Endstation
Verfasst: Fr 03 Jul, 2009 16:49
I
Nach mehreren Wochen besuchte ihn sein Sohn eines Abends. Er war über den Besuch überrascht, hatte Georg längere Zeit nicht gesehen.
„Hallo, Papa, wie geht’s?“, fragte er.
„Na ja“, sagte er.
„Ich konnte nicht früher kommen, musste länger arbeiten. Wie gefällt es dir denn hier, hast du dich langsam eingewöhnt?“
„Eingewöhnt? Seit zwei Monaten bin ich nun schon hier. Alles ist hier geregelt, alles festgelegt, die Zeit zum Aufstehen, die Zeit zum Waschen, die Zeit, um aufs Klo zu gehen, die Zeit zum Essen und zum Schlafen, wenn man denn schlafen kann. Ab 21.00 Uhr wird das Licht ausgemacht.“
Georg sah seinen Vater an, viel älter war er geworden, saß da vor ihm und schaute ihn nicht an. Immer wieder nahm er seine Brille ab und setzte sie dann gleich wieder auf.
„Aber hier bist du doch gut aufgehoben, hast ein schönes Zimmer, ein Doppelzimmer, kannst dich unterhalten und musst nicht selbst kochen.“
„Ja, ich bin sehr gut hier aufgehoben, du hast ja keine Ahnung! Unterhalten kann ich mich mit niemandem.“
Er schaute seinen Sohn an.
„Beim Mittagessen sitze ich mit anderen zusammen am Tisch. Mir gegenüber sitzt Frau Wotleb, sie kann alleine essen. Ihre Gesichtszüge sind verzerrt, sie schreit manchmal. Neben mir sitzt Frau Stubinski, sie muss meistens gefüttert werden, spuckt ab und zu das Essen wieder aus. Auf der anderen Seite, Herr Gutmann, er murmelt ununterbrochen vor sich hin, man versteht aber kein Wort.
Etwas abseits vom Tisch sitzt Frau Koch in einem Rollstuhl, sie isst nicht, lässt sich auch nicht füttern, spricht kein Wort. Sie schaut aus dem Fenster und schüttelt öfter den Kopf.“
„Das verstehe ich nicht ganz, du wohnst doch hier wie in einem Hotel. Du bist nicht alleine und wirst gut betreut. So schön hättest du es bei uns nicht. Ich arbeite den ganzen Tag, komme spät heim, bin auch oft tagelang unterwegs, Geschäftsreisen. Meine Frau muss die Kinder versorgen, hat dann noch ihren Fitness- Kurs, hat also auch wenig Zeit, sich um dich zu kümmern.“
„Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Willst du nicht verstehen, was hier abgeht? Hier hat keiner Zeit. Einmal hat mir eine Pflegerin einen Rollstuhl gebracht, ich könnte mich dann schneller bewegen, meinte sie. Warum schneller, fragte ich sie, ich habe doch Zeit. Sie aber nicht, hat sie gesagt.
Einige Patienten tragen Windeln, sie brauchen nicht mehr zur Toilette gebracht werden. Menschen, die noch alleine laufen können, sind später nicht mehr dazu in der Lage, man hat sie im Bett gelassen. Es ist zu wenig Personal da, um sie anzuziehen und mit ihnen herumzugehen.
Aggressive Heimbewohner werden mit Medikamenten „ruhig gestellt“. Auf den Gängen sitzen alte Menschen im Rollstuhl, werden morgens dahin geschoben und starren die Wand an.
Irgendwann habe ich einmal einen Mann gesehen, er saß im Rollstuhl, seine Hose war herunter gelassen, durchnässt, sein Gebiss lag auf der Sessellehne.“
„Übertreibst du da nicht ein bisschen?“
„Ab und zu kommt eine Beschäftigungstherapeutin. Da werden Heimbewohner zu sinnlosen Arbeiten angehalten. Sie nehmen nur teil, um nicht ganz so einsam zu sein
Die Menschen versuchen mit allen Mitteln, auf sich aufmerksam zu machen, ein bisschen Zuwendung zu erhalten und aus ihrer Einsamkeit herauszukommen. Sie jammern laut, schimpfen oder schreien, beschmieren Wände mit ihren Exkrementen. Nicht selten rufen sie: „Schwester, helfen Sie mir, ich kann nicht mehr, ich möchte sterben.“
Immer lauter hatte er geredet, zuletzt fast geschrieen. Seine Hände zitterten. Er schluckte, strich sich über die Augen und schaute seinen Sohn lange an, so als wenn er ihn nie vorher gesehen hätte.
