Geschichten zum Thema Alltag

Mein 68 begann 69

Beitragvon Ruelfig » Mo 09 Feb, 2009 22:24


Keine Erinnerung mehr, ob der Frühling von 69 warm war oder kalt, wir waren Pubertierende mit der Lizenz zur Revolte. Die Autoritäten lieferten uns Rückzugsgefechte und wir waren mitten drin, verbotenerweise auf Demos. Wie verehrten wir die echten Langhaarigen, unsere Seitenscheitel kamen nur bis zum Kragen, wir kämpften um jeden Zentimeter. Dann traf ich Ute und wir gingen nachmittags zu Diskussionen, irgendwas mit Wilhelm Reich, ich verstand nur eins. Sex. Aber mit ihr gab es nur Petting, im Park unter einer Weide am See die Fingerkuppen wund gescheuert. An die Pille war nicht zu gelangen, ein Freund, dessen Eltern eine Apotheke betrieben, versprach zu helfen. Ihn trat ein Polizeipferd in den Bauch, ich glaube, es war auf einer Demo gegen die neue Oper in Düsseldorf, er fiel wochenlang aus, erst Krankenhaus, dann Hausarrest. Wir fummelten inzwischen im Republikanischen Zentrum, sehr zum Missfallen der DKPisten hatten wir den Keller besetzt, eine Gruppe von vielleicht zwanzig Schülern, die meisten im AUSS (Aktionsbündnis unabhängiger sozialistischer Schüler oder so, was weiß ich noch), mit den Hauptinteressen Sex, Haschisch und LSD am Wochenende. Ich war gerade vom Gymnasium geflogen, auf einer Realschule gelandet, die kurz vor dem Zerfall stand. Klassenräte statt Klassensprechern, keine Hausaufgaben mehr, stundenlange Streitgespräche und die eine Hälfte der Klasse soff, die andere kiffte. Im Keller versuchten wir, wie Blue Cheer zu klingen und kaum einer schrieb noch nüchtern seine Klassenarbeiten. Wir kämpften für die Abschaffung der Noten, vergeblich natürlich. Zur Freude des einzigen Strebers in der Klasse, Lämmchen genannt. Ein Musterbeispiel an Wohlverhalten, bis ihm ein Idiot zwei Asthmazigaretten zu essen gab, seine Eltern holten ihn nachts vom Laternenpfahl. Noch wochenlang soll er behauptet haben, ein Fisch in einem auslaufenden Aquarium zu sein. Fünf von uns, der Klassenrat, mussten die Schule verlassen, jetzt wurde es schwer. Meine Eltern, die sich eigentlich aus der Erziehung zurückgezogen hatten, wurden wieder aktiv und ich musste Besserung geloben, so dass mich gerade noch die Realschule mit dem schlechtesten Ruf aufnahm.
Inzwischen fummelten Ute und ich uns durch den Pflaumenbaum in ihrem elterlichen Garten, durch die Keller und die Parks unserer Stadt.
Die essener Songtage 69
Es wurde Herbst und wir alle wurden des Republikanischen Zentrums verwiesen, weil einige Idioten versucht hatten, dort im Keller Molotowcocktails herzustellen und zu lagern. Ab da trafen wir uns auf einer Empore an der Kunsthalle, von wo wir den Bürgern auf die Köpfe sehen konnten und zu einem großen Ärgernis heranwuchsen. Im Winter fuhr meine Flamme mit ihren Eltern in den Skiurlaub und lernte dort einen Skilehrer kennen. Nach ihrer Rückkehr entdeckten wir, dass das Konzept der freien Liebe nicht so einfach zu verwirklichen ist und verfluchten gemeinsam die Reste bürgerlichen Bewusstseins in unseren Köpfen. Ich weiß nicht mehr, wann wir uns trennten, aber im Frühjahr war ich wieder solo und wandte mich den Mädchen in unserer Kunsthallenclique zu. Mit ein wenig Gitarrespiel und Getrommel konnte man da punkten, kam aber auch nicht weiter in Bezug auf geschlechtliche Erfahrungen.
Mein Freund Siggi hatte inzwischen begonnen, zu dealen und war von seiner Mutter, die ihn erwischt hatte, in eine Anstalt verbracht worden, aus der er aber kurze Zeit später entlassen wurde. Er wohnte jetzt in einer Wohngemeinschaft in einem Abbruchhaus und war ein echter Star, immer genug zu rauchen und zur Schule ging er auch nicht mehr. Im Frühjahr 1970 gab es dann plötzlich kein Haschisch mehr, aber Morphium und Heroin genug. Im festen Glauben an unsere Unbesiegbarkeit probierten wir alles aus, nur meine Angst vor Spritzen hat mich gerettet. Bei den anderen drehte sich sehr schnell alles nur noch um die Beschaffung und den Konsum von Schore, Politik und Musik verloren an Anziehungskraft. Selbst zum Joint Meeting Festival zu Pfingsten in der Eishalle in Düsseldorf ging ich alleine, die anderen hatten das Geld nicht mehr übrig. Die einzige Erinnerung, die ich noch habe aus dem Nebel dieser Tage ist die an Ginger Baker's Airforce, was ein Getrommel. Unsere Clique war zerfallen, die Mädchen hingen nur noch mit den Jungs von Kraftwerk ab, die Jungs waren auf Schore oder hatten angefangen, zu saufen. Die Politfreaks hatten sich inzwischen in zahllose Untergruppen aufgesplittet, die alle unakzeptabel schienen. Bis auf die kleine Fraktion der Yippies, die wenigstens etwas Spaß verstand. Allerdings kam es nie zu echten Aktionen, für das Verbrennen von Geld vor der Börse fehlte uns ebendieses, so dass wir uns damit begnügten, Abbie Hoffmans "Steal this book" zu klauen und zu diskutieren. Oh, dieses endlose Gerede, bei dem es immer direkt um die Weltrevolution ging, darunter war nichts mehr zu haben. Die Gruppe zerfiel über den Streit darum, wie viele Menschen für einen erfolgreichen, echten Umsturz zu töten seien. Mit meiner Meinung, dass schon der erste einer zu viel wäre, stand ich alleine und so verbrachte ich einen langen, einsamen Winter 1970 in irgendwelchen Kneipen.
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Re: Mein 68 begann 69

