Brief an die Redaktion der Zeitschrift ‚Zukunft‘
Hallo Ihr. Ich lese die von Euch herausgegebene Zeitschrift total gern. Letztens hattet Ihr so einen Artikel drin, *Frei leben* hieß der, glaube ich. Das war ein Interview mit einem Jungen, der im Sport seine Erfüllung gefunden hat. Ich möchte Euch heute mitteilen, wie und wo ich meine Lebenserfüllung fand. Vielleicht könnt Ihr das auch veröffentlichen, dafür sende ich Euch dann schon mal ein paar Fotos von mir von früher und auch ein paar aktuelle.
Nun also los:
Ich bin jetzt fast 17 Jahre und gehe in einer Großstadt aufs Gymnasium. Allerdings habe ich mich lange dort gar nicht wohl gefühlt. Mit 12 kam ich dorthin, weil mein Vater meinte, das sei besser für mich oder für die Familie. Und er meinte, ich könnte ja nach dem Abitur mal Medizin studieren, weil ich mich offensichtlich so interessiere für den Körper und den Blutfluss im Körper. Oder Kunst, weil die Farbe ‚Rot‘ mir wohl gut gefalle. Das stimmte damals übrigens auch, ich meine, dass ich mich dafür interessiert habe, wie der Körper es schafft, warm zu bleiben, obwohl es draußen kalt ist, und wie das mit dem Blut in den Adern ist. Meine Haare hatte ich damals blutrot gefärbt, auch die Wimpern.
Die Ohrfeigen habe ich in Kauf genommen ... weil ich nämlich mit den Rasierklingen meines Vaters Selbstversuche durchgeführt habe. Längs meiner Adern an linken äußeren und inneren Unterarm habe ich deren Verlauf nachgezeichnet, und das meist vor dem Spiegel, um darin auch zu sehen, wie ich gucke, wenn mir das wehtut. Wie sich mein Gesicht verändert und wie es aussieht, wenn Tränenflüssigkeit aus meinen Augen tritt und ob das den Blick danach klarer erscheinen lässt.
Das war der Anfang. Dann habe ich mit den Rasierklingen kurze Sätze auf meinen Arm geschrieben, zum Beispiel: Ihr seid alle Arschlöcher! – oder – ‚Love wanted, dead or alive‘. In den Narben kann man das noch lesen (an die Redaktion: Ich habe Euch eine Großaufnahme meines linken Armes geschickt).
Naja. Das ist Schnee von gestern, ein Glück! Heute habe endlich das, was ich immer gesucht habe: Anerkennung in einer Gruppe von Freunden, die für mich wie richtige Familie sind. Das verdanke ich einem großen Zufall:
Letzten Herbst, am 28. Oktober, genau gesagt, war ich gerade auf dem Weg zur Schule, auf dem ich immer von der U-Bahn in die S-Bahn umsteigen muss, und als ich im Laufschritt die Treppe runterkam, stand da ein blonder Junge, der sah aus wie ein Engel, naja, außer, dass er Löcher von ehemaligen Piercings durch Oberlippe, Nase und beide Augenbrauen hatte. Das Spinnen-Tattoo am Hals fand ich cool … Er grinste mich an, wedelte mit Flyern und fragte mich, ob ich kurz Zeit hätte. Was soll ich sagen? – Natürlich hatte ich Zeit, mich mit ihm zu unterhalten! Was sollte ich schon im Mathe-Unterricht?
Auf den Flyern waren lauter glücklich lächelnde Menschen abgebildet, alle hatten ein Strahlen in den Augen und schienen nicht von dieser Welt zu sein; also keine angepassten Idioten. Jens erklärte mir, dass wir alle Kinder des himmlischen Zirkels sind und dass das Universum uns liebt und uns auffordert, allen Menschen, denen wir begegnen, auch Liebe zu geben und so den Weltfrieden sicherzustellen. Mir schossen die Tränen in die Augen, so begeistert war ich. Kurz hatte ich die Vorstellung, wie Jens und ich heirateten und lauter glückliche Kinder bekämen …
Das ist mittlerweile auch überholt. Die Gemeinschaft, in der ich bin, sie heißt übrigens bezeichnenderweise ‚Familie‘ bzw. ‚The Family‘ hat mir meine Aufgabe erklärt, zum Beispiel, dass sie ohne Geld auch gar nicht lange existieren und ihre freudige Botschaft verbreiten kann. Die Botschaft der Liebe auf der Welt. Ohne Vorbehalte. Das Drucken von Flyern kostet ja auch Geld … Erst habe ich daraufhin meinen Eltern die Knete aus der Tasche geleiert, wo ich nur konnte. Das war aber nicht ausreichend.
Nun habe ich meinen Weg gefunden, der gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt: Ich gebe jedem, der genug dafür bezahlt, meine Liebe. Körperlich jedenfalls. Das machen alle Mädchen und jungen Frauen in der ‚Familie‘ auf Rat des Bezirks-‚Vaters‘, und unser ist mit uns zufriedener, je mehr wir in der Buchhaltung abgeben können. Er selbst hat uns auch in Sachen ‚Liebe geben‘ geschult. Ob Junge oder Mädchen: Wenn einer von uns in Tränen ausbricht, weil er zu schwach wird, seine Liebe zu geben, dann haben wir immer noch die Möglichkeit, uns in der Hausapotheke der ‚Familie‘ ein paar ‚Drops‘ zu holen, Medis, die uns wieder glücklich machen. Dann kommen wir wieder voll in Ekstase und haben genau den Blick drauf, den ich schon damals auf den Flyern so toll fand.
Ich bin jetzt von zu Hause ausgezogen. Meine Eltern haben ihre Ersparnisse gleich in den ersten paar Monaten für die ‚Familie‘ aufgebraucht. In der Zeit wollten sie mir das alles ausreden und schleiften mich zu einer Psychologin. Eltern stressen einfach nur. Jetzt bin ich durchs Jugendamt im ‚Betreuten Wohnen‘ und muss zusehen, dass nicht auffällt, wie oft ich bei meinen 'Familien-' Freunden bin und wie oft ich meine Liebe gebe.
Jens ist leider nicht mehr da, wir werden also niemals heiraten. Wahrscheinlich müssen alle Engel schnell wieder zurück in den Himmel. Ist wohl so. Schade, dass er durch eine Überdosis Heroin seinen Flug zurück schon Anfang diesen Jahres angetreten hat. Vielleicht hätten wir sonst doch noch den Bund für’s Leben schließen können ...
Ja, ich bin jetzt vom Mädchen schnell zur Frau geworden. Meine Haare lasse ich wachsen und stecke sie hoch, schminke mich gern auffallend und trage am liebsten Miniröcke oder Minikleider und Oberteile mit großem Dekolleté, das erleichtert die Kontaktaufnahme.
Fotos von mir mit neuem Outfit liegen auch bei. Bitte veröffentlicht auch den Link zu meinen Freunden, er steht auf dem Flyer, der auch in diesem Umschlag liegt. Vielleicht finden sich ganz viele Jugendliche, die das Leben zu Hause einfach nur öde finden und sich eine Traumfamilie wünschen. Alle die können gern zu uns kommen. Wir leben für die Liebe.