„Ich will schauen, was ich da machen kann“, sagte Georg, „vielleicht könntest du in ein paar Wochen bei uns wohnen.“
Georg machte seine Aktentasche auf.
„Hier habe ich einige Papiere dabei, die müsstest du unterschreiben.“
„Um was handelt es sich?“
„Wir haben gedacht, dass du ja nun zunächst in diesem Heim bleiben wirst. Das Haus könnten wir dann verkaufen, das steht nur rum. Es müsste auch renoviert werden. Ich könnte einen guten Preis dafür erzielen, die Gelegenheit ist gerade günstig. Da sollte man auch nicht zu lange warten, die Preise für Immobilien könnten wieder sinken.“
Sein Sohn hatte immer schneller gesprochen, seine Hände geknetet, war aufgestanden und hatte sich wieder hingesetzt. Fast sah es so aus, als ob er sich selber mit seinen Argumenten überzeugen wollte. Nicht ein einziges Mal hatte er ihn angeschaut.
Das Haus verkaufen, dachte er, das Haus in dem er und seine Frau so viele Jahre gewohnt hatten, das sie beide geplant und eingerichtet hatten. Das Haus, in dem seine Kinder aufgewachsen waren.
Er hatte immer gehofft, eines Tages wieder zurückkehren zu können. In seinem Haus wollte er seine Lebenszeit beenden, sein Sohn würde ihm dabei helfen; so hatte er sich das vorgestellt.
„Ja, du hast schon Recht“, sagte er dann leise.
Er nahm den Kugelschreiber und unterschrieb den Verkauf.
„Ich bin heute ziemlich müde, werde mich gleich hinlegen.“
Er starrte auf den Tisch, vermied es, Georg anzusehen.
„Ja, ich muss auch gleich wieder los, muss noch einmal ins Geschäft.“
Sein Sohn konnte wohl nicht schnell genug wegkommen, dachte er. Er schaute ihm hinterher, als er hinausging. Georg drehte sich nicht noch ein Mal um.
Neu beginnen müsste man können, aber das kann man nur an dem Punkt, an dem man gerade jetzt eben ist, dachte er. Neu zu beginnen, hieß weitermachen für ihn. Sein Sohn würde ihn nie hier herausholen.
II
Es war soweit, er würde gehen. Sein Zimmernachbar schlief und schnarchte. Er schlief jetzt fast immer, auch am Tag, belästigte das Personal nicht. Die Klingel hatten sie ihm abgebaut.
Der Mond schien ins Zimmer.
Er richtete sich im Bett auf und rutschte heraus. Nun stand er neben dem Bett, hielt sich am Nachttisch fest.
Kleine Schritte zum Schrank. Er holte Unterhose, ein Hemd und eine Hose raus. Socken brauchte er nicht. Er konnte sie sich nicht alleine anziehen.
Er bewegte sich mühsam zum Bett zurück, stützte sich ab und zog sich an. Alles ging sehr langsam, immer wieder musste er sich ausruhen.
Die Schuhe standen neben dem Bett, er schlüpfte hinein, sie zuzubinden versuchte er erst gar nicht.
Es regnete leicht, nieselte, die Tropfen rannen an der Fensterscheibe herunter wie Tränen.
Der Vogel, der oft vor dem Fenster gesessen hatte, war nicht da, schaute ihn nicht an, niemand schaute ihn an. Er war allein.
Auf den Stuhl vor dem Fenster stieg er mühsam und hielt sich an der Lehne fest.
Es gelang ihm, ein Knie auf den Stuhl zu bringen. Er musste erst eine Pause machen, brachte dann auch das zweite Knie hoch.
Er schwitzte, etwas schwindlig war ihm. Alle restlichen Kräfte nahm er zusammen und zog sich an der Lehne hoch. Dann stand er schwankend auf dem Stuhl und öffnete das Fenster, Regen lief über sein Gesicht.
