Geschichten zum Thema Alltag

Endstation

Beitragvon Neruda » Do 18 Sep, 2008 17:40


Es ist 23:46. Mit zitternden Fingern versuche ich die letzten Krümel Tabak zusammen zu kratzen und eine Kippe daraus zu drehen. Das blendende Licht des Bahnabteils und die zwei leeren Flaschen Rotwein helfen dabei nicht. Ich habe es so oft versucht, so oft. Und trotzdem sitze ich wieder hier: letzter Zug, letzter Wagon, letzte Bank. "You may change your mind", dringt aus dem billigen 5-Euro Walkman. "Weißt du noch als wir durch Weißdornhecken gesprungen sind, gemeinsam?", würde ich gerne fragen, aber du hörst mir schon lange nicht mehr zu. Damals haben wir unsere Wunden gegenseitig geleckt und dein Blut war so begehrenswert. Sag mir, warum es jetzt so bitter schmeckt. So wie der Kaffee, den du mir jeden Morgen gekocht hast. Viel zu stark natürlich, du hast ja nie welchen getrunken. Du wusstest es nicht besser. Und jetzt? Weißt du es in dieser Situation besser als ich? Oder bist auch du nur ein Schatten deiner selbst? Draußen zieht die dunkle Stadt an mir vorbei. Nur ein paar verschwommene Lichter sind zu erkennen. Gehört eins davon zu dir oder hast du dich schon ins Bett gelegt, das Licht ausgemacht und bist einfach eingeschlafen? Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, was passiert ist? Vermutlich. Endlich habe ich es geschafft meine Zigarette fertig zu drehen. Ich konnte es schonmal besser. Gleich, wenn ich angekommen bin, werde ich mich auf die Parkbank am See setzen , rauchen und den Tag veratmen. Der Mond wird unsere Bilder auf das Wasser zaubern, so als wären sie noch einmal echt. Als ständen wir hier wirklich wieder gemeinsam, Hand in Hand, und würden den Dornfelder noch zusammen trinken. Jetzt, wo ich ihn alleine in mich hinein schütte, hinterlässt er nicht mehr diesen samtigen Nachgeschmack. Ja, es gab einmal bessere Zeiten.

Es ist 23:58. "Endstation."
Und wohin jetzt?
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Re: Endstation

Beitragvon i.z. » So 21 Sep, 2008 11:26


Das ist beklemmend. Die Stimmung legt einem beim Lesen einen Draht um den Hals; spätestens bei "Du wusstest es nicht besser" gerät man in Atemnot und kaum erreicht man "so als wären sie noch einmal echt", verliert man allmählig das Bewusstsein. Es ist keine Resignation, eher eine erkennende Verzweiflung, und obgleich es den Erzähler nicht zerreißt, spürt man doch, wie zerrissen er/sie ist.

Dir gelingt es durch die Einrahmung des Textes in eine genaue Anfangs- und Endzeit einen zeitlichen Horizont vorzugeben, durch den nicht nur die Dauer, sondern auch - durch eben diese - suggeriert wird, dass die Erkenntnisse keineswegs auf den Erzähler herniederrieseln, sondern dass es sich um einen Kampf handelt; um einen Kampf, der längst entschieden scheint. Es sind kaum noch mehr als eine Hand voll Guerilla, manifestiert durch Erinnerungen, die es für die Selbstaufgabe noch auszulöschen gilt.
Ein zweiter zeitlicher Rahmen erstreckt sich über das Drehen der Zigarette - die einzige erkennbare Beschäftigung des Erzählers. Dass diese Handlung auf "Ich konnte es schonmal besser" endet, spricht Bände.

Du erzählst hier eine Geschichte, allein durch die Auseinandersetzung mit selbiger. Weder Gründe noch Schuldigkeiten sind relevant, das wird - ich möchte meinen ausschließlich - dadurch klar. Es liegt keine Wut im Erzählfluss und es scheint, als sei die Zeit der Wut lange vorbei. Nur Traurigkeit ist, was bleibt, und so ist die Quintessenz der heimliche letzte Satz: "Ja, es gab einmal bessere Zeiten."
Es wäre nur allzu barmherzig gewesen, die Geschichte hier enden zu lassen. Und da eben das nicht geschieht, wirken die letzten beiden Zeilen - die einzigen, welche vom Rest des Textes per Absatz getrennt stehen - am erdrückendsten. Es ist die Erkenntnis, dass der Zug nicht die Güte hat, ewig weiterzufahren, womit das Leben nicht würde weitergehen müssen. Doch eben das tut es und zeigt damit auf, dass "Und wohin jetzt?" keineswegs im Widerspruch zum Plan, sich auf die Parkbank am See zu setzen, steht, sondern viel weitgreifender, viel allgemeiner, viel essenzieller gemeint ist.

