Eben streifte er seine nasse, schwarze Regenjacke ab und hing sie zum Abtropfen in die Garderobe. Der leichte Sonntagsregen hatte die Straßen Münchens leergefegt, kaum jemandem war er auf seinem morgendlichen Spaziergang durch die einsamen Häuserreihen, in denen sich nur hier und da ein Auto geregt hatte, begegnet. Gestern Abend noch war er durch die belebte Café–Szene gejoggt, als die Damen, Herrn, Jünglinge und Fräuleins in modischen Uniformen sich dezent, aber herzhaft auf den Steigen der Bürger amüsiert hatten. Der Abend war auf einen warmen, sonnigen Samstagnachmittag gefolgt. Unter dem italienischen Himmel hatten die prächtigen Kapitalen der südlichen Stadt, im Sonnenschein des März die Cabriolets geglänzt und ihre Kreise gedreht, unter den vielen Porsche 911 knatterte ein gelber, offener Wagen besonders protzerisch über die Prachtstraße zum englischen Garten. Ein auffälliges Quellen des Münchener Parketts zeigte sich, mit gereizten Augen blickte er voll Erstaunen auf die packend–schöne Vitalität und Noblesse.
Mit dem einsetzenden Nieselregen zur einbrechenden Nacht also schnürte er seine Sportschuhe und belief denselben Weg, auf dem nur noch einzelne Menschen Unterschlupf in den Räumen der Bars, Cafés und Lounges suchten. Ein Pärchen saß einsam unter einer Marquise, sie schmiegte sich an sein Ohr, erzählend, flüsternd, liebkosend. Auf dem alten Schwabinger Friedhof empfingen ihn die Gräber unter den pfundigen Steinkreuzen wie eh und je mit Ruhe. Die dunklen Stämme umgab grelles Licht der Adalbert, der Theiss, der Ziebland, der Arcis. Nur der reichliche Schnee war gegangen, eingesickert ins Erdreich, das der entströmenden Luft endlich wieder den Duft von regenzersetztem Staub mitgab. Nach einer Weile entdeckte er sie erst, erst nach ein paar konzentrierten Runden um die Toten fiel sein Auge auf sie. Da türmten sich noch immer vergessene Laubhaufen aus dem Herbst, unter denen kein Halm mehr wuchs, gewaltige Rasenflächen bedeckend. Erstaunt gewärtigte er noch weitere am Wegesrand, zurückgelassen, nicht weggeräumt. Zunächst noch grüßte er den alten Herbst, froh, auch den Winter schon hinter sich zu haben. Doch hinter einem Tor zur Straße lagen immer noch die Weihnachtstannen aufeinander, dreizehn Boten des frohen Festes, auch sie zurückgelassen. An ihnen abgestellt das Fahrrad, das er schon in den frühen Herbsttagen dort stehen gesehen hat. Irritiert über diese Nachlässigkeiten der Stadtverwaltung verwoben sich die Überbleibsel zu einem kleinen Niedergang; das Geld, die Mühe, der Wille fehlte, hier aufzuräumen und den alten Schwabinger Leichenfleck zu putzen, um ihn dem glanzvollen München wieder anzugleichen. Die Zurückgelassenen waren wirklich nicht zu übersehen, doch musste er sich eingestehen, eine Laune zu haben, die vielleicht schon mehr war, eine Einstellung vielleicht, eine Sichtweise, ja ein Bewusstsein über das Zurückgelassensein, selbst das Alte zu sein, das Restliche einer längst vergangenen Epoche seines Lebens, in dem die Blätter einmal grün, die Bäume einmal leuchtend geschmückt, die Hoffnung noch auf Rädern flitzte.
– Ehrlichkeit schenkt Einsicht, dachte er.
In Schritt verlangsamend schlenderte er nun die engen Straßen zurück. Dort ein überfüllter, überquellender Mülleimer voller Reste, Abfälle, vor allem aber verstreute Papp–Eisbecher, manche sogar noch mit einem Plastelöffel verziert, fristeten ihr Dasein an den Rändern der Straße. Sein Wunsch deutete auf Niedergang der ganzen Stadt, hier manifestiert als früheste Boten im Kleinsten, die eine klare, pessimistische Botschaft verkündeten, leise für ihn vernehmlich. Aber er erkannte auch die Zeugen des beginnenden Sommers nach einem langen Winter wieder, das Eis–Lecken, das Café–Schlürfen, das Nach–Herzenslust–Lachen, das Plauschen und Flirten. Er überführte seinen neidvollen Wunsch, zum verhassten eigenen Schicksal ein Ebenbild zu finden, einen Niedergang der Anderen, ein Zurückgelassensein des Ganzen – um sich selbst zu erheben, zu rechtfertigen, zu schützen, letztlich: um sich zu bemitleiden. Auch wenn es ihm schlecht bekam, sich zurückgelassen zu fühlen wie ein Weihnachtsbaum im März, so half ihm auch hier das wunschlose Erkennen weiter, es heilte ihn für den Moment, sodass er lebte. Er lebte, weil seine Wurzeln ihn versorgten, anders als den abgeschnittenen, zwischen Wurzel und Stamm geteilten Baum der Heiligkeit. Seine Beine trugen ihn, wohin er wollte – lief er mit, so blieb er nicht zurück. Da er entschieden hatte, übers Papier zu laufen, war er.
– Ob die Stadt niedergeht, dachte er, und sei´s auch nur ein bisschen, hat mit mir also nichts zu tun.Bitte schickt mir Eure Kritiken und Kommentare auch zu (http://www.profession-literatur.de/index.php/kontakt)!