Alles ging plötzlich so leicht.
Nach mehreren Wochen besuchte ihn sein Sohn eines Abends. Er war über den Besuch überrascht, hatte Georg längere Zeit nicht gesehen.
„Hallo, Papa, wie geht’s?“, fragte er.
„Na ja“, sagte er.
„Ich konnte nicht früher kommen, musste länger arbeiten. Wie gefällt es dir denn hier, hast du dich langsam eingewöhnt?“
„Eingewöhnt? Seit zwei Monaten bin ich nun schon hier. Alles ist hier geregelt, alles festgelegt, die Zeit zum Aufstehen, die Zeit zum Waschen, die Zeit, um aufs Klo zu gehen, die Zeit zum Essen und zum Schlafen, wenn man denn schlafen kann. Ab 21.00 Uhr wird das Licht ausgemacht.“
Georg sah seinen Vater an, viel älter war er geworden, saß da vor ihm und schaute ihn nicht an. Immer wieder nahm er seine Brille ab und setzte sie dann gleich wieder auf.
„Aber hier bist du doch gut aufgehoben, hast ein schönes Zimmer, ein Doppelzimmer, kannst dich unterhalten und musst nicht selbst kochen.“
„Ja, ich bin sehr gut hier aufgehoben, du hast ja keine Ahnung! Unterhalten kann ich mich mit niemandem.“
Er schaute seinen Sohn an.
„Beim Mittagessen sitze ich mit anderen zusammen am Tisch. Mir gegenüber sitzt Frau Wotleb, sie kann alleine essen. Ihre Gesichtszüge sind verzerrt, sie schreit manchmal. Neben mir sitzt Frau Stubinski, sie muss meistens gefüttert werden, spuckt ab und zu das Essen wieder aus. Auf der anderen Seite, Herr Gutmann, er murmelt ununterbrochen vor sich hin, man versteht aber kein Wort.
Etwas abseits vom Tisch sitzt Frau Koch in einem Rollstuhl, sie isst nicht, lässt sich auch nicht füttern, spricht kein Wort. Sie schaut aus dem Fenster und schüttelt öfter den Kopf.“
„Das verstehe ich nicht ganz, du wohnst doch hier wie in einem Hotel. Du bist nicht alleine und wirst gut betreut. So schön hättest du es bei uns nicht. Ich arbeite den ganzen Tag, komme spät heim, bin auch oft tagelang unterwegs, Geschäftsreisen. Meine Frau muss die Kinder versorgen, hat dann noch ihren Fitness- Kurs, hat also auch wenig Zeit, sich um dich zu kümmern.“
„Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Willst du nicht verstehen, was hier abgeht? Hier hat keiner Zeit. Einmal hat mir eine Pflegerin einen Rollstuhl gebracht, ich könnte mich dann schneller bewegen, meinte sie. Warum schneller, fragte ich sie, ich habe doch Zeit. Sie aber nicht, hat sie gesagt.
Einige Patienten tragen Windeln, sie brauchen nicht mehr zur Toilette gebracht werden. Menschen, die noch alleine laufen können, sind später nicht mehr dazu in der Lage, man hat sie im Bett gelassen. Es ist zu wenig Personal da, um sie anzuziehen und mit ihnen herumzugehen.
Aggressive Heimbewohner werden mit Medikamenten „ruhig gestellt“. Auf den Gängen sitzen alte Menschen im Rollstuhl, werden morgens dahin geschoben und starren die Wand an.
Irgendwann habe ich einmal einen Mann gesehen, er saß im Rollstuhl, seine Hose war herunter gelassen, durchnässt, sein Gebiss lag auf der Sessellehne.“
„Übertreibst du da nicht ein bisschen?“
„Ab und zu kommt eine Beschäftigungstherapeutin. Da werden Heimbewohner zu sinnlosen Arbeiten angehalten. Sie nehmen nur teil, um nicht ganz so einsam zu sein
Die Menschen versuchen mit allen Mitteln, auf sich aufmerksam zu machen, ein bisschen Zuwendung zu erhalten und aus ihrer Einsamkeit herauszukommen. Sie jammern laut, schimpfen oder schreien, beschmieren Wände mit ihren Exkrementen. Nicht selten rufen sie: „Schwester, helfen Sie mir, ich kann nicht mehr, ich möchte sterben.“
Immer lauter hatte er geredet, zuletzt fast geschrieen. Seine Hände zitterten. Er schluckte, strich sich über die Augen und schaute seinen Sohn lange an, so als wenn er ihn nie vorher gesehen hätte.
