Geschichten zum Thema Alltag

N° 11 Das Fußballspiel

Beitragvon C.J. Bartolomé » Mo 28 Jan, 2013 19:50


Die berichtende Klasse verkauft, was sie zwischen Stadionsitzschalen und Bildschirmen findet. Der nationale Faktor multipliziert ihre Reichweite, sodass sie in allen Kanälen auf Menschen trifft. Und noch vieles mehr – das steht auf einem anderen Blatt.
Die Mannschaften kannten sich schon längst, die Spieler besaßen Landkarten von den Körpern ihrer Mitspieler, so lange und oft duschten sie schon im selben Raum. Die Trainer tüftelten am Rezept fürs Hauptgericht, die Hirne ihrer Spieler sollten gepolt, manipuliert, gewaschen werden, um die Taktik, die Laufwege, die Bedeutung des Spiels, die Motivation einzuhämmern.
– Niemand bewegt sich außer die Reihe, schrien sie. Niemand weicht ab von Plan, den Chefcoach euren Beinen rennen gegeben hat!
Ein ständiges Plus und Minus schwirrte in den Geistern herum, das Ansehen, das zu verlieren, zu gewinnen sein würde, eben mit dem Spiel, eben dort auf dem grünen Raseneck unter den Massen und Massen der Zuschauer, dort erwarteten sie unfassbaren Ruhm, aber auch unerträgliche Schmach, Hass und Niederlage. Hoffnungsvolle Gesichter, ängstlich kugelnde Augen der Zuschauer hingen an der Rampe zu den Katakomben der Lebenden, künstliche Augen saugten Lichtstrahlen aus allen Winkeln ab, nichts blieb unbeobachtet; dann begann sie: die Zeremonie. Wann genau sie begann, kann ich nicht schreiben; aber jeder weiß: ihr war eine Minute, eine Sekunde zugedacht, denn das Ineinandergreifen von Geschäft, Werbung, Fernsehen und sonstigem erstickenden Arenamüll mit den Bewegungen der Athleten duldete weder Verspätetes noch Verfrühtes. Um 20.44 zitterten ihre Muskelberge noch, kurz vor 20.45 spukten in den deutschen Hirnen noch Schrecksekunden als Phantasmen durch die mageren Drähte, das Phantom des englischen Torjägers tuckerte giftig durch die Adern der deutschen Innenverteidiger, aber...Pfiff.
Das Spektakel überrömischen Ausmaßes begann und wälzte sich durch den Abend. Wie viele verschenkten ihre Zeit für dieses fremde Ereignis? Wie viele nahmen fiebrigsten Anteil an einem Fußballspiel, das sie nichts anging? Genug Menschen sperrten Augen, Ohren und Münder auf, um die anstehenden 90 Minuten mit dem nationalen Faktor zu multiplizieren, ihr Interesse blähte die ersten Sekunden derart, dass einigen die Luft zum Atmen fehlte und sie vor Anspannung bibberten, als wären es Minusgrade. Doch da neigte sich schon die Waage. Rooney, ein englischer Mann, erwischte vor dem Tor einen hohen Ball mit dem linken Fuß und lenkte ihn über die Kreidelinie. Der Widerpart, der all sein Streben verhindern sollte, ein argentinischer Innenverteidiger in Diensten der Deutschen, war ausgerutscht, kam zu spät und sah zu, wie der Engländer jubelte, jubelte, locker auslief und jubelte. Dabei staunten die Zuschauer den Argentinier an, denn er sah aus, als ob ihm der Gegentreffer nicht passieren dürfte. Mit allem opferte sich dieser Mann seiner Verteidigung, ein immenser Stolz strahlte von seinem Körper ab; selbst sein vor kurzem noch zertrümmertes, jetzt gedrahtetes Gesicht, die Brüche von Augenhöhle, Jochbein, Kiefer und Nase hielten ihn nicht auf, der Wille zum Spielen und Kämpfen schmeichelte Titanen – doch Rooney hatte getroffen. Eine Faszination lag im Spagat zwischen seiner schwarzen, totenähnlichen Maske über dem brüchigen Skelett und dem fleischgewordenen Willen, zu verteidigen. Wie also kann ein Mann mit solchem Willen einen Fehler machen? Er rutscht aus. Das Bild des Balles im Netz schockte stromschlägig die Akteure des FC Bayern München, deren wirtschaftliche Situation so angenehm geklärt war. Spuk, Untote und Halluzinationen hätten nicht minder den Mut verwirrt als das Gegentor – aber gut, es ging weiter. Das Spiel kam wieder in Gang, die Vorzeichen waren gesetzt, eben so, wie jeder erwartet hatte: der englische Großmeister Manchester United schießt ein oder zwei Tore, der deutsche Angsthasenverein FC Bayern München rennt gegen eine Wand von Defensive, verliert, scheidet aus dem Wettbewerb aus, alle Träume erfüllt, alle Träume zerstört. Doch irgendwann trudelte der Fußball ins englische Netz, nicht ausrechenbar war der Schuss von Ribéry seine Bahn entlanggewandelt, war gegen ein Bein geprallt, hatte seine Richtung geändert und rollte nun ins Plastegitter hinterm weißen Strich. 1:1. Die Gemüter beruhigten sich, ein Unentschieden bedeutete Verschiebung der Entscheidung; damit einverstanden schienen alle, nur einer nicht, der aus Lebensprinzip rannte und sprintete, sich quälte beim schnellen Lauf, immer wieder antrat. Bestand sein Verdienst bisher im Signalisieren von Aggression und Angriff, indem er zur tiefen Befriedigung der Ränge auf den englischen Torhüter loshetzte, wenn der gemächlich am Ball wiederkäute, nahte die Minute, in der er die englische Mannschaft, die Taktik, alles billige Denken der Glotzgierigen erschoss. Sein Kampf blieb nicht nur Motiv, weitaus mehr als das, sein Lebensmotiv steckte hinter dem jagenden Rennen. Einige hatten sich schon verabschiedet, das ungläubige Publikum löste sich langsam im Dunst seiner anderweitigen Bedürfnisse auf. Abgewunken fast – da setzt Olic an, im englischen Strafraum spritzte er zwischen drei völlig überraschte Verteidiger, fetzte den Ball mit, tanzte im leeren Raum vor dem grätigen englischen Torhüter den kurzen Balztanz des Fischräubers, täuschte den wartenden Verhinderer und jagte die Kugel mit links in die Maschen. Unglaubliches geschah hierdurch, da niemand mehr den Glauben an dieses Tor hatte. Da er fehlte, wirkte dieses 2:1 Siegtor wundersam. Von hinten überrascht, rissen die deutschen Fans und Gierigen zum Jubeln die Arme herum und überließen sich Gesten. Die Engländer zählten die Halme vor ihren Füßen. Im Trubel erstickte die Erkenntnis; selbst der martialisch gestikulierende, nunmehr nackt abdrehende Schütze begriff nichts als die Fakten. Dabei hatte er gezeigt, dass das Lebensprinzip den Glauben dort ersetzt, wo er zu schwach wird, um Großes zu leisten, auch wenn gar nichts mehr für die Wende spricht. Im Lebensprinzip legt sich die Gewohnheit brückenartig über die Schlucht des Unglaubens. Groß der, der diesen Übergang bei Zeiten konstruiert. Groß der Schriftsteller, den auch du bejubelst. Für ihn gilt. Sein Glauben; sein Schreiben ist Prinzip zu ihm, über ihn, zwischen ihm.
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C.J. Bartolomé
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