Bitter schmeckt die Enttäuschung, bitterer nur die herbe Enttäuschung, etwa dann, wenn eine besonders große Illusion zu Freude, Stolz und Glück veranlasste. Im Zuge der Erkenntnis über den Status von Erkenntnissen könnte auch die Entdeckung und Wandlung eines selbsterfahrenen Umstandes zu einem unangenehmen Beigeschmack führen, wenn nicht das Ergebnis bliebe.
Erika war schon alt. Die Erkenntnis vom Verlust des Ich bei Musil, Nietzsche, Heidegger und Konsorten um 1900 hatte sie schon als hübsches Fräulein davon in Kenntnis gesetzt, dass ihre innere Bewegung und Evolution bereits über hundert Jahre alt ist. Auch wenn andere, dümmere Autoren als sie vom narzisstischen Jahrhundert sprachen, die eigentlich neueste geistesgeschichtliche Entwicklung lag für sie in der Befreiung auch von dieser Illusion, der Ich–Illusion. Zwei Effekte knüpfte sie an sie, an die Befreiung. Der erste Effekt bewirkte eine räumliche Veränderung ihres Bewusstseins. Die Konzentration auf einen Punkt im Innern, die Vorstellung eines Zentrums in ihrem Körper entfiel, stattdessen breitete sich ihr Bewusstsein zu einem unendlichen Raum aus, dessen Fülle an Platz alles aufnehmen konnte, in dem eine Stille herrschte, die ihr zu tiefster Entspannung verhalf, in dem die Angst vor dem Tod gar keinen Halt finden konnte, denn nichts ließ sich fixieren, kein archimedischer Punkt stand fest – die Illusion des Zentrums hatte sich in ihr verzogen wie ein kosmischer Nebel.
Der zweite Effekt knüpfte ebenso an der Großräumigkeit an, in der ihre Gedanken an den Tod einfach haltlos umherschwirrten. Durch ihr fehlendes Ich entstand eine beinahe tückische Ruhe vor dem Leben, die Frage nach dem Lebenssinn, die der Ausgangspunkt für ihre Entdeckung der Ich–Illusion gewesen war, hatte sich ebenso aufgelöst. Denn ihre Voraussetzung verband die Vorstellung von einer Funktion des Ich für den Menschen, zu der die Sprache Erika verleitet hatte. Jegliches Organ hatte oder hatte gehabt eine Funktion, sobald aber die Frage auf die Funktion des Ich kam, hatte sich ihr Geist gequält mit allerhand theodizeenen Gedankenkrämpfen. Gesund erschien ihr erst das Bewusstsein ohne Zentrum, die Sinnlosigkeit der Lebenssinnfrage knüpfte an die Entdeckung des illusionären Ich. Und im Aufbau der Dinge lag nunmal das Aufliegen der Todesangst auf dem Lebenssinn. In diesem Fall unterschied sie die ursachenlose Todesangst von der instinktiven, von welcher letzterer sie noch nie gesprochen hatte.
Die Ich–Illusion verschwand für sie mit der Zukunft ihres Ich, das Verlegen aller Entwicklung, Freude und Vollendung auf die zukünftige Zeit hatte ein Ende und alles verflog. Ihr blieb nur der nahe Tod des Körpers, nicht der Individualität; der große Plan des Lebens, dessen Erfüllung der Tod in der Vorstellung durchkreuzen sollte, zerfiel ihr und mit ihm die Angst vor dem Nicht–mehr–Sein. Besser als die Befreiung schmeckte ihr diese Einsicht, sie entsprang ihrem Leben direkt und hatte von Anfang an süß geschmeckt.
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