Beitragvon Gast » Mo 09 Mär, 2009 15:27


die meisten texte hier im forum (von ähnlicher länge) langweilen nach den ersten zehn zeilen diesen text habe ich gerne gelesen

PS
allerdings schützt die angst vor spritzen nicht wirklich vor sucht.
ziehen und vor allem das rauchen von Heroin ist sehr verbreitet.
Gast
 
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Re: Mein 68 begann 69

Beitragvon Ruelfig » Di 17 Mär, 2009 20:24


Hallo esb,
stimmt, das ist zu viel auf einmal. Ich werde es sichten, sortieren und daraus etwas ellenlanges elaborieren, das dann wohl keine Sau mehr lesen will. War mehr ein Brainstorming, bevor ich alles vergesse.
Hallo der senator,
freut mich sehr, dass du diesem Text trotz seiner Länge (in Foren muss man sich ja immer bremsen) etwas abgewinnen konntest.
Damals war das rauchen oder schnupfen von H nicht verbreitet, es wurde gedrückt. Ich habe allerdings Morphium und Opium geraucht (komplizierte Angelegenheit) und festgestellt, dass das Zeug für mich zu gut ist.
Danke für die Kommentare,
R
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Re: Mein 68 begann 69

Beitragvon Ruelfig » Di 17 Mär, 2009 21:04


Ist weder frustriert noch sarkastisch gemeint, wirklich. Es ist nur schwierig zu vermitteln und hier habe ich mich wohl mehr an das Publikum gewandt, welches schon weiß, if you know what I mean.
So ist mir das eine wertvolle Rückmeldung. Kriegst du noch was zu lesen :D ,
R
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