In der Notaufnahme herrschte eine friedliche Atmosphäre. Die Rettungssanitäter kauten Pizza, die Wartenden übten sich am Snack-Automaten oder schauten mit entspannten Gesichtern ihrer Behandlung entgegen. Ein Arzt mit auffällig feinen Gesichtszügen rief plötzlich verärgert: "Wo sind jetzt Ihre Sehstörungen?". Ihm stand ein magerer Herr gegenüber, dessen Hinterkopf verletzt war. Er sah verzweifelt und beschämt aus. Seine Stimme war so leise, dass ich ihn nicht verstehen konnte. Der Arzt rief laut und deutlich: "Das ist ein Krankenhaus. Hier dürfen sie nur hinkommen, wenn sie behandelt werden müssen. Ich habe noch viele andere Patienten". Mit gerötetem Kopf schaute der junge Arzt den Wartenden entgegen. Ganz vorne saß ich. Der magere Herr musste um die 60 sein und wurde dazu angewiesen vier Stunden zu warten. Nach drei Stunden kam der Arzt wieder ins Wartezimmer und sagte zu dem alten Herrn:
"Ich suche ein Zimmer für Sie raus, dann können Sie hier schlafen". Ich erhob meinen Kopf nicht, da das Urteil des Arztes mich demütig stimmte. Obwohl der gänzlich ausgelastete Arzt hier eine zusätzliche Arbeit aufnahm, zu der er nicht verpflichtet war, war nicht die Spur eines Widerwillens in seinen Worten zu finden. Die Rezeptionisten und Pfleger hatten plötzlich besonders gute Laune und auch die Menschen im Warteraum waren regelrecht glücklich gestimmt. Als der Arzt das Zimmer verließ, sah ich seine vor Entkräftung geröteten Augen. Ich konnte mich nicht dessen erwehren, wütend zu werden. Eigentlich hätte ich mir das humane Verhalten des jungen Arztes zum Vorbild nehmen sollen, stattdessen fand ich als ewiger Kritiker den Anlass für ein diffuses, negatives Urteil.