„Ich will schauen, was ich da machen kann“, sagte Georg, „vielleicht könntest du in ein paar Wochen bei uns wohnen.“
Georg machte seine Aktentasche auf.
„Hier habe ich einige Papiere dabei, die müsstest du unterschreiben.“
„Um was handelt es sich?“
„Wir haben gedacht, dass du ja nun zunächst in diesem Heim bleiben wirst. Das Haus könnten wir dann verkaufen, das steht nur rum. Es müsste auch renoviert werden. Ich könnte einen guten Preis dafür erzielen, die Gelegenheit ist gerade günstig. Da sollte man auch nicht zu lange warten, die Preise für Immobilien könnten wieder sinken.“
Sein Sohn hatte immer schneller gesprochen, seine Hände geknetet, war aufgestanden und hatte sich wieder hingesetzt. Fast sah es so aus, als ob er sich selber mit seinen Argumenten überzeugen wollte. Nicht ein einziges Mal hatte er ihn angeschaut.
Das Haus verkaufen, dachte er, das Haus in dem er und seine Frau so viele Jahre gewohnt hatten, das sie beide geplant und eingerichtet hatten. Das Haus, in dem seine Kinder aufgewachsen waren.
Er hatte immer gehofft, eines Tages wieder zurückkehren zu können. In seinem Haus wollte er seine Lebenszeit beenden, sein Sohn würde ihm dabei helfen; so hatte er sich das vorgestellt.
„Ja, du hast schon Recht“, sagte er dann leise.
Er nahm den Kugelschreiber und unterschrieb den Verkauf.
„Ich bin heute ziemlich müde, werde mich gleich hinlegen.“
Er starrte auf den Tisch, vermied es, Georg anzusehen.
„Ja, ich muss auch gleich wieder los, muss noch einmal ins Geschäft.“
Sein Sohn konnte wohl nicht schnell genug wegkommen, dachte er. Er schaute ihm hinterher, als er hinausging. Georg drehte sich nicht noch ein Mal um.
Neu beginnen müsste man können, aber das kann man nur an dem Punkt, an dem man gerade jetzt eben ist, dachte er. Neu zu beginnen, hieß weitermachen für ihn. Sein Sohn würde ihn nie hier herausholen.
II
Es war soweit, er würde gehen. Sein Zimmernachbar schlief und schnarchte. Er schlief jetzt fast immer, auch am Tag, belästigte das Personal nicht. Die Klingel hatten sie ihm abgebaut.
Der Mond schien ins Zimmer.
Er richtete sich im Bett auf und rutschte heraus. Nun stand er neben dem Bett, hielt sich am Nachttisch fest.
Kleine Schritte zum Schrank. Er holte Unterhose, ein Hemd und eine Hose raus. Socken brauchte er nicht. Er konnte sie sich nicht alleine anziehen.
Er bewegte sich mühsam zum Bett zurück, stützte sich ab und zog sich an. Alles ging sehr langsam, immer wieder musste er sich ausruhen.
Die Schuhe standen neben dem Bett, er schlüpfte hinein, sie zuzubinden versuchte er erst gar nicht.
Es regnete leicht, nieselte, die Tropfen rannen an der Fensterscheibe herunter wie Tränen.
Der Vogel, der oft vor dem Fenster gesessen hatte, war nicht da, schaute ihn nicht an, niemand schaute ihn an. Er war allein.
Auf den Stuhl vor dem Fenster stieg er mühsam und hielt sich an der Lehne fest.
Es gelang ihm, ein Knie auf den Stuhl zu bringen. Er musste erst eine Pause machen, brachte dann auch das zweite Knie hoch.
Er schwitzte, etwas schwindlig war ihm. Alle restlichen Kräfte nahm er zusammen und zog sich an der Lehne hoch. Dann stand er schwankend auf dem Stuhl und öffnete das Fenster, Regen lief über sein Gesicht.
Alles ging plötzlich so leicht.