"Ja, es gab einmal bessere Zeiten" ist gleichfalls auch die Erkenntnis, dass uns nur das Verlorene besonders erscheinen kann. Nur der Kontrast lässt uns Farben erkennen, nur das Leid lässt uns Glück begreifen.
Es ist eine Kurzgeschichte, die mit einfachsten Mitteln emotionale Tiefe erzeugt. Was du schreibst ist nicht nur glaubhaft, es ist echt. Es erscheint mir so viel wirklicher noch als der Baum vor meinem Fenster.


_____
Einziger Kritikpunkt - und den schreibe ich soweit abseits, weil er nichts, aber auch gar nichts mit meiner oben stehenden Einschätzung zu schaffen hat - ist das Wort "begehrenswert". Es passt hier nicht rein, es passt nicht in die Sprache des Erzählers. Versuche etwas einfacheres zu finden - das ist mein einziger Verbesserungsvorschlag. Etwas wie "...tat so gut" oder "...war so belebend". Etwas eben, das das gleiche ausdrückt, aber ohne mit der Sprachebene des restlichen Textes zu brechen.

Grüße,
i.z.
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Re: Endstation

Beitragvon Neruda » So 21 Sep, 2008 15:35


Hey i.z.,

ich freue mich wirklich, dass dich die Geschichte so berührt hat. Es ist übrigens die erste Kurzgeschichte, die ich jemals geschrieben habe und sie ist schon etwas älter, aber ich mag sie nach wie vor sehr gerne, weil sie mir aus der Seele spricht.
Du hast die Atmosphäre die ich rüberbringen wollte sehr gut erfasst und wirklich sehr gut nachgefühlt, was ich mir dabei gedacht habe, bestimmte Dinge zu schreiben.
Vielen Dank für deinen Kommentar.

Lg, Kim
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Re: Endstation

Beitragvon apnoe » Fr 03 Okt, 2008 16:40


liebe neruda, ich habe deine geschichte gerade erst gefunden. sie zieht mich mit ihrer stimmung in bann. ich mag das unausgesprochen traurige. das ungesagte, das nachhallt.
alles kann ich daran mitfühlen. und wissen auch.

der letzte satz ist mir allerdings zu profan für dieses sensible gefühl. vieleicht magst du ihn kürzen oder streichen?
er klingt mir wie der letzte satz eines braven schulaufsatzes:... als der wecker läutete, wusste ich, dass ich alles nur geträumt hatte.
das finde ich richtig schade.
lieben gruß
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Re: Endstation

Beitragvon Neruda » Fr 03 Okt, 2008 16:44


Liebe apnoe,

mh, ja mag sein, so habe ich das noch gar nicht gelesen. Und wenn ich einfach nur schreibe: "Es ist 23:58. "Endstation, bitte aussteigen!". Und wohin jetzt?" ?
Wäre das besser?

Ansonsten vielen Dank fürs gefallen.

Lg, Kim
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Re: Endstation

Beitragvon apnoe » Fr 03 Okt, 2008 16:48


ich würde überhaupt nur

Es ist 23:58. "Endstation".
Und wohin jetzt?

schreiben. das lässt nochmal eine bedeutung mehr einfließen.
lg
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Re: Endstation

Beitragvon Neruda » Fr 03 Okt, 2008 17:05


Okay, gut. Dann werde ich das ändern.
Danke :)
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Re: Endstation

Beitragvon Sjel » Mi 21 Jan, 2009 19:26


Ein Text mit einer sparsam gehalteten Handlung, jedoch mit vielen Bildern, die eine bestimmte Stimmung erzeugen sollen. Zuerst einmal der Lob: Die Bilder sind feinfühlig und präzise ausgesucht, der Ton und die Wortwahl sehr romantisch (letzter Zug, Wein, Mond...)

Ich nehme die Stimmung wahr, doch sie berührt mich ehrlich gesagt wenig. Die Gefühle des Erzählers sind unsubtil und offensichtlich präsentiert. Als Leser habe ich nicht die Möglichkteit, sich selbst in das Herz des Erzählers reinzufühlen, weil alle seine Wunden offen gelegt sind.

Es ist natürlich immer eine Frage des persönlichen Geschmacks, jedoch bevorzuge ich Texte, die Gefühle und Leiden unterschwelliger, mehr durch die Handlungen als durch einen inneren Monolog des Erzählers verdeutlichen.

Zur Form: Ich meine, es wäre sinnvoll gewesen den inneren Monolog und die Ramenhandlung durch Absätze zu trennen.

LG, Sjel.
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