, so war dieser Moment unwiederbringlich vorbei.
Wo vorher zwei waren, war jetzt nur einer: Emil. Allein, nach innen gerichtet, die Leere fühlend. Auf einmal fröstelte es ihn und er sah sich von ungezählten Häusern umzingelt, die ihn aus hunderten Fensterhöhlen anstarrten. Die Stadt war ihm feindlich gesonnen, soviel war klar. Nicht umsonst besprühte er ihre grauen Wände, warf die Fenster der festungsähnlichen Konzerngebäude ein und pflanzte kleine Bäume, deren Wurzeln einst den Asphalt brechen werden. Ihre Feindschaft beruht auf Gegenseitigkeit. Auch wenn es merkwürdig klingt: Emil weiss, dass die Stadt seine Gefühle kennt. Sein Herz schlägt im Takt seines Lebensraumes, sie durchdringen einander und fühlen ihre Uneinigkeit. Vielleicht war diese ermüdende Feindschaft der Grund gewesen, dass er wie ein Wüstenboden auf den Regen reagierte, als er mit dem Mädchen sprach.
In ihr ahnte er einen erfüllenden Sinn, welcher die Höhen und Tiefen des Lebens wie durch einen roten Faden verbinden könnte, den spürte er, als er mit ihr sprach. Er vergaß die Kälte für einen Moment und seine Feindschaft und Härte lösten sich in der Wärme ihrer Augen, ihrer Stimme und in dem Klang ihres Lachens auf.
Nachdem er diesen Ausblick auf die Möglichkeiten gemacht hatte, konnte er nicht mehr so weitermachen wie zuvor, konnte nicht weiterhin so tun, als gäbe es nur das Schwarz und Weiss. Mit einem leisen Bedauern streifte er seine alte Haut ab und ging auf die Suche. Nichts war klarer, als dass er sie suchte, doch davon ahnte er nichts.
Emil ließ alles hinter sich - die Arbeit, Freunde und Familie, seine Gewohnheiten - er warf all dies ab wie einen schweren Mantel, der ihm zwar im Winter gut gedient hatte, doch der ihn auf dem Weg in einen erhofften Frühling zu erdrücken drohte. Seltsam war es, so alleine und ziellos durch die nächtlichen Straßen zu wandern. Emil sah viele seiner Brüder und Schwestern. Alles Geschöpfe wie er, von einem unbekannten, möglicherweise geisteskranken, Gott auf die Erde geworfen. Da waren frische Paare, rotgesichtig lachend, die sich ihre weißen Gebisse wie stolze Pferde zeigten. Liebende sind Lichtwesen, er sah sie im Schein von Straßenlaternen oder vor beleuchteten Schaufenstern stehen. Einmal blendete ein Auto auf, als hätte es das nur getan um die Liebenden zu zeigen. Diese glücklichen Paare schwammen in der Helligkeit, dort wo ihre Zähne blitzten und sie gesehen werden konnten. In diesem Körper, aber in einem anderen Leben, hatte er selber geliebt und war auf leuchtenden Pfaden gewandelt. Doch die Erinnerung schmeckte nur noch schal. Bei der Betrachtung des fremden Glücks holte ihn wieder die Leere ein, und er spürte, dass er selber nicht einmal Unglück sein Eigen nennen konnte. Der Mangel an diesem ließ ihn auch die anderen meiden, die, welche die Helligkeit flohen, weil sie es scheuten erkannt zu werden. Diese Unglücklichen hatten etwas auf dem Kerbholz oder dachten, dass sie es hätten oder hätten es gerne. Erbärmliche Gestalten, den Geistern und Tieren näher, als den Menschen. Traurig machte es ihn, sie zu sehen und wütend, dass sie ihre Trauer in Hass und Zerstörung umzuwandeln suchten. Ans Licht gezerrt ergeht es ihnen ärger noch als den Vampiren: die verbrennen, ihre Haut verschrumpelt und mit einem fauchenden Schrei verlassen sie die Welt. Da sie nur einmal im Rampenlicht stehen, müssen sie für diesen Moment alles geben. Wohingegen die düsteren Gestalten dieser Welt ungleich jammervoller auf erhellendes reagieren: sie werden einfach immer kleiner, bis sie zu Zwergen degenerieren. Einst war er selber ein Zwerg gewesen, buckelig und böswillig. Aber jetzt waren ihm die düsteren Zwerge ebenso fern wie die strahlenden Lichtgänger. Der mögliche Wandel ist das menschliche Wunder. Er wusste, dass es einen Weg aus der Leere geben musste. Aber weder das Licht noch die Schatten dieser Nacht hielten die Fußstapfen seines ersten Schrittes bereit.
