Geschichten zum Thema Alltag

N° 5 Die große Ruhe

Beitragvon C.J. Bartolomé » Sa 01 Dez, 2012 12:47


Ihre Empfindung liebte die Gegensätze, schon im Primitiven ergötzte sie sich an ihnen. Kein Brot schmeckte ihr besser als nach dem Hungern an frischer Luft, nichts Süßer als nach Sauerkirschen, nichts duftete ihr herrlicher als nach dem Verlassen einer Autobahn–Toilette. Der Sommerregen, der den Staub von einer Woche fortspühlte, rührte sie zu Tränen. Um ihre Sensibilität voll auszureizen, gab sie sich dem Extremen hin.
Die Empfindsamkeit hatte sie früher verzärtelt, indem sie wie eine Seidenraupe zwischen ihrem Ich und ihrem Herzen ein Gewebe wie Engelshaar spann, das die leichtesten Rührungen regte. Zitternd hatte es zum ersten Mal vibriert, kleine Wellen ins Innere tragend. An Tagen in der warmen Natur hatte sie die Fäden mit dem dünnen Gras verbunden, das sorgenlos raschelte, mit zappelnden Birkenblättchen vernetzt oder mit zum Ufer hin leise plätschernden Seen.
Als der erste stürmische Tag die Fäden flattern und knattern ließ, als krasse Wellen ins Netz schlugen und die glänzenden Fädchen sich bis zum Zerreißen spannten, ohne zu zerreißen, war sie ein aufgebrachtes Element, das in der Steigerung der Sinneseindrücke durch Stress und Not eine sagenhafte Lust empfand. Doch da nichts gerissen war, da sich nichts gelöst hatte, da noch nicht einmal die Fäden an Elastizität verloren hatten, begann sie, ihre Natur zu belehren. Sie spielte mit dem Abstand zwischen Ich und dem Herzen, sodass die Fäden an ihren Verankerungen zerrten, bis die nervlichen Netze nachgaben. Was für ein Rausch! Nun wühlten Erinnerungen sie auf, nun jagten Ängste sie, Furcht, Düsterheit und Panik plagten sie lustvoll, sie, deren lose verankerte Empfindsamkeit schlingerte. Sie fand den natürlichen Abstand nicht mehr. Da erhob sich ihr Herz zu explosiven, heißen Schlägen, deren lebensgefährliche Unregelmäßigkeit in dem von der aus der Bahn geworfenen Fünf–Achtel–Paukenwelle produzierten Drangsal die Fäden zerriss. Jeder Riss ein Zweifel. Das Gefühl für die Welt verlor sich wie Taschentuch im Sturm aufs Meer hinausfliegt, die Augen erloschen und die Ohren ertaubten. Bald riss auch das letzte Fädchen, sie war nun ein Mensch unter Zweifel. Jeder Atemzug saugte nur noch Schrecken ein.
Doch ein großer Schlaf, mein lieber Sokrates, sollte behutsam die goldenen Fädchen wieder zusammenknüpfen. Sie war ein schönes Mädchen, sage auch ich, also wird sie sich freuen, denn schöner wird das neue Nervengeflecht. Doch ich, ich warne sie: hüte dich, schöne Frau, dem Traum etwas beizumischen. Hüte dich am Tage deines Sturmes vor den Bildschirmen und den Lautsprechern, vor den Texten und Gesichtern, vor allem, was dich künstlich entsorgen soll. Denn am Tag nach dem großen Schlaf findest du in deinem empfindsamen Gewebe fremde, unedle Partien eingearbeitet, die taub und fest dem anderen Stoff die Geschmeidigkeit rauben. Dann trügest du blinde Flecken zwischen Ich und Herz, die, wenn die Schönheit der Welt sie berührt, tot sind. Das zarte Netz, das die Wellen kennt, braucht reinen Schlaf. Ohne ihn wirst du voll Zweifel bleiben, die ihr Werk vollenden, wenn dein Ich und dein Herz unverbunden auseinanderdriften, bis das Wesen deines Körpers hohl ist. In alle Richtungen werden die Fäden verweht sein. Erloschen dein Leben, erloschen du. Höre also und ruhe: in dir des Schlafes ambrosischer Traum. Dann erwachst du am Morgen voller Genuss. Und kannst du noch nicht spüren, fühlst du das Netz noch nicht geschmeidig, so schlafe erneut. Schlafe, schlafe dann erneut!
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C.J. Bartolomé
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