Geschichten zum Thema Alltag

N° 15 Ich–Illusion

Beitragvon C.J. Bartolomé » Fr 08 Mär, 2013 20:11


Bitter schmeckt die Enttäuschung, bitterer nur die herbe Enttäuschung, etwa dann, wenn eine besonders große Illusion zu Freude, Stolz und Glück veranlasste. Im Zuge der Erkenntnis über den Status von Erkenntnissen könnte auch die Entdeckung und Wandlung eines selbsterfahrenen Umstandes zu einem unangenehmen Beigeschmack führen, wenn nicht das Ergebnis bliebe.
Erika war schon alt. Die Erkenntnis vom Verlust des Ich bei Musil, Nietzsche, Heidegger und Konsorten um 1900 hatte sie schon als hübsches Fräulein davon in Kenntnis gesetzt, dass ihre innere Bewegung und Evolution bereits über hundert Jahre alt ist. Auch wenn andere, dümmere Autoren als sie vom narzisstischen Jahrhundert sprachen, die eigentlich neueste geistesgeschichtliche Entwicklung lag für sie in der Befreiung auch von dieser Illusion, der Ich–Illusion. Zwei Effekte knüpfte sie an sie, an die Befreiung. Der erste Effekt bewirkte eine räumliche Veränderung ihres Bewusstseins. Die Konzentration auf einen Punkt im Innern, die Vorstellung eines Zentrums in ihrem Körper entfiel, stattdessen breitete sich ihr Bewusstsein zu einem unendlichen Raum aus, dessen Fülle an Platz alles aufnehmen konnte, in dem eine Stille herrschte, die ihr zu tiefster Entspannung verhalf, in dem die Angst vor dem Tod gar keinen Halt finden konnte, denn nichts ließ sich fixieren, kein archimedischer Punkt stand fest – die Illusion des Zentrums hatte sich in ihr verzogen wie ein kosmischer Nebel.
Der zweite Effekt knüpfte ebenso an der Großräumigkeit an, in der ihre Gedanken an den Tod einfach haltlos umherschwirrten. Durch ihr fehlendes Ich entstand eine beinahe tückische Ruhe vor dem Leben, die Frage nach dem Lebenssinn, die der Ausgangspunkt für ihre Entdeckung der Ich–Illusion gewesen war, hatte sich ebenso aufgelöst. Denn ihre Voraussetzung verband die Vorstellung von einer Funktion des Ich für den Menschen, zu der die Sprache Erika verleitet hatte. Jegliches Organ hatte oder hatte gehabt eine Funktion, sobald aber die Frage auf die Funktion des Ich kam, hatte sich ihr Geist gequält mit allerhand theodizeenen Gedankenkrämpfen. Gesund erschien ihr erst das Bewusstsein ohne Zentrum, die Sinnlosigkeit der Lebenssinnfrage knüpfte an die Entdeckung des illusionären Ich. Und im Aufbau der Dinge lag nunmal das Aufliegen der Todesangst auf dem Lebenssinn. In diesem Fall unterschied sie die ursachenlose Todesangst von der instinktiven, von welcher letzterer sie noch nie gesprochen hatte.
Die Ich–Illusion verschwand für sie mit der Zukunft ihres Ich, das Verlegen aller Entwicklung, Freude und Vollendung auf die zukünftige Zeit hatte ein Ende und alles verflog. Ihr blieb nur der nahe Tod des Körpers, nicht der Individualität; der große Plan des Lebens, dessen Erfüllung der Tod in der Vorstellung durchkreuzen sollte, zerfiel ihr und mit ihm die Angst vor dem Nicht–mehr–Sein. Besser als die Befreiung schmeckte ihr diese Einsicht, sie entsprang ihrem Leben direkt und hatte von Anfang an süß geschmeckt.
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C.J. Bartolomé
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Re: N° 15 Ich–Illusion

Beitragvon struktur-los » Sa 16 Mär, 2013 16:00


Hallo Bartolomé,

das ist mal ein Text, der mich anspricht. Dennoch war ich vorerst unschlüssig, ob ich darauf tatsächlich antworten mag, da ich bisher von dir noch kein einziges Feedback zu den Kommentaren anderer User finden konnte… und Selbstgespräche sind langweilig…

Interessant, wie du hier, in deinem Text, geisteswissenschaftlichen "Erkenntnissen" einen Sinn verleihst und ihn gleichzeitig verunsinnigst - und irgenwie mag ich das.

Die gewonnenen Erfahrungen innerhalb der Geistes- und Naturwissenschaften können m. E. gesamtgesellschaftlich wie auch beim Individuum (doch, das gibt es) die Lebensqualität durchaus steigern, insofern sie die/den Menschen erreichen, in ihrem Kontext erfasst werden und eine positive Anwendung finden - und das möglichst, ohne sich zu manifestieren, demnach flexibel bleiben.