Derart zwischen den Polen gefangen, fürchtete er das ihn umgebende Meer aus Dunkelheit und meidete die Inseln aus künstlichem Licht. Emil beschloß zum Meer zu gehen. Er wollte hören was es ihm heute erzählen würde, welchen Wiederhall seine Wellen in ihm auslösen würden. Um festzustellen ob er noch lebte oder vielleicht einzusehen, dass er doch eigentlich schon tot ist und noch eine unbestimmte Unendlichkeit über die leere Erde wandern musste, bis der Schnitter ein Einsehen zeigt. Zögerlich stand er auf Bahnsteigen und blinzelte unwirsch gegen die Leuchtkraft der Neonröhren an. Stahlschlangen kamen und gingen, mit schnaufender, quietschender Präzision erweiterten sie die Bahnsteige der Stadt um ihre Magenhöhlen, indem sie einfach Türen öffneten. Emil begab sich in den Magen der Stahlschlange, als wäre er ein hypnotisiertes Kaninchen. Im Inneren spielten einige Fahrgäste - so nannten die Herren der Stahlschlange ihre nichtsahnenden Opfer - Kaufmannsladen. Sie tauschten durchsichtige Plastetütchen mit grünem Aufdruck gegen kleine Scheine. Ein anderer spielte Lieder auf einem Instrument und sang dazu, es klang grauenvoll, die Leute gaben ihm Geld und sagten, dass er endlich aufhören soll. Als er sich an diesen Schauspielen sattgesehen hatte, blickte Emil sich suchend um. Alle saßen sie beieinander, Zwerge und Riesen, die Schönen und die Gezeichneten. Während er die Gesichter musterte, reagierten die Gestalten unwillkürlich und kreuzten ihre Blicke mit seinem. Es war, als hätte er sie bei etwas unanständigem erwischt: die Sitzenden riefen ihren Blick wieder zurück wie ein fremdelndes Kind, versanken erneut in den scheintoten Zustand und erstarrten. Leblos wie Statuen hockten sie nebeneinander, eine stumme Terrakottaarmee, die durch eine unendliche Nacht fuhr. Seine Augen scannten die Statuen, ob vielleicht eine gelungen Modellierung dabei war, oder einfach nur um der gelbäugig glotzenden Stadt zu entkommen. Möglicherweise erhoffte er sich auch mehr. Aber dass Wissen um seine Wünsche und Hoffnungen war ihm nicht gegeben, er kannte jeden anderen besser als sich.
Doch Emils Scanner-Augen sahen etwas unerwartetes, etwas heimlich erhofftes, wie er feststellte. Ein paar Sitze weiter saß eine junge Frau mit gelocktem Haar wie es Statuen von griechischen Jünglingen tragen, sie schaute in die Stadt, scheinbar gleichmütig ihre allumfassende Gegenwart ertragend. Emil spürte eine Bewegung - schwach wie der Ruf eines Vogeljungen - in der chaotischen Leere, die sein Inneres war. Er hielt inne und rührte sich mit keiner Faser, kein Gedanke wagte eine Bewegung, sogar sein Herz wartete ab. Behutsam warf er seine Netze aus. Als die junge Frau bemerkte, dass er sie beobachtete, hatte er seinen Fang bereits eingeholt. Da waren Düfte - von ihrem Haar, ihren Augen und ihrem Lachen, auch eine kleine Welle verfing sich im Netz, und er sah, dass er Erinnerungen gefangen hatte. Sie war diejenige gewesen, die ihn heute ausgefüllt hatte, sie war der Anlass gewesen, dass er sich auf den Weg machte. Jetzt lagen ihre Jünglingsaugen strahlend auf seinem Gesicht. Emil schaute nicht auf, zu glücklich war er, sich wiedergefunden zu haben. Und sicher, dass er sie nicht verlieren würde. Die Schlange kam quietschend und ächzend zum Halten. Der Hafen. Sie ging hinaus und er folgte ihr, als hätte er es sowieso vorgehabt.
Leichtfüßig und federnd, wie ein großer Vogel, ging sie voraus, ihren Hals stolz in den Himmel gereckt und durch ihre schmalen Nüstern nach den Winden schnuppernd, die vom Ozean herüber wehten.
Endlich hielt sie an. Mitten in dem Meer der Dunkelheit, an den Ufern der seelenvollen Wellen. Ihr Kopf war ihren Schultern zugeneigt, als lausche sie andächtig, oder als biete sie ihren Hals einem Vampir, in der Hoffnung unsterblich zu werden. Emil ging von hinten an sie heran, umschlang ihre Taille und zog das Mädchen eng an sich. Zart und vorsichtig biß er ihr in den Hals - sie seufzte leise zu dem Spiel des Wassers. Als sie zu der Musik des großen Ozeans tanzten, fanden sie ihre Fäden jeder für sich wieder - denn auch sie hatte sich verloren, ihn verloren und gesucht - und führten sie in geheimnisvoller Gleichzeitigkeit zusammen. Die Stadt blickte mit müder Zärtlichkeit auf die Tänzer - schließlich war auch sie einmal jung gewesen - und verzichtete heute darauf, Emil von einem Lastwagen überfahren zu lassen, wie es ihr ursprünglicher Plan gewesen war.
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Re: Grausame, zärtliche Stadt

