Geschichten zum Thema Alltag

Einseitige Prosa: Funktionalitätsstörung

Beitragvon atti » Mi 30 Okt, 2013 23:14


Zunächst dachte ich, es liege an mir, es sei ein Defizit meiner Person, meines Charakters, ich dachte, ich sei nicht mehr wie sie oder er oder jenes Kind, ich dachte, mich trenne eine Kluft vom Rest der Menschheit, die unüberbrückbar sei, kurz: Ich dachte, ich sei deformiert. Tatsächlich reicht das Ganze aber sehr viel tiefer, als ich jemals für möglich gehalten hätte. Die gesamte Gesellschaft, wissen Sie, ist involviert und nicht einmal Zivilisationsflucht kommt als Lösung mehr in Frage
Ich meine, wer kennt das nicht? Dieses Nichtmehrkönnen? Diese langen Abende auf dem Sofa vor dem Fernseher mit leerem Kopf und schon vor der ersten Flasche glasigen Augen, die gar nicht recht wahrnehmen, in welchem Land wem welche Körperteile bei einem Anschlag/Krieg/Kollateralschaden abhanden gekommen waren. Und diese Morgen, an denen man sich mühsam aus dem Bett erhebt und keine neue Kraft spürt, fast wieder zurück stolpert, sich dann aber doch unrasiert im Spiegel betrachtet und sich damit tröstet, dass man am Abend ja wieder seine Zähne putzen wird. Wer kennt es nicht? Dieses Gefühl, nicht mehr zu funktionieren?
Aber das ist es nicht, wissen Sie? Das ist es nicht. Darum geht es nicht. Die Krux liegt woanders. Und sie bricht mir das Rückgrat.
Ich habe nämlich bemerkt, dass dieser Zustand, in dem ich mich befand, überaus funktional war. Er erhielt sich selbst. Er ernährte sich von mir und erhielt sich selbst. Und gegen diese Funktionalität können Sie nichts sagen, dagegen kommen Sie nicht an, nicht in dieser Welt, wissen Sie? Funktionalität ist die eigentliche Religion, ist der Äther, der uns umgibt. Funktionalität hebt uns auf, ohne dass man sich notwendig auch aufgehoben fühlen muss. Aber man kann diese Einsicht schließlich gewinnen, so es denn einem Zweck dienlich ist.
Nun könnten Sie einwenden, dass man sich nur zurück zur Natur begeben müsse, um die Muße wiederzuentdecken oder das Denken zu verlernen, aber ich bin mir sicher, Sie haben es in diesem Moment schon bemerkt: Das rettet Sie mitnichten! Wobei von Rettung zu sprechen hier schon eine Lesart festlegt, die ich gar nicht festgelegt wissen möchte. Denn es ist ja auch eine Art postmoderner Freibrief, ein Diskursraum, in dem sich immer neue Türen und Fenster, Portale und Luken, Falltüren und Aufgänge, Tore und Löcher finden lassen. Schöne neue Welt? Wenn Sie es so wollen …
Ich jedenfalls richte mich hier gerade ein mit dem sprachlichen Gelsenkirchener Barock der neuen Zeit und dem anderen Rüstzeug, das man so braucht, um seine täglichen Existenzformen und Taten nur schön artig begründen zu können. Denn so werden Sie vorankommen, garantiert. Und nun glauben Sie mir. Und sobald Sie bemerkt haben, warum, werde ich Sie nicht mehr so ansehen. Dann gehören Sie dazu und meine Augen werden nicht mehr über Ihre Irrungen zu spotten wissen, es sei denn … Sie ahnen es.
Das Rückgrat? Als ich es brauchte. Voran? Eine Richtung eben.
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Re: Einseitige Prosa: Funktionalitätsstörung

Beitragvon knistern » Do 31 Okt, 2013 00:17


Um Alexander Kluge zu verballhornen:

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Re: Einseitige Prosa: Funktionalitätsstörung

Beitragvon atti » Do 21 Nov, 2013 19:18


O du lieber Augustin, Augustin, Augustin,
O du lieber Augustin, alles ist hin.
i wrote a poem on a dog biscuit
and your dog refused to look at it
(galaxie 500: fourth of july)
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