Erika hat verstanden – nämlich dies, dass die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft (wie bspw. diese "vom Verlust des Ich bei Musil, Nietzsche, Heidegger und Konsorten") große Veränderungen, demnach eine Entwicklung herbeiführen können, dies besonders in den Köpfen der Menschen, es im Grunde genommen ja schon immer unbewusst taten, jedoch im Bewusstsein angekommen, nicht immer lecker schmecken müssen - - - die es m. E. aber wiederum könnten, insofern das Eigentliche dem Uneigentlichen nicht nachsteht und die Illusion nicht nur als Bild wahrgenommen wird, sondern als Teil des Ichs, das im Ganzen nie für sich allein stehen, existieren und somit nicht nur aus sich selbst heraus verstanden werden kann.

[…]die Frage nach dem Lebenssinn, die der Ausgangspunkt für ihre Entdeckung der Ich–Illusion gewesen war, hatte sich ebenso aufgelöst. Denn ihre Voraussetzung verband die Vorstellung von einer Funktion des Ich für den Menschen[…]

Ah ja, und hier assoziiere ich im Widersinnigen zu dem, was als Ganzes verstanden wird (hier wären wir dann bei der Quantenphysik, in der die mehrwertige Logik ein Zuhause findet - sich der Kosmos als etwas/ein Ganzes versteht, da der Quantencode keine Begrenzung hat.) u. a. sofort die Maschinerie, die eine Zivilisation hervorzubringen vermag sowie auch und besonders ganz spezielle Institutionen, Religionen eca... Sie erst teilen dem Ich eine Funktion zu – aus dieser auszubrechen kann schlimmstenfalls ein Todesurteil sein.

Was geschieht, wenn ich das Eigentliche mit dem Uneigentlichen verbinde – (und ist es nicht das, was den Menschen ausmacht?) - komme ich dann bei "Null", bei einem immer wiederkehrenden Anfang in mir, inmitten von Allem, inmitten der Zeit an, die nach Heidegger nichts anderes ist als der Sinn des Seins.?.

[…]Besser als die Befreiung schmeckte ihr diese Einsicht, sie entsprang ihrem Leben direkt und hatte von Anfang an süß geschmeckt

Hier entspringt m. E. der Widerspruch zu dem, was Erika als Erkenntnis zu kennen glaubte, nämlich ihre Einsicht, dass eine besonders große Illusion zu Freude, Stolz und Glück veranlasste. Und wie viele Menschen tragen wohl genau diese "Illusion" mit sich herum? Und - was ist letztendlich wahr? Das, was die meisten zu wissen glauben oder das, was eine Minderheit nicht beweisen kann, da der Wille zu einem neuen Verständnis und geistigem Wachstum bei einem Großteil der Menschheit schlicht nicht vorhanden ist, nicht geweckt werden will.?. Hieße ja schließlich auch, die eigenen "Grenzen" zu überschreiten, veralterte Denkstrukturen abzustreifen, oder? Und - was macht uns letztendlich tatsächlich zu glücklichen und gesunden Menschen im Miteinander.?.

Die "offene Mitte" ist keine Eigenschaft von Aussagen und auch nicht von objektiven Tatsachen. Sie ist die bestmögliche dynamische Beziehung zwischen Mensch und Welt. - Heidegger soll' s formuliert haben.

Ach so…. mal allgemein zu deinem Werk… grins… ja, mir gefällt deine Art des Ausdrucks - erzeugt einen entspannten Lesefluss, aus dem sich eigene Bilder malen. Du hast zudem das Talent, die Dinge in einer doch relativ kurzen Fassung auf den springenden Punkt zu bringen und zu verpacken – heißt, du verstehst es, eine Thematik zu servieren, ohne viel hineinzulegen. Der Leser wird nicht mit Informationen und Bildern überschüttet und hat genügend Spielraum für eigene Gedanken und Interpretationen, insofern es denn die eigenen sind. Hach. Danke!

... Da gibt es übrigens auch noch andere Texte von dir, die mein Interesse weck(t)en.... vll kommen wir ja noch ins Gespräch... Bild

Es grüßt
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Re: N° 15 Ich–Illusion

Beitragvon C.J. Bartolomé » Do 21 Mär, 2013 10:28


Hallo Strukturlos,

vielen Dank für deine Antwort und die Mühe, die du dir gemacht hast, dein Text ist ja fast länger als meiner! Ich finde, dein Kommentar trifft die vom Text angesprochenen Themen und geht weit darüber hinaus, eine Antwort auf deine Gedanken zu formulieren hieße wohl, ein kleines Buch zu schreiben, viele Fragen sind nicht leicht und dann auch nur sehr individuell zu beantworten. Im Prinzip geht es ja darum, wie bei einer einzigen sich auflösenden Vorstellung vom Ich das abendländische Denken und Fühlen gehörig ins Wanken gerät und viele Probleme, aber auch viel Glück sich auflöst.
Gruß!
Bartolomé
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