Beitragvon Sjel » Di 27 Jan, 2009 22:01


Guten Abend. Hier ein Paar Sätze zu deiner Geschichte, ich hoffe die Kritik ist nach so langer Zeit noch willkommen:

Was mir gefällt: Diese Geschichte hat im Gegensatz zu anderen "seelischen Stilleben" eine erkennbare Handlung, auch wenn diese wieder sparsam ausfällt. (Für mich bleibt eine Handlung an einem Stück Prosa nach wie vor das wichtigste Element, nicht die Beschreibung der Gefühle und Empfindungen einer Person - was meiner Meinung nach eher Aufgabe der Poesie ist). Darüber hinaus zeichnet der Autor ein Bild vom Erzähler, das in sich stimmig ist. Sein Ton bleibt immer melancholisch - sinnierend. Die Metaphern und die Umschreibungen fallen nie aus der Stimmung des Erzählers und der erzählten Geschichte heraus. Man merkt dem Erzähler auch eine gewisse Individualität und Phantasie bei seinen Beschreibungen an Zum Beispiel: Die Lichtgestalten, die Zwerge und die Vampire.

Und natürlich gefällt mir die Idee die Stadt als lebendig darzustellen.

Nun einige Anmerkungen:

An vielen Stellen wirkt der Text schwerfällig. Das liegt an den langen Sätzen mit vielen Nebensätzen, so wie hier:

In ihr ahnte er einen erfüllenden Sinn, welcher die Höhen und Tiefen des Lebens wie durch einen roten Faden verbinden könnte, den spürte er, als er mit ihr sprach. Er vergaß die Kälte für einen Moment und seine Feindschaft und Härte lösten sich in der Wärme ihrer Augen, ihrer Stimme und in dem Klang ihres Lachens auf.


Aus "den spürte er, als er mit er sprach" hätte man einen neuen kurzen Satz machen können. Die Abwechslung zwischen langen und kurzen Sätzen schafft einen nicht schwerfälligen und nicht abgehackten Lesefluß.

Doch Emils Scanner-Augen sahen etwas unerwartetes, etwas heimlich erhofftes, wie er feststellte


Die Umschreibung "wie er feststellte" ist nicht nötig, da die Geschichte von einem personalen Erzähler erzählt wird, und solche Umschreibungen nur bei einem auktorialen Erzähler vorkommen. Dort besteht die Notwendigkeit, zu erläutern wem ein Gedanke gehört, hier ist es auch ohne klar, dass er nur Emil gehören kann.

Der Mangel an diesem ließ ihn auch die anderen meiden, die, welche die Helligkeit flohen, weil sie es scheuten erkannt zu werden.


"die Heiligkeit flohen" hört sich seltsam an, ich bin der Meinung, ein gewöhnliches "vor der Heiligkeit flohen" wäre besser gewesen.

die sich ihre weißen Gebisse wie stolze Pferde zeigten


Dieser Satz hat mich erfreut.

Bei der Betrachtung des fremden Glücks holte ihn wieder die Leere ein, und er spürte, dass er selber nicht einmal Unglück sein Eigen nennen konnte


Ich bin der Meinung "selbst" statt "selber" klingt wenniger umgangssprachlich.

Derart zwischen den Polen gefangen, fürchtete er das ihn umgebende Meer aus Dunkelheit und meidete die Inseln aus künstlichem Licht. Emil beschloß zum Meer zu gehen.


Zweimal das Wort "Meer" als Metapher und im nächsten Satz wörtlich, das wirkt schwach.

Jetzt lagen ihre Jünglingsaugen strahlend auf seinem Gesicht.


Leider ergibt das für mich ein gruseliges Bild. Normalerweise liegt der Blick eines Menschen auf dem Gesicht des anderen. Hier stell ich mir diese Augen leider wörtlich vor, mitten in sein Gesicht geklatscht. Zudem: wieso "Jünglingsaugen"? Es geht doch um eine Frau? Das ist der Genetiv von Jüngling, des Jünglings Augen also. Es wurde ein Paar Sätze zuvor erwähnt, dass sie die Frisur eines Jünglings hat, nicht aber die Augen. Dieser Begriff ist also
verwirrend.

Bitte nichts zu Herzen nehmen. LG, Sjel.
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