Frohe Weihnachten
Und wieder einmal naht der Tag, da sie gebären sollte. Gebären all diejenigen, die vorher in der Unüberschaubarkeit verschwunden waren und die nun zu hunderten aus ihren Autos steigen, um in der Kirche die frohe Botschaft zu hören. Wie aus einer Maschine, die Christen spuckt.
Stühle werden herbeigeschafft, um die Bankreihen zu erweitern.
Und wieder naht der Tag, an dem sie gezählet werden sollten. In freudiger Erwartung steht der Paster an der Kirchenpforte, eine Hand am schwarzen Revers, um jeden einzeln zu begrüßen.
„Meine Güte, ist der dick geworden“, denkt Frau Müller. Ja, es fällt einem nicht auf, wenn man jemanden oft sieht.
Vorsichtig schaut sie sich um. In Schal und Winterjacke, der guten, gehüllt, strömen die Gläubigen in die kleine protestantische Kirche. Einige nicken grüßend. Wer war das noch? Es duftet nach Christbaum, die Orgel spielt schon „Stille Nacht, Heilige Nacht“.
Frau Müller setzt sich in Reihe sieben, nicht zu weit vorn – man will ja nicht auffallen, aber auch nicht zu weit hinten, um das Krippenspiel zu sehen. Murmeln, irgendwie zieht es.
Frau Müller ärgert sich, dass sich ausgerechnet eine Dame mit dickem Schnupfen neben sie setzt. „Konnte die sich nicht woanders hin bequemen? Morgen bin ich krank,“ denkt sie und rückt weiter nach links. Der Nachbar wirft ihr einen unzufriedenen Blick zu .
Frieden auf Erden.
Der Paster beginnt seine Litaneien vorzutragen.
Frau Müller denkt an den Film, den sie gestern im Fernsehen über Afghanistan sah und der sie sehr schockierte.
„Ich glaube an..“, beim sechsten Vers des Glaubensbekenntnisses stockt der Nachbar und wartet auf die Vorgabe von Frau Müller. Die aber spart sich das Bekenntnis zur heiligen christlichen Kirche. Der Nachbar kommt ins Trudeln.
Frau Müller lächelt und schaut auf den großen Tannenbaum, der unten recht dürr ist.
„Damals,“ erinnert sie „damals waren die Tannen noch Tannen!“.
Die Kinder sagen die fleißig gelernten Sätze auf- das Krippenspiel läuft gut. Perfekt ohne Fehler. Bei der anschließenden Kurzpredigt beginnen die ersten Besucher mit den Füßen zu scharren, einige husten. Bald ist der Raum von Husten erfüllt.
Man kramt in den Taschen, irgendwann kommt doch immer ein Klingelbeutel rum. Da muss man vorbereitet sein. Nicht, dass man aus Versehen ein Zwei-Euro-Stück hineinwirft.
Eindringlich spricht der Paster gegen die aufkommende Unruhe an - von der Menschlichkeit auf Erden, zu der doch bitte alle beitragen sollen, redet er.
Frau Müller überlegt, ob sie auch den Braten runtergestellt hat. Na, das wär ja was, zu Heilig Abend Brandenburger…
Beim obligtorischen Abschlusslied „Oh du fröhliche“ hustet niemand mehr, alle singen voller Inbrunst. Menschlichkeit- ja!
Die ersten stehen kurz danach auf und begeben sich zum Ausgang. Frau Müller ist dabei. Sie traut dem Braten nicht.
Sie hastet zum Auto. „Verdammt“, sagt sie. Ein fetter Van hat sie